E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Bohr Hitlers treues Volk
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-33144-3
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum so viele Deutsche dem Nationalsozialismus verfielen - Ein SPIEGEL-Buch - Mit zahlreichen Abbildungen
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-641-33144-3
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum unterstützten so viele Deutsche den Nationalsozialismus? Wieso waren sie Adolf Hitler gegenüber loyal, der aus seinem Judenhass und seinen Kriegsplänen nie einen Hehl gemacht hatte? Achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa untersucht dieses Buch, warum Millionen Deutsche dem Naziregime treu dienten und ihrem »Führer« schließlich bis in den Untergang folgten. SPIEGEL-Autoren und Historikerinnen erklären, wie Deutsche aus allen gesellschaftlichen Milieus zu Komplizen des NS-Regimes wurden. Sie beschreiben, wie unzählige Mitläufer mit ihrem Autoritätsglauben, ihrem Handeln und ihrem Wunsch nach einem Sieg Deutschlands im Krieg das Regime stützten und seine Gräueltaten erst ermöglichten. Und sie zeigen, wie die braunen Machthaber ihr Volk umgarnten und gezielt auf positive Emotionen und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft setzten.
Mit zahlreichen Abbildungen.
Autoren/Hrsg.
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Von Mitläufern zu Mittätern
Die Naziherrschaft konnte sich auf eine große Mehrheit stützen. Viele Millionen Deutsche wurden zu Komplizen eines verbrecherischen Regimes – auch weil sie ihren persönlichen Vorteil suchten. Von Eva-Maria Schnurr Und du? Was hättest du gemacht – hättest du mitgemacht? Blitzartig, jedes Mal: »Ich doch nicht.« Doch rasch schießt ein zweiter Gedanke dazwischen: »Mal ehrlich, wo wäre deine Grenze gewesen? Den Job riskieren, soziale Ausgrenzung? Auch Gefängnis?« Hätte ich wirklich nicht mitgemacht, als Hitler ab 1933 in kurzer Zeit eine Diktatur in Deutschland errichtete? Mit den bekannten Folgen: »Gleichschaltung« von Gesellschaft und Staat, Überfälle auf benachbarte Länder, Entfesselung eines Weltkriegs. Verfolgung und Ermordung der Jüdinnen und Juden in Deutschland wie auch in den besetzten Gebieten. Ich doch nicht? Schön wär’s. Die Wahrscheinlichkeit, dass man selbst damals nicht widersprochen hätte, ist groß. Es war nur eine sehr kleine Minderheit der Deutschen, die sich von Beginn an dem nationalistischen Taumel des NS-Staats verweigerte, und es blieb eine sehr kleine Minderheit, die nach anfänglicher Begeisterung umschwenkte und sich abwandte. Noch viel weniger Menschen leisteten aktiv Widerstand, indem sie Befehle verweigerten, Verfolgte versteckten, das Regime bekämpften. Hitler war kein irrer Tyrann, der sich gewaltsam an die Spitze eines Landes setzte und die Bevölkerung mit Dauerterror unter seinen Willen zwang. Er wurde demokratisch ins Amt gewählt – und er blieb dort, weil die große Mehrheit mit seiner Politik im Grunde einverstanden war. »Selbstverständlich sind die Leute im Gasthof alle, ausnahmslos alle, für Hitler«, berichtete der spanische Deutschlandkorrespondent Manuel Chavez Nogales im Mai 1933 aus Kaiserslautern. »Nach einem langen Prozess sind sie zu dieser Schlussfolgerung gekommen. Umso unverrückbarer ist jetzt ihre Entschlossenheit. Sich in ihrer Entschlossenheit zu täuschen, wäre töricht. Es gibt niemanden außer Adolf Hitler.