E-Book, Deutsch, 90 Seiten
E-Book, Deutsch, 90 Seiten
Reihe: Fortschritte der Psychotherapie
ISBN: 978-3-8444-3211-4
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paartherapeutinnen und Paartherapeuten finden in diesem Band ein breites Repertoire an Methoden, welches sie zur Behandlung von Gewalt bei Paaren einsetzen können, wenn es sich um Gewalt in Form eines sich gegenseitig aufschaukelnden Prozesses handelt. Es wird auf Interventionen zur Erhöhung der Alltagspositivität sowie zur Förderung der emotionalen Selbstöffnung und des wechselseitigen Verständnisses eingegangen. Weiterhin werden Interventionen vorgestellt, die es ermöglichen, Gewalt bei ihrem Auftreten zu durchbrechen, und die zur Gewaltprophylaxe eingesetzt werden können. Weitere Themen sind Repair-Gespräche, der Einsatz von Anti-Gewalt-Verträgen und Versöhnungsrituale. Abschließend werden Ergebnisse zur Wirksamkeit von Paartherapie zusammengefasst.
Zielgruppe
Ärztliche und Psychologische Psychotherapeut*innen, Paartherapeut*innen, Fachärzt*innen für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinische Psycholog*innen, Studierende und Lehrende in der psychotherapeutischen Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
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|1|1 Beschreibung des Phänomens
In der Paartherapie begegnet man Themen wie Aggression und Gewalt bei hochstrittigen Paaren häufig. Aber auch allgemein stellt Gewalt bei Paaren ein wichtiges, jedoch häufig tabuisiertes Thema dar. Wird psychische Gewalt breit gefasst und werden darunter beispielsweise auch Beleidigungen („Du bist dick und faul“), Abwertungen („Ah, der Herr hat nicht mitbekommen, dass ich auch noch da bin“) und Provokationen („Wie soll man bei so jemandem Lust auf Sex haben?“) verstanden, betrifft es eine Mehrzahl der Paare in Therapie. Aber auch körperlicher Gewalt begegnet man oft. Während einzelne Paare bereits in der ersten Sitzung Gewalt in der Problemanalyse thematisieren, sprechen andere Gewalt erst später an, wenn das Vertrauen zum Therapeuten bzw. zur Therapeutin1 etabliert ist. Andere sprechen Gewalt überhaupt nicht an und deren Vorkommen kann aufgrund des Umgangs miteinander nur vermutet werden. Gewalt ist ein heikles Thema, weil es in vielen Fällen eine Gratwanderung bedeutet und es alles andere als klar ist, wie man sich als Therapeut:in verhalten soll. Soll man Beobachtungen oder Vermutungen in Bezug auf Gewalt proaktiv ansprechen? Wie soll man vorgehen, wenn einer der beiden Partner:innen das Thema konsequent negiert? Wann und in welchen Fällen sollen Behörden eingeschaltet werden? Oftmals steht Gewalt zudem mit anderen Faktoren wie Persönlichkeitsstörungen (z.?B. antisoziale oder Borderline-Persönlichkeitsstörung), problematischem Alkohol- oder Drogenkonsum oder Abhängigkeitsstörungen, Depressionen oder sexuellen Funktionsstörungen im Zusammenhang. Entsprechend wichtig ist es, bei Gewalt in der Partnerschaft diagnostisch sorgfältig abzuklären, (1) wo und bei wem therapeutisch anzusetzen ist und (2) ob direkt bei der Gewalt (primäre Indikation) oder eher bei den gewaltfördernden oder gewaltauslösenden Bedingungen innerhalb der Paarbeziehung respektive bei der jeweiligen Persönlichkeit der Partner:innen (sekundäre Indikation) angesetzt werden sollte. Je nach Ergebnis der funktionalen Bedingungsanalyse (mithilfe des SORCK-Modells) ist ein anderer therapeu|2|tischer Ansatzpunkt erforderlich und die Paartherapie entsprechend anzupassen oder in Kombination mit einer Individualtherapie oder flankierenden polizeilichen Maßnahmen zu gestalten. 1.1 Definition von Gewalt bei Paaren
