E-Book, Deutsch, Band 4, 414 Seiten
Reihe: Ein Fall für John Cardinal
Blunt Kanadische Nächte
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-311-70573-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der vierte Fall für John Cardinal
E-Book, Deutsch, Band 4, 414 Seiten
Reihe: Ein Fall für John Cardinal
ISBN: 978-3-311-70573-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Giles Blunt, geboren 1952 in Windsor, Ontario, lebte ab dem Alter von zehn Jahren in North Bay, einer Stadt am Lake Nipissing, die als Vorlage für Algonquin Bay diente. Nach einem Studium der englischen Literatur an der Universität von Toronto verbrachte er zwanzig Jahre in New York. Heute lebt und arbeitet der Schriftsteller, Dichter und Drehbuchautor, unter anderem für die Serie Law & Order, wieder in Toronto. Für den ersten Band der John-Cardinal-Reihe wurde Giles Blunt der British Crime Writers' Association Silver Dagger verliehen. Seither sind fünf weitere Fälle erschienen. Auf die Frage, warum er seine Romane in einem vergleichbaren, aber nicht in seinem Heimatort ansiedelt, sagt Blunt: »North Bay hat nur knapp 50 000 Einwohner und eine sechsköpfige Polizei. Das Risiko, dass eine Figur versehentlich einer realen Person ähnelt, ist zu groß.«
Weitere Infos & Material
1
Auf der Madonna Road kann einfach nichts Schlimmespassieren. Die Straße, die sich am Westufer eines kleinen Sees außerhalb von Algonquin Bay, Ontario, entlangwindet, ist der ideale, von Kiefernduft erfüllte Zufluchtsort für wohlhabende Familien mit kleinen Kindern, Yuppies mit einem Faible für Kanus und Kajaks ebenso wie für ein Völkchen von listigen Streifenhörnchen, die mit den großen Hunden der Anwohner Fangen spielen. Ein Ort, ruhig, schattig, abgelegen – scheinbar wie geschaffen, um sich vor Kummer und Leid in Sicherheit zu wähnen.
Detective John Cardinal und seine Frau Catherine wohnten im kleinsten Haus auf der Madonna Road, aber selbst diese bescheidene Bleibe konnten sie sich nur leisten, weil das Haus auf der seeabgewandten Straßenseite lag und sie nicht einmal ein Zipfelchen Ufergrundstück besaßen. Die Wochenenden verbrachte Cardinal größtenteils im Keller, inmitten von Gerüchen nach Sägemehl, Farbe und Holzwachs. Bei der Arbeit mit Holz fühlte er sich kreativ und Herr der Lage, was auf dem Revier nur selten vorkam.
Aber auch wenn er nicht mit Tischlerarbeiten beschäftigt war, genoss er die Stunden in seinem kleinen Haus und die Ruhe des Sees. Es war Herbst, Anfang Oktober, die ruhigste Zeit des Jahres. Die Motorboote und die Jetskis waren an Land gebracht, und die Schneemobile knatterten noch nicht über Eis und Schnee.
Der Herbst in Algonquin Bay ist wie eine Entschädigung für die anderen drei Jahreszeiten. Ein Farbenmeer aus Rottönen, Ocker und Gold wogt über die Hügel, der Himmel strahlt so tiefblau, dass man den brütend heißen Sommer, den Frühling mit seinen Mückenplagen und den gnadenlos kalten Winter beinahe vergessen kann. Der Trout Lake lag übernatürlich still da, wie schwarzer Onyx umgeben von Glut. Obwohl Cardinal in Algonquin Bay aufgewachsen war (und das alles als selbstverständlich hingenommen hatte) und jetzt seit zwölf Jahren wieder hier lebte, war er jedes Jahr von Neuem überrascht über die herbstliche Pracht. Um diese Jahreszeit verbrachte er jede freie Minute zu Hause. An jenem Abend hatte er die viertelstündige Fahrt auf sich genommen, um eine halbe Stunde mit Catherine beim Abendessen zu verbringen, bevor er wieder aufs Revier zurückmusste.
Catherine steckte sich eine Tablette in den Mund, spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter und verschloss das Tablettenröhrchen wieder.
»Es ist noch mehr Auflauf da, wenn du möchtest«, sagte sie.
