Böttiger | Die Gegenwart durchlöchern | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 265 Seiten

Böttiger Die Gegenwart durchlöchern

Beiträge zur neueren deutschen Literatur
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8353-8633-4
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Beiträge zur neueren deutschen Literatur

E-Book, Deutsch, 265 Seiten

ISBN: 978-3-8353-8633-4
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Essays über ausgewählte Autorinnen und Autoren und ihr unverkennbares Werk

Die Gegenwart ist alle paar Jahre wieder eine andere. Gerade in der Literatur betritt man hier schwankenden Boden. Was wirklich zählt, erkennt man oft erst im Rückblick. Die Mechanismen des Buch- und Lesungsgeschäfts sind dem aber entgegengesetzt.
Es gibt eine ausgesprochene Literaturbetriebsliteratur, die den Erwartungen entgegenkommt und die jeweils aktuellen Debatten-Parameter zuverlässig abruft. In jeder Saison wird ein neues Debütantenkarussell installiert, das ein halbes Jahr später wieder vergessen ist, und das Wort „niedrigschwellig“ ist das Mantra der Literaturvermittler.
Helmut Böttigers Buch hat keineswegs den Anspruch, einen Kanon zu erstellen. Es versteht sich eher als eine Beispielsammlung, die erweitert werden kann. Die Grundannahme ist, Literatur als eine Kunstform mit ganz eigenen Dynamiken zu begreifen.
Im Mittelpunkt stehen nicht einzelne Bücher, sondern Autorinnen und Autoren mit einem unverkennbaren Werk: von Wolfgang Hilbig über Marcel Beyer, Emine Sevgi Özdamar bis zu Sibylle Lewitscharoff oder Lutz Seiler.