« Hitler bei einer Ansprache am 1. Mai 1939 im Berliner Olympiastadion Nogales, dessen Reportagen 2022 erstmals auf Deutsch im Kupido-Verlag erschienen sind, beobachtete gleich nach der »Machtergreifung«, wie sich die gesamte Gesellschaft auf den »Führer« hin ausrichtete, vermeintliche Gegner ausgrenzte und verfolgte. »Ganz offensichtlich ist es für uns nicht leicht, sich vorzustellen, welches Gesicht die politische Verfolgung im Deutschland dieser Tage in Wahrheit besitzt«, erklärte er seinem spanischen Publikum. »Es agieren hier keine hinterhältigen und bezahlten Schergen (…), es handelt sich um ein ganzes Volk, dessen Hass durch die Predigten nationalsozialistischer Führer geschürt wird, bis hin zu schweren Verbrechen, zu denen sie die Massen ermutigen; der Kommunist oder Jude braucht sich weniger vor knüppelnden Polizisten zu fürchten, vielmehr vor den eigenen Nachbarn, Kollegen, Passanten, der ganzen Volksmasse.« Eine »Diktatur nicht gegen das Volk, sondern mit dem Volk« nannte dies lange nach 1945 der Historiker Klemens von Klemperer, selbst früh im Widerstand gegen Hitler und 1938 in die USA geflohen. Der britische Historiker Ian Kershaw sah einen »Grundkonsens« in der Bevölkerung, auf den Hitler sich stützen konnte, auch von einer »Zustimmungsdiktatur« ist in der Forschung die Rede. In anderen Worten: Die meisten Deutschen fanden den Nationalsozialismus fast bis zum Schluss mindestens irgendwie okay. Gestützt wird das von neueren politikwissenschaftlichen Untersuchungen. Mitarbeiter des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung gingen 2012 anhand aktueller Beispiele der Frage nach, warum Autokratien überleben. Diktatoren stützen ihre Macht auf drei Säulen, so ihr Fazit: Legitimation beziehungsweise Überzeugung (die Bevölkerung erkennt die geltende Ordnung an); Repression beziehungsweise Angst (Unterdrückung von Opposition); Kooptation beziehungsweise Nutzen (materielle oder immaterielle Privilegien im Tausch für Loyalität gegenüber dem Regime). Nur wenn eine der Säulen schwächer wird und die anderen das nicht mehr kompensieren können, gerät die Herrschaft in Gefahr. Es war auch Angst, die Menschen dazu brachte, ihren Wertekompass zu entsorgen, der mangelnde Wille, zu riskieren, was man sich aufgebaut hatte. Aber es waren vor allem, ganz banal, zwei Hoffnungen auf Vorteile durch die NS-Politik. Die eine war die Erwartung und die Erfahrung, dass Hitlers Herrschaft ihnen persönlichen Nutzen bescherte: eine größere Wohnung, endlich eine Urlaubsreise, einen sicheren Arbeitsplatz, aufregende Freizeitangebote. Hinzu kam die Perspektive einer vermeintlich stabileren politischen Ordnung: Gemeinschaft, klare Feindbilder, einfache Lösungen – und nicht zuletzt das Versprechen, Deutschland fortan wieder größer, wichtiger, mächtiger zu machen, die »Schmach« des Versailler Vertrags hinter sich zu lassen. »Darüber erhebt sich ein blinder, fanatischer Glaube an den Führer und seine Lehre, eine totale Aufopferung, eine restlose Aufgabe all dessen, was man ist und was man hat«, schrieb die österreichische Historikerin Lucie Varga im französischen Exil 1937 in ihrem Essay »Die Entstehung des Nationalsozialismus«. »Für den Verzweifelten, der das Gefühl hat, jeden Tag etwas tiefer zu rutschen, ist dies ein wunderbarer Rettungsanker – endlich hat sein Leben einen Sinn.