E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Blondel Ein Winter in Paris
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-552-06387-7
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-552-06387-7
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jean-Philippe Blondel wurde 1964 im französischen Troyes geboren, wo er auch heute als Autor und Englischlehrer mit seiner Familie lebt. Sein Roman 6 Uhr 41 (Deuticke 2014) wurde ein Bestseller. Auf Deutsch erschienen außerdem die Romane 'Zweiundzwanzig', 'Direkter Zugang zum Strand', bei Deuticke This is not a love song (2016), Die Liebeserklärung (2017) und Ein Winter in Paris (2018).
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September 1984.
Die Welt war nicht so, wie Orwell vorhergesagt hatte. Zu Beginn dieses Jahres hatte ein kleines Unternehmen namens Apple sein neues Produkt auf den Markt gebracht: den Macintosh. In New Orleans fand die Weltausstellung statt. Tschernenko wurde zum Generalsekretär der KPdSU gewählt, doch ein neuer Mann machte immer mehr von sich reden, ein Funktionär namens Michail Gorbatschow. Auf der anderen Seite des Atlantiks standen die Amerikaner kurz davor, Ronald Reagan wiederzuwählen. Auf allen Bühnen der Welt sang die englische New-Wave-Band The Police: »Bei jedem Atemzug, den du machst, bei jedem Schritt, den du tust, werde ich dich beobachten.« Annie Lennox und Dave Stewart skandierten als das Musik-Duo Eurythmics: Hieraus sind süße Träume gemacht, wer bin ich, dem zu widersprechen? Die Olympischen Sommerspiele hatten in Los Angeles stattgefunden.
Ich hatte die Segelwettkämpfe der 470er Jollen mit großem Interesse verfolgt. Zwei Franzosen haben die Bronzemedaille gewonnen — der beste Freund meines Bruders und sein Mannschaftskamerad. Später hat mein Bruder am anderen Ende Frankreichs eine Arbeit gefunden und das Segeln aufgegeben, »ein Hobby, das zu nichts Konkretem führt«, wie er verlauten ließ.
Ich hörte nur noch höchst selten von ihm. Wir waren fünf Jahre auseinander und uns eigentlich nie sehr nahegestanden. Wir trafen uns nur noch bei Geburtstagen und den obligatorischen Festen bei unseren Eltern. Wir waren beide mit unserem eigenen Leben beschäftigt. Er sah den kommenden Jahren mit Vorfreude entgegen, ich eher mit einer gewissen Besorgnis. Wir begnügten uns meist damit, uns nur Hallo zu sagen. Mit der Kommunikation hatten wir es nicht so in unserer Familie.
Ich war im zweiten Jahr der Vorbereitungsklasse des literarischen Zweigs, in der man sich auf das Auswahlverfahren für eine der elitären Écoles normales supérieures vorbereitet.
Meine Eltern hatten nichts dagegen gehabt, dass ich mich im Gymnasium für den geisteswissenschaftlichen Zweig entschied. Sie hätten aber sowieso nicht gewagt, ihre Meinung zu sagen, wo sie doch selbst nur die Volksschule besucht hatten. Sie waren natürlich etwas überrascht, da es in unserer Familie noch nie einen Geisteswissenschaftler gegeben hatte und da ihnen Dinge wie Romane, Filme, Theater sehr fremd waren. »Scrabble«, pflegte meine Mutter zu sagen, »es ist wie dieses Scrabble, das wir manchmal in den Ferien spielen«, und man wusste nie, ob in diesem Satz Bewunderung oder Groll mitschwang.
Sie waren entzückt, als ich während meiner Jahre auf dem Gymnasium regelmäßig Zeugnisse nach Hause brachte, die sie meine Wahl gutheißen ließen. Ich hatte mich offensichtlich zu Recht für diesen Zweig entschieden. Darin waren sich alle einig. Ich schlug mich hervorragend. In der Abiturklasse erklärte ich, dass ich in Paris studieren und mich erst mal für eine der Vorbereitungsklassen bewerben wolle. Sie hatten schon davon gehört, am Rande — der Sohn einer Kollegin meiner Mutter machte dort seine Vorbereitungsklasse mit Schwerpunkt Mathematik, und es gab also auch etwas Entsprechendes für geisteswissenschaftliche Fächer? »Aber wie viel wird uns das kosten?«
Mein Bruder hatte zu der Zeit zum Glück gerade seine erste unbefristete Stelle angetreten, im Südosten Frankreichs. Er stand also fortan auf eigenen Füßen. Jetzt musste er nur noch heiraten und Kinder bekommen, und meine Eltern könnten sich dazu gratulieren, ihre elterlichen Pflichten erfüllt zu haben. Sie konnten es sich also erlauben, etwas mehr in den zweiten Sohn zu investieren. Umso mehr, als der aus eigenem Antrieb alle nötigen Unterlagen zusammengetragen hatte, um in Nanterre ein Zimmer in einem Studentenwohnheim zu bekommen, und auch die Formulare ausgefüllt hatte, um sich für die Aufnahme in eine Vorbereitungsklasse zu bewerben. Ganz offensichtlich war es ihm ernst damit. Sei’s drum.
Worauf es mir vor allem ankam, war, bei ihnen auszuziehen.