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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Gestrüpp, Geröll, Geraschel
Wilhelm Genazinos Lust,
durch Gudrun hindurchzuküssen
Wilhelm Genazino hat eine Monika. Und er hat auch eine Gabriele. Wenn er bei der einen nicht mehr weiterweiß, geht er einfach in das nächste Zimmer, da steht die andere. Die großen Schreibmaschinenhersteller von damals, Olympia und Adler, haben ihre Modelle nicht von ungefähr mit Frauennamen ausgestattet: Es ist der Geist solider Sekretärinnen, der hier aufgerufen wird, und es ist ein Hauch von Poesie. Diese Verbindung bildet das literarische Urmotiv von Wilhelm Genazino. Es entspringt einer Zeit, die etwas von Unschuld hat, einer Zeit, in der etwas beginnt und in der es langsam aufwärtsgeht: der Zeit der fünfziger und frühen sechziger Jahre, als die Bundesrepublik zögernd ein bisschen lockerer wird. Es ist die Zeit, die Wilhelm Genazino zu einer mythischen gemacht hat. Hier sind Sehnsüchte zu Hause, die nicht mehr viel mit Ort, Handlung und Geschichte zu tun haben. Die Frauenfiguren bei Genazino sind dem geschuldet, sie tragen Namen der Reinheit. Sie heißen Monika oder Gabriele, einmal ist es Gudrun, und in »Ein Regenschirm für diesen Tag« fängt es mit einer gewissen Dagmar an und hört bei Margot nicht auf. Diese Namen wirken, wie die Schreibmaschinen, seltsam entrückt. Und dennoch geht von ihnen, hinterrücks, ein ungeahnter Glanz aus. Die zentralen Figuren in Genazinos Romanen sind alle in dieser Atmosphäre groß geworden. Sie spielen mit ihren Freundinnen Federball und sinnieren über deren hellrosafarbenen, fast weißen Lippenstifte. Sie kaufen sich unter erheblichen Mühen ihre ersten Anzüge aus Diolen oder Trevira. Es geht um Blusen, ums Bügeln und um Hoffmanns Stärkepuder. Danach riecht es ziemlich oft, vor allem an den etwas schlüpfrigen Stellen. Der Held in »Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman« darf Gudrun »von oben in die Bluse und in den Büstenhalter« fassen, aber, so heißt es: »Es war nicht erlaubt, während des Knutschens seitlich auf die Couch umzukippen und trotzdem weiterzuknutschen.« Unter diesen Umständen hat die frühe Bundesrepublik angefangen ihre Identität auszubilden. Genazinos Figuren sind die glaubwürdigsten Zeugen für die seelische Entwicklung in diesem Staatsgefüge, er schreibt die Psychogeschichte der Republik. Seine Romane sind von Anfang an dem Unbewussten auf der Spur, das dieser Gesellschaft zugrunde liegt. Sie ziehen kleine, immer enger werdende Kreise. Es gibt die stickige Luft der Nachkriegszeit. Es gibt das Aufblühen erster Freiheiten. Und parallel dazu folgt die Erkenntnis der Zwänge – in der täglichen Kantine zum Beispiel, wo die Tabletts in drei kleine Plastikfächer unterteilt sind: für Fleisch, für Kartoffeln, für Gemüse. Immer wieder endet es in einem spezifischen Angestelltendasein, das ruhelos in sich rotiert. Hier verweilt Genazino am häufigsten: in Fußgängerzonen und Schnellimbissen, in grotesk-harmlosen Partnerbeziehungen. Er kriecht in die Eingeweide der Bundesrepublik. Da ist durchaus etwas Lustvolles dabei. Aber gleichzeitig zeigt sich in Genazinos Büchern immer dringlicher die Erkenntnis, dass dieses Leben nicht auszuhalten ist. Die Entwicklung wird unaufhaltsam. Sie geht hin zum Rand. Sie geht hin zum Unscheinbaren, zum Verschwindenden, zur Kunst. Der namenlose Held in »Ein Regenschirm für diesen Tag« aus dem Jahr 2001 führt nur noch die absurde Schrumpfexistenz eines Angestellten. Er ist Probeläufer für Luxusschuhe und wird für jedes Gutachten, das er erstellt, einzeln bezahlt. Das nähert sich eindeutig der Existenzform eines Künstlers an. Er unternimmt, zwischen Flussufer und vierspuriger Ausfallstraße, Testreihen für Oxford-Schuhe oder rahmengenähte Budapester. Dabei hat er genügend Zeit, die »Zerbröckelung« seiner Person zu beobachten, ihre »Zerfaserung« und »Ausfransung«. Je mehr sich der Schuhtester aus dem offensichtlichen Konsens der Mitmenschen entfernt, desto sensibler wird er für bestimmte »Peinlichkeitsverdichtungen« zwischen sich und ihnen. Sein Blick ist der eines Fremden, Außenstehenden. Übrig bleiben nur die Wörter, die er dafür findet, sein Daseinsgefühl zu bezeichnen. Sie bilden die »Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens« ab und heißen: Gestrüpp, Geröll, Geraschel. Geschluppe und Geschlappe. Aber dann geschieht ein Wunder. Es ist das eigentümliche Genazino-Wunder, das in seinen Büchern ungeheuer eindringlich geworden ist und das niemand so richtig ergründen kann. Seitdem versuchen die Leser, die Journalisten und die Buchhändler zu beschreiben, was für ein Wunder hier geschieht. Denn es wird alles peinlich genau beschrieben, was das Leben so absurd und lächerlich macht: die Kollegen, die Passanten, der Alltag. Genazino registriert alle Facetten dessen, was einmal »Entfremdung« hieß. Und dennoch schlägt man das Buch zu und hat das Gefühl, dass das Leben eigentlich ganz schön sei. Einer der Buchtitel verrät programmatisch etwas von diesem Wunder: »Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman«. Und das Programm wird im Lauf des Textes umgesetzt. Im letzten Satz des Buches ist man dann