« Schon früh sah Varga den Nationalsozialismus als eine Art politische Religion, die zumindest in der Anfangszeit die Befreiung von den Zumutungen der kapitalistischen Moderne versprach, von der – gefühlten – Entwurzelung und dem Werteverfall, der sozialen Spaltung, der angeblich undeutschen parlamentarischen Demokratie. Nicht allein Varga griff zur Metapher der Religion, um die soziale Dynamik zu erklären, mit der Hitler die Massen mobilisierte. »Deutschland bedürfe der Rettung – der Führer sei der Erlöser aus der Not«, das sei die zentrale Verheißung der Nationalsozialisten gewesen, analysierte in den Achtzigerjahren auch der Historiker Fritz Stern, der 1938 vor den Nationalsozialisten geflohen war. Er beschrieb den Nationalsozialismus als »Versuchung«: das mitreißende Gefühl, auf der Seite der Gewinner, der Mächtigen zu stehen, für das man auch bereit sei, moralische Grenzen zu überschreiten. »Bei der Mehrheit der Menschen gab es sicher schwankende Meinungen, innerlich ausgetragene Streitigkeiten«, konstatierte Stern. »Es gab konsequente Anhänger und unerbittliche Gegner, aber nur wenige waren immun gegenüber der Versuchung.« Mitläufer, so nannte man in der Nachkriegszeit jene, die nicht im engeren Sinne Täterinnen oder Täter waren, sich aber auch nicht abwandten vom Regime. Es war eine Ausrede. Ein Versuch, kleinzureden, dass man eben doch mitgemacht hatte, in der Hitlerjugend oder im Frauenbund, bei Kraft-durch-Freude-Ferienfahrten oder im NS-Beamtenbund. Oder dass man zumindest passiv zugeschaut hatte, wie die Nachbarn deportiert und ihre Wertsachen versteigert wurden, wie andere ihre Wohnungen und Häuser in Besitz nahmen. Man habe ja von nichts gewusst – so lautete die andere Ausrede. Dabei zeigen Zeugnisse aus den Dreißigerjahren ganz deutlich, dass jede und jeder wissen konnte, was passieren würde. Hitlers Programm war kein Geheimnis, er hatte es bereits in den 1920er-Jahren in seiner Schrift Mein Kampf offengelegt. »Nun, da Hitler an die Macht gekommen ist, wird er seine Versprechungen von der Ausrottung der Juden wahr machen«, schrieb der spanische Journalist Nogales im Mai 1933. »Nazi means war« – der Nationalsozialismus bedeutet Krieg, wusste von Anfang an der amerikanische Journalist und Pulitzerpreisträger Leland Stowe, der im Herbst 1933 in Deutschland recherchiert hatte: »Der Welt muss präzise gesagt werden, was das Dritte Reich mit seiner ständig wiederholten Phrase von der territorialen Expansion meint«, so teilte er 1934 der US-Öffentlichkeit mit. »Es meint damit zunächst ein vereintes deutsch-österreichisches Reich, das große Stücke von Polen, der Tschechoslowakei und Zentraleuropa einschließt. In einem zweiten Schritt meint es damit die Dominanz der preußischen Kultur über ganz Europa und den Drang nach Osten.« Man hätte das nahende Unheil erkennen können. Doch die Verlockung des Nationalsozialismus war größer. Sie machte die Mehrheit der Deutschen zu Komplizen des Regimes, wie Victoria Barnett, langjährige Programmdirektorin am Holocaust Memorial Museum in Washington, es nennt: Zumindest moralisch wurden sie zu Mittäterinnen und Mittätern an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Und das aus menschlich durchaus nachvollziehbaren Gründen: weil sie dazugehören und ihr normales Leben weiterleben wollten, weil sie sich an Gesetze und Regeln hielten, weil sie Nachteile vermeiden wollten und ein paar Vorteile nicht sausen lassen mochten. Kann man das verurteilen? Vielleicht nur, wenn man ganz sicher ist, dass man selbst niemals in Versuchung geraten würde. Sollte man versuchen, das zu verstehen? Unbedingt. Denn nur so besteht eine Chance, künftige autoritäre Verführungsversuche frühzeitig als das zu entlarven, was sie sind: schleichendes Gift. Zum Weiterlesen Manuel Chaves Nogales: Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes, Köln: Kupido 2022. Lucie...