Mit 48 Kupferstichen
E-Book, Deutsch, 624 Seiten
ISBN: 978-3-7519-4509-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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EINLEITUNG ZUM DEKAMERON
VON
ALBERT WESSELSKI.
W AHRLICH, ein großes Unrecht geschieht dem Andenken dieser jungen Liebenden, daß ihre Geschichte noch von keinem Dichter mit schuldiger Erinnerung in erhabenen Versen besungen worden ist, sondern dem entstellenden Geschwätze der Unwissenden überlassen bleibt; weil nun mein Verlangen, mich die Ursache einer Erneuerung ihrer Geschichte nennen zu dürfen, nicht minder groß ist als meine Rührung über ihre Schicksale, so bitte ich dich bei der Kraft, die von meinen Augen an dem Tage ausging, wo du mich das erstemal gesehen und dich mir durch Liebesgewalt verpflichtet hast, nimm dir die Mühe und verfasse in der Sprache des Volkes ein kleines Büchlein, das die Geburt und die Liebe der beiden und ihre Abenteuer bis an ihr Ende erzählt.“ „Herrin, Eure holde Bitte, die mir ein ausdrücklicher Befehl ist, zwingt mich so, daß ich mich nicht weigern kann, diese Mühe auf mich zu nehmen, wie ich es ja auch mit jeder größeren täte, die Euch lieb wäre.“ Dieses Zwiegespräch, das in der Einleitung zum ,Filocopo‘ erzählt wird, muß, wenn es historisch ist, etwa Ende April 1338 in der Kirche eines Nonnenklosters bei Neapel stattgefunden haben. Der Dichter, der die Geschichte der jungen Liebenden — gemeint sind Flore und Blancheflor — besingen soll, ist Giovanni di Boccaccio, der florentinische Kaufmannssohn; die Dame, die diese Aufforderung an ihn richtet, ist Maria d’Aquino, eine Tochter König Roberts von Neapel. Aus dem kleinen Büchlein, das Boccaccio versprochen hat, ist ein umfangreicher Roman, der Filocopo, geworden. Mit der Abfassung des Filocopo beginnt Boccaccios Tätigkeit, alte Mären in ein künstlerisches Gewand zu kleiden, und die Urheberin und Förderin dieser Tätigkeit ist die schöne Königstochter gewesen, die sich noch in demselben Jahre seinem ungestümen Liebeswerben ergeben hat. Maria d’Aquino fand, wie der Widmungsbrief der Teseide erzählt, ein großes Vergnügen daran, „ein oder die andere Geschichte, sonderlich Liebesgeschichten, zu hören und bisweilen auch zu lesen“, und Boccaccio trachtete, als williger Diener ihren Wünschen zuvorzukommen. Aus dem Romane Fiammetta — Fiammetta ist der dichterische Name Marias — erfahren wir, daß es beiden Liebenden einen hohen Genuß bereitete, in Gesellschaft Novellen oder Geschichten zu erzählen, deren geheimen Sinn nur sie begriffen; voll Freude an dem heimlichen Einverständnis weideten sie sich an der Einfalt der harmlosen Zuhörer. Fiammetta-Maria ist auch die Königin des neapolitanischen Liebeshofes, der im Filocopo geschildert wird: der Reihe nach werden dreizehn Liebesfragen aufgeworfen und entschieden; zwei davon sind mit richtigen Novellen verknüpft, und diese beiden Novellen kehren in einer reiferen Form im Dekameron wieder. Fiammetta zu Gefallen hat der Dichter sicherlich alles durchstöbert, was Erzählungsstoffe bot: die verliebten Fabliaus der Franzosen, die trockenen Erzählungen Italiens, die Ritterromane und die Werke der klassischen Autoren; viel Gold holte er wohl auch aus dem noch ungemünzten Schatze der alten Volksüberlieferungen hervor. Die Lust zu fabulieren kam ihm von der Geliebten. Und so wie Fiammetta-Maria der unmittelbare Anlaß zum Filocopo, zum Filostrato, zur Amorosa Visione und zur Fiammetta geworden ist, so verdanken wir ihr mittelbar das Dekameron. Das Liebesglück des Dichters war nur von kurzer Dauer: nach einem etwa einhalbjährigen Werben eine ebensolange währende Zeit der Vereinigung. Schon im April 1339 gab ihm Fiammetta, wohl um eines andern willen, den Abschied. Volle vier Jahre brauchte Boccaccio, um sich von dem Herzeleid, das ihm die Liebe zu Madonna Maria brachte, zu befreien; als Dichter des Filocopo und Filostrato hatte er ihre Liebe errungen, durch die Teseide, den Ameto und die Amorosa Visione hatte er ihre verlorene Gunst wiederzuerringen versucht, und in der Fiammetta machte er dem Groll seines mißhandelten Herzens Luft. Von allen diesen Büchern fallen nur der Filostrato und die Teseide vollständig in die Zeit seines Aufenthalts in Neapel; der Ameto, die Amorosa Visione und die Fiammetta sind schon in Florenz verfaßt, wo auch der in Neapel begonnene Filocopo vollendet worden ist. 1340 oder 1341 war nämlich Boccaccio von seinem Vater nach Florenz heimberufen worden, weil sich der alte Herr nach dem Tode seiner Gattin