angekommen. Da wartet der Held »auf das Aufzucken des ersten Wortes«. Und wir ahnen: Das Wunder, um das es sich hier handelt, ist das Wunder der Literatur. Es geschieht en passant, alles groß Scheinende und Bedeutende wird dabei unterlaufen. Doch unter der Hand ist Wilhelm Genazino von einem Autor zeitbewegter Angestelltenromane zu einem Autor von Künstlerromanen geworden. In »Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman« hat er es dann ohne Umschweife getan. Dabei gehört das in den letzten Jahrzehnten zum Schlimmsten, was einem deutschen Romanautor unterlaufen kann: einen Schriftsteller zum Helden seines Romans zu machen. Das traut sich kaum einer mehr. Schriftsteller sind ja die langweiligsten Personen, die es geben kann, und sie entsprechen dem Vollbild dessen, was man der deutschen Literatur immer so gerne vorwirft: blutleer, selbstreferenziell, künstlich, abgehoben. Bei Genazino merkt man das aber gar nicht. Seine Bücher sind immer stiller geworden, immer leichter – und immer schwerer zu fassen. Dabei sehen sie alle ziemlich gleich aus: Sie haben jedes Mal so ungefähr 150 Seiten und schillern zwischen längerer Erzählung und Roman. Sie sind mit schöner Regelmäßigkeit meist im Abstand von zwei Jahren erschienen, wurden wohlwollend bis enthusiastisch besprochen und fielen dennoch nie besonders heraus. Erst die stillsten und leichtesten wurden plötzlich Bestseller. Es muss da einen Schlüssel geben für das Wunder im Entwicklungsroman des Schriftstellers Genazino, in dieser Entwicklung am Rand. Da lohnt es sich, näher hinzusehen. Schon das Umfeld, in dem sein erster öffentlich wahrgenommener Roman erschien, war etwas merkwürdig. Man schrieb das Jahr 1977, und Genazino veröffentlichte ein Buch namens »Abschaffel«. Es erschien aber nicht etwa gebunden und mit Schutzumschlag, sondern in der broschierten Rowohlt-Reihe »das neue buch«. Als Programmschwerpunkte dieser Reihe, mit dem signalroten Rand, wurden genannt: Beiträge zu einer materialistischen Ästhetik, Beispiele gesellschaftskritischer Dokumentaristik, Medientheorie und Kommunikationsforschung. »Abschaffel« sah aus wie eine Flugschrift, wie ein Grundnahrungsmittel der Erkenntnis. Die Buchstaben waren klein, und der Platz auf den Seiten wurde bis zum Äußersten ausgenutzt. Im damals heftig florierenden Wettbewerb, wie viele Buchstaben auf eine Seite passen, hätte »Abschaffel« auf jeden Fall mit Marx und der Mao-Bibel konkurrieren können. Ziemlich am Anfang fällt der Satz: »Abschaffel schaltete eine kleine Lampe ein, weil er das Gefühl vermeiden wollte, mit dem langsamen Dunklerwerden des Abends selbst zu verschwinden.« Dieser Satz lässt nicht ohne Weiteres darauf schließen, dass ihm ein ganzer Roman folgen kann. Dennoch ist dieser Satz in seinem Gestus des Verschwindens charakteristisch. Genazino galt fortan als Begründer des bundesdeutschen Angestelltenromans, und der Angestellte war von vornherein etwas Verschwindendes, seine Konturen im Anzug von der Stange, mit Krawatte und Drehstuhl verwischten sich immer mehr ins Nichts. Man merkte deutlich, dass Genazino ein paar Jahre lang Redakteur bei der Satirezeitschrift »Pardon« gewesen war, dass er im Umfeld der sogenannten »Neuen Frankfurter Schule« verkehrte und eine Neigung zu schmerzhafter Karikatur, zu grotesker Vergrößerung, zu sarkastischen Alltagsskizzen verspürte: Abschaffel ist wie eine Comicfigur, die den zeitgenössischen bundesdeutschen Bürowahnsinn auf die Spitze treibt. Es ist kein Wunder, dass seine Libido immer am stärksten bei Verkäuferinnen erwacht. Sie, die Garantinnen des Warenverkehrs und des Warenaustauschs, setzen zuverlässig sein sexuelles Begehren frei, und ihre Verheißungen sind eingebettet in Traumlandschaften, die damals auch der deutsche Schlager im Visier hatte: »Eine ganz junge Verkäuferin saß verträumt auf dem Rand einer großen Tiefkühltruhe und schnippte mit einer Handetikettiermaschine auf Dutzende von Milchtüten je ein Preisschildchen auf. So ähnlich mussten vor hundert Jahren junge Mädchen auf Brunneneinfassungen gesessen und Sommerkränze gewunden haben.« Doch so wunschverloren die Abschaffel-Bücher auch daherkommen, sosehr da in der verwalteten Welt etwas Verwegenes durchscheint – nach Abschluss dieser furiosen Trilogie war der Autor fast schon an einem Endpunkt angelangt, hier ging es nicht mehr weiter. Die Überzeichnung der Alltagswirklichkeit stieß an ihre Grenzen, der satirische Blick drohte zu einer Schablone zu werden. Es war die Zeit der Kleinkunstkneipen, eine Zeit, in der Genazino auch des Öfteren im Frankfurter Waldstadion...


Böttiger, Helmut
Helmut Böttiger, geb. 1956, studierte Germanistik und Geschichte in Freiburg. Seit 2002 arbeitet er als freier Autor, Literaturkritiker und Essayist. 2013 erhielt er für sein Buch »Die Gruppe 47« den Preis der Leipziger Buchmesse im Bereich Sachbuch. Im Wallstein Verlag veröffentlichte er »Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur« (2021), »Celan am Meer« (2017) und gab »Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland« (2009) sowie »Geistesgegenwärtig. Szenen einer deutschen Kulturgeschichte« (2015) heraus.



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