»Nein, ich hab genug. Das war hervorragend«, sagte Cardinal, während er versuchte, die letzten Erbsen auf seinem Teller aufzuspießen.
»Es gibt heute keinen Nachtisch, es sei denn, du hast Lust auf Kekse.«
»Ich hab immer Lust auf Kekse. Die Frage ist nur, ob ich irgendwann von einem Gabelstapler hier rausgewuchtet werden möchte.«
Catherine brachte ihren Teller und ihr Glas in die Küche.
»Wann gehst du los?«, rief Cardinal ihr nach.
»Jetzt gleich. Es ist dunkel, der Mond scheint. Ideale Bedingungen.«
Cardinal schaute nach draußen. Der Vollmond, eine orangefarbene Scheibe tief über dem See, wurde vom Fensterkreuz gevierteilt.
»Willst du den Mond fotografieren? Sag bloß, du hast vor, ins Kalendergeschäft einzusteigen.«
Aber Catherine war bereits im Keller verschwunden, und er hörte, wie sie in ihrer Dunkelkammer herumkramte. Cardinal verstaute die Essensreste im Kühlschrank und räumte das Geschirr in die Spülmaschine.
Catherine kam aus dem Keller, verschloss ihre Kameratasche, stellte sie neben der Tür ab und zog sich ihre Jacke über, eine goldbraune mit dunkelbraunem Lederbesatz an Ärmeln und Kragen. Sie zog einen Schal vom Kleiderhaken, wickelte ihn sich einmal, zweimal um den Hals, nahm ihn wieder ab.
»Nein«, murmelte sie vor sich hin. »Der wird mir nur lästig.«
»Wie lange wirst du unterwegs sein?«, fragte Cardinal, doch seine Frau hörte ihn nicht. Sie waren nun schon seit fast dreißig Jahren verheiratet, und immer noch gab sie ihm Rätsel auf. Manchmal, wenn sie loszog, um zu fotografieren, war sie aufgekratzt und gesprächig und beschrieb ihm ihr Vorhaben in allen Einzelheiten, bis ihm der Kopf schwirrte vor lauter Fachbegriffen wie Brennweite und Öffnungsverhältnis. Manchmal erfuhr er erst etwas über ihr Projekt, wenn sie Tage oder Wochen später aus der Dunkelkammer kam, die Abzüge umklammernd wie eine Safaritrophäe. Diesmal war sie verschlossen.
»Wann wirst du ungefähr zurück sein?«, fragte Cardinal.
Catherine schlang sich einen kurzen, karierten Schal um den Hals und stopfte die Enden in ihre Jacke. »Ist es wichtig? Ich dachte, du müsstest wieder zur Arbeit.«
»Muss ich auch. Ich bin nur neugierig.«
»Also, ich werde lange vor dir wieder zu Hause sein.« Sie zog ihre Haare aus dem Schal heraus und schüttelte den Kopf. Cardinal roch den Duft ihres Shampoos, etwas, das entfernt an Mandeln erinnerte. Catherine setzte sich auf die Bank neben der Haustür und öffnete ihre Kameratasche. »Der Splitfield-Filter. Ich wusste doch, dass ich was vergessen hatte.«
Sie verschwand kurz im Keller, kam mit dem Filter zurück, steckte ihn in die Kameratasche. Cardinal hatte keine Ahnung, was ein Splitfield-Filter sein könnte.
»Gehst du wieder ans Government Dock?« Im Frühjahr, als das Eis aufbrach, hatte Catherine eine Fotoserie am Ufer des Lake Nipissing geschossen. Riesige weiße Eisblöcke, die sich übereinander schoben wie tektonische Platten.
»Die Serie ist doch längst fertig«, sagte Catherine stirnrunzelnd. Sie befestigte ein kleines, zusammenklappbares Stativ an ihrer Kameratasche. »Wieso stellst du mir so viele Fragen?«
»Manche Leute machen Fotos, andere stellen Fragen.«
»Ich wünschte, du würdest mich nicht so löchern. Du weißt doch, dass ich nicht gern im Voraus über meine Projekte rede.«
»Manchmal schon.«
»Diesmal nicht.« Sie stand auf und hängte sich die schwere Tasche über die Schulter.