und seiner Kinder einsam gefühlt hatte. Boccaccio empfand für den Kaufmann in Certaldo, den Verführer der vornehmen Pariserin, die ihm das Leben gegeben hatte, alles andere eher als Liebe; es wäre also wohl nicht erst der Zwang, die Stadt, wo die Geliebte weilte, zu verlassen, nötig gewesen, um ihm die Heimkehr zu dem „kalten, rauhen, geizigen Greise“ zu verleiden. Schon 1343 verließ er den Vater wieder, der sich inzwischen zum zweiten Male verheiratet hatte. In den darauf folgenden fünf Jahren finden wir den Dichter auf Reisen in Oberitalien; in dieser Zeit mag er all die zumeist heiteren Geschichten gesammelt haben, deren Schauplatz die Städte und Klöster dieser Gegenden sind und die mehr als die Hälfte des Dekamerons ausmachen. Dann kam das Jahr 1348 mit der furchtbaren Pest, die in Konstantinopel den Sohn des Griechenkaisers, in Frankreich die Königin und drei Prinzen von Geblüt, in Florenz den Geschichtschreiber Villani, in Rom sieben Kardinäle und in der Provence die Geliebte Petrarcas dahingerafft hat. Wie Boccaccio in seinem Dantekommentar erzählt, war er in diesem Jahre nicht in Florenz; dem scheint die Einleitung zum Dekameron zu widersprechen, wo er von Dingen erzählt, die er selbst gesehen haben will. Der Widerspruch löst sich aber, wenn die Annahme, daß er die Schrecken der Seuche in Neapel erlebt hat, richtig ist. In diesem Jahre 1348 oder in dem folgenden hat er die letzte Hand an das Dekameron gelegt, von dem schon einzelne Teile, nach seinen eigenen Worten die ersten dreißig Novellen, bekannt waren. Die Rahmenerzählung des Dekamerons, die trotz der Anklänge, die eine Abhängigkeit von der Schilderung des großen Sterbens an Thukydides und Lucretius beweisen sollen, unbestritten als Meisterwerk gilt, macht uns mit sieben Damen und drei jungen Männern bekannt, die aus der verseuchten Stadt in die reinere Luft naher Hügel und Täler entfliehen. Die Frage, wo die Örtlichkeiten, die die Gesellschaft aufsucht, gelegen seien, ist oft untersucht und, wie es scheint, mit Geschick gelöst worden; desto müßiger ist es aber wohl, die Persönlichkeiten aller zehn jungen Leute zum Gegenstande einer Untersuchung zu machen. Künstlerisch schön und vielleicht nicht unrichtig ist die Meinung, daß sich Boccaccio in allen drei Männern selber habe darstellen wollen; dann wäre Panfilio oder der Alliebende derselbe Panfilio, der Fiammetta-Marias Gunst genossen hat, Filostrato oder der von der Liebe Geschlagene das Opfer seiner von Fiammetta verratenen Liebe, und Dioneo der Mann, der die Leidenschaft überwunden hat und durch seinen Namen, der von Dionaea oder Venus abzuleiten ist, anzeigt, als was das Weib für ihn in Betracht kommt. Daß Fiammetta eben Fiammetta ist, ist wohl selbstverständlich. Das ganze Bild der ländlichen Geselligkeit zwischen den jungen Damen und Herren, das in den zehn oder, richtiger gesagt, vierzehn Tagen ihrer Abwesenheit von Florenz nur geringfügig wechselt, hat Boccaccio schon früher zu öfteren Malen gezeichnet gehabt. Im Filocopo geleitet Fiammetta Florio und seine Gesellen „zu einer in Gräsern und Blumen prangenden, von linden, süßen Wohlgerüchen erfüllten Wiese, die eingesäumt wird von schönen jungen Bäumchen, die die Strahlen des großen Gestirns abwehren; und sie setzen sich um eine kleine klare Quelle in der Mitte der Wiese und beginnen von mancherlei Dingen zu sprechen, dieweil der eine das Wasser betrachtet und der andere Blumen pflückt“. Auf Fiammettas Vorschlag beschließt man, einen König zu wählen, dem jeder eine Liebesfrage zur Entscheidung vorlegen soll; einstimmig wird Fiammetta zur Königin gewählt. Das Motiv der grünen Wiese mit dem Brunnen in der Mitte kehrt auch im Ameto und in der Amorosa Visione wieder. Und so wie an dem anmutigen Orte im Filocopo Geschichten zur Erläuterung des die Liebe betreffenden Gegenstandes erzählt werden, so wie im Ameto die sieben Nymphen erzählen, wie sie ihr Liebesglück gefunden haben, so erzählen einander im Dekameron die zehn jungen Leute Novellen, die zum weitaus größten Teile von der Liebe handeln. Boccaccio ist der größte, aber nicht der erste Novellist seines Landes. Die Abenteuerromane und die Feenmärchen Frankreichs waren zwar in Italien nie recht heimisch geworden, desto mehr aber die bürgerliche Erzählung, die die Elemente der beiden anderen Gattungen beibehalten hat: an die Stelle des Riesen oder Drachen, der die schöne Prinzessin bewachte, trat der dumme Ehemann, der seine lüsterne Gattin eifersüchtig hütet; an die Stelle der Ritter, die...