Gewalt bei Paaren wird als Teilmenge und gleichzeitig hauptsächliche Komponente der häuslichen Gewalt verstanden, welche vom Europarat (2011) wie folgt definiert wird: Definition: Häusliche Gewalt Unter den Begriff „häusliche Gewalt“ fallen „[…] alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter beziehungsweise die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat oder hatte“ (Istanbul-Konvention 0.311.35, Art. 3b; Europarat, 2011). Die Gewalt bei Paaren ist eine Form der interpersonellen Gewalt mit dem Ziel, durch Worte oder Handlungen den Partner bzw. die Partnerin und dessen bzw. deren körperliche, psychische oder sexuelle Integrität zu beeinträchtigen. Meist wird bei Gewalt in Partnerschaften an offene physische Gewalt (z.?B. Handgreiflichkeiten) gedacht. Häusliche Gewalt ist jedoch vielfältiger und weist unterschiedliche Formen auf, welche sich in klassischer Gewalt, gewaltsamem Widerstand, intimem Terrorismus oder koersiver Kontrolle äußern können (Johnson & Ferraro, 2000). Gewalt kann zudem als Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung oder in Form des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms2 vorkommen. 1.2 Formen der Gewalt
Es können verschiedene Formen der Gewalt bei Paaren unterschieden werden, welche sowohl einzeln als auch kombiniert auftreten können (Kersten, 2020). Tabelle 1 gibt einen Überblick über die verschiedenen Gewaltformen, welche klassischerweise unterschieden werden (|3|Eidgenössisches Büro für Gleichstellung von Frau und Mann [EBG], 2020a; Kersten, 2020; Postmus et al., 2020). Physische Gewalt (Verletzung der physischen Integrität) Grobes Anfassen, Schubsen, Stoßen, Schütteln, Anspucken, An-den-Haaren-Ziehen, Ohrfeigen, Treten, Schlagen, Würgen, Beißen, Kratzen, Bedrohen oder Verletzen mit Gegenständen oder Waffen, Fesseln, Verprügeln, Verbrühen, Verbrennen etc. Psychische Gewalt (Verletzung der psychischen Integrität) Einschüchterung, Demütigung, Erniedrigung, Bloßstellung, Herabsetzung, Nötigung, Drohungen, Verunglimpfung, Verleumdung, Erzeugung von Schuldgefühlen, eifersüchtiges Verhalten mit penetrantem Nachforschen und Nachstellen (Stalking), Cybermobbing, Zerstören von Gegenständen, die dem anderen lieb und teuer sind, oder Quälen von Haustieren respektive Gewalt gegenüber nahen Bezugspersonen des Partners bzw. der Partnerin. Diese Verhaltensweisen können sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum angedroht oder ausgeführt werden. Sexuelle Gewalt (Verletzung der sexuellen Integrität) Sexuelle Belästigung und Nötigung, aufdringliches Zu-nahe-Kommen, sexuell anzügliche Sprüche, unerwünschte Berührungen oder Küsse, Belästigung durch Entblößen oder das Zeigen von pornografischen Bildern, Filmen oder Geschlechtsteilen, ungewollte Berührungen im Intimbereich, Zwang zu sexuellen Praktiken, die man nicht möchte oder Zwang zu sexuellen Handlungen mit anderen Personen, versuchte oder ausgeführte Vergewaltigung, Zwang zur Prostitution etc. Ökonomische Gewalt (Ausbeutung oder Einschränkung) Beschlagnahmung von Einkünften des Partners bzw. der Partnerin, Ausnutzung der finanziellen Abhängigkeit des anderen, Verbot, arbeiten zu gehen oder Zwang zum Arbeiten, Unterbinden der Verfügungsgewalt über Finanzen, wirtschaftliche Ausbeutung des Partners bzw. der Partnerin durch Stehlen oder Verkaufen persönlicher Wertgegenstände. Soziale Gewalt (Verletzung sozialer Rechte) Einschränkung des sozialen Lebens durch Verbot oder Kontrolle von Familien- und Außenkontakten, einsperren, um soziale Kontakte zu verhindern, oder auch das Verbieten, eine Landessprache zu lernen, Freiheitsberaubung, Zwangsheirat etc. Vernachlässigung (Verletzung der Fürsorge und emotionalen Bindung) Wiederholte oder andauernde emotionale oder fürsorgliche Unterlassungen bei einem abhängigen Partner bzw. einer abhängigen Partnerin (z.?B. aufgrund von Behinderung, Alter, psychischem Befinden). ...