»Was für eine herrliche Nacht«, sagte Cardinal, als sie vor dem Haus standen. Er betrachtete die Sterne, die im hellen Mondschein schwach zu erkennen waren. Die Luft duftete nach Kiefern und Laub. Auch Catherine liebte den Herbst ganz besonders, aber im Moment war sie mit anderen Dingen beschäftigt. Sie stieg in ihren Wagen, einen braunen PT Cruiser, den sie sich vor einigen Jahren gebraucht gekauft hatte, ließ den Motor an und fuhr los.
Cardinal folgte ihr in seinem Camry über die dunkle, gewundene Straße in Richtung Stadt. Kurz vor der Ampel am Highway 11 betätigte Catherine den Blinker und ordnete sich links ein, während Cardinal geradeaus über die Kreuzung und dann die Sumner Street hinunter zum Revier fuhr.
Catherine war also unterwegs zum östlichen Stadtrand, und Cardinal fragte sich flüchtig, wohin sie wollte. Aber er war immer froh, wenn sie sich in ihre Arbeit stürzte, und außerdem nahm sie regelmäßig ihre Medikamente. Es war jetzt ein Jahr her, seit man sie aus der Psychiatrie entlassen hatte. Letztes Mal war sie schon fast zwei Jahre draußen gewesen, dann hatte sie einen manischen Schub gehabt und musste wieder für drei Monate in die Klinik. Aber solange sie ihre Medikamente nahm, machte Cardinal sich keine allzu großen Sorgen.
Es war ein Dienstagabend, und in der Verbrecherwelt herrschte einigermaßen Ruhe. Cardinal verbrachte mehrere Stunden damit, liegen gebliebenen Papierkram zu erledigen. Erst kürzlich waren wie jedes Jahr sämtliche Teppichböden gereinigt worden, und es roch im ganzen Gebäude nach Putzmitteln und feuchtem Teppich.
Der einzige Kollege, der außer Cardinal Spätschicht schob, war Ian McLeod, und selbst McLeod, tagsüber das Großmaul des Reviers, war zu dieser späten Stunde vergleichsweise still und ernst.
Cardinal war gerade dabei, eine Akte, die er endlich geschlossen hatte, mit einem Gummiband zu verschnüren, als McLeods gerötetes Gesicht über der Trennwand zwischen ihren Schreibtischen erschien.
»Hey, Cardinal. Ich wollte Sie nur kurz warnen. Es geht um unseren Bürgermeister.«
»Was will er denn?«
»Er war gestern Abend hier, als Sie schon Feierabend hatten. Wollte seine Frau vermisst melden. Das Problem ist nur, dass sie gar nicht verschwunden ist. Jeder in der Stadt weiß, wo sie steckt, außer dem verdammten Bürgermeister.«
»Hat sie immer noch eine Affäre mit Reg Wilcox?«
»Ja. Sie wurde sogar gestern Abend in seiner Begleitung gesehen. Szelagy hat am Motel Birches Posten bezogen, um die Porcini-Brüder im Auge zu behalten. Die sind seit einem halben Jahr wieder auf freiem Fuß und scheinen sich einzubilden, sie könnten wieder ins Geschäft einsteigen. Jedenfalls, als Szelagy gerade hier anruft, um Bericht zu erstatten, sieht er plötzlich die Gattin des Bürgermeisters zusammen mit dem hochgeschätzten Chef der Stadtreinigung aus Zimmer 12 kommen. Also, wenn Sie mich fragen, ich konnte den Typen noch nie ausstehen – möchte wissen, was die Weiber an ihm finden.«
»Er sieht doch gut aus.«
»Ich bitte Sie, Cardinal, der Typ sieht aus wie ein Dressman von Sears.« Um Cardinal eine Kostprobe zu geben, posierte McLeod im Dreiviertelprofil und setzte ein breites Grinsen auf.
»Manche Leute finden das durchaus sehenswert«, sagte Cardinal. »Wenn auch nicht an Ihnen.«
»Na ja, manche Leute können mich mal. Jedenfalls, ich habe Seiner Durchlaucht gestern Abend gesagt, hören Sie, Ihre Frau ist nicht verschwunden. Sie ist erwachsen. Sie wurde in der Stadt gesehen. Wenn sie nicht nach Hause kommt, dann ist das ihre freie Entscheidung und ihr gutes Recht.«
»Und was hat er dazu gesagt?«
»›Wer hat sie gesehen? Wo? Wann?‹ Das Übliche. Ich hab ihm erklärt, ich wäre...