Das Lycée, an dem ich nach dem Abitur die beiden Vorbereitungsjahre absolvieren wollte, hatte ich ehrlich gesagt mehr zufällig ausgesucht. Mir gefielen die Fotos, die ich vom Lycée D. gesehen hatte, der Säulengang, die beiden Innenhöfe, einer hinter dem anderen, die Quadersteine, die Steintreppen und die Tatsache, dass es fast an ein Kloster erinnerte — was es im Ancien Régime auch gewesen war. Und das mitten in Paris. Ich hatte mich auch an Einrichtungen beworben, die weniger angesehen und etwas abgelegener waren. Denn trotz der lobenden Empfehlungen meiner Provinzlehrer hatte ich mir keine großen Chancen am elitären Lycée D. ausgerechnet.
Ich sollte recht behalten! Im Juni erfuhr ich, dass ich nur auf der Warteliste stand. Nur ein spitzenmäßiges Abschneiden bei den Abiturprüfungen konnte mich weiter nach vorn katapultieren.
Ich schaffte es! Darauf war ich mächtig stolz. Aber ich ließ mir nichts anmerken.
Kurz bevor ich nach Paris ging, habe ich mit Christine Schluss gemacht. Unsere nicht sehr stabile Beziehung hätte die räumliche Entfernung ohnehin nicht überlebt. Wer im Jahre 1984 in der Stadt bleiben wollte, in der ich aufgewachsen bin, konnte nur Jura oder BWL studieren. Dazu hatten wir beide keine Lust. Christine war sehr sportlich. Sie wollte in Straßburg studieren. Wir haben also Schluss gemacht — ohne dass einer von uns groß gelitten hätte. Die Zukunft wartete auf uns!
In meiner Heimatstadt hatte ich viele Bekannte, aber sehr wenige Freunde. Und die Freundschaften, die ich geknüpft und gepflegt hatte, haben sich während meines ersten Jahrs in Paris schnell gelockert. Die Leute, die ich gekannt hatte, waren mittlerweile über ganz Frankreich verteilt oder ins Erwerbsleben eingetreten. Uns verbanden nur noch gemeinsame Erinnerungen, die wir jedoch nicht miteinander teilen konnten, da die Kommunikationsmöglichkeiten damals noch recht beschränkt waren. Es gab nur das Festnetztelefon und die Post. Ich hätte ihnen gern geschrieben, doch ich traute mich nicht. Und was das Telefon betraf: In meinem Studentenwohnheim gab es gerade mal ein Telefon pro Etage — und das war immer belegt, entweder von in Tränen aufgelösten jungen Mädchen oder Studenten, die sich auf dem Campus verabredeten.
Das erste Jahr der zweijährigen Vorbereitungsklasse war hart gewesen. Darauf war ich in keiner Weise vorbereitet. Wie leicht drei Viertel der Studenten alles fiel, die von klein an mit Kultur gefüttert worden waren. Sie unterhielten sich über Opern oder Theaterstücke, die sie gesehen hatten, verglichen die Inszenierungen oder die Schauspieler und hatten eine dezidierte Meinung zu Filmen, von denen ich noch nie gehört hatte. Sie frequentierten die Bibliotheken Sainte-Geneviève oder Beaubourg, die sie bis in die hintersten Winkel zu kennen schienen. Bei ihren Gesprächen taten sie hochgelehrt und nickten voller Überzeugung.
Ich begriff schnell, dass mir die Zugangscodes fehlten: kulturell, sprachlich und die Kleiderordnung betreffend. Zu dem, was gut war und was nicht. Während der ersten Wochen habe ich mich redlich bemüht, sie mir anzueignen, doch sie änderten sich ständig, und ich blieb irgendwie immer außen vor. Irgendwann gab ich auf.
Ich wurde nicht zu den Feten eingeladen, die meine Kommilitonen organisierten. Ich wurde auch kaum je angesprochen. Also stürzte ich mich aufs Lernen. Ich erntete viele mitleidige Blicke, vonseiten der Lehrer als auch meiner Kommilitonen. Alle dachten, ich würde über kurz oder lang das Handtuch werfen — zu viel Arbeit, zu magere Resultate, zu große Einsamkeit. Man gab mir keine große Chance.
Und doch gab ich den Lehrern Rätsel auf. Verglichen mit dem Klassendurchschnitt waren meine Noten durchaus passabel, doch ganz offensichtlich fehlte mir das Feuer, der Funke Genialität, auf den sie so wild waren, denn von ihm hing ab, ob jemand nach den zwei Vorbereitungsjahren zu dem berühmt-berüchtigten Concours, der Aufnahmeprüfung an einer Grande École, zugelassen wurde, mit dem sie uns dauernd in den Ohren lagen — aber natürlich nur, wenn der oder die Betreffende überhaupt so gut war, dass er oder sie nach dem ersten Jahr ein Feld vorrücken durfte und in die zweite Klasse versetzt wurde — was in meinem Fall eher unwahrscheinlich war, schließlich waren die Plätze an diesem angesehenen Lycée sehr begehrt. Gerade mal ein Dutzend Auserwählte durften nach dem ersten Jahr weitermachen und auf die andere...




