Blom Bei Sturm am Meer
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-552-05810-1
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-552-05810-1
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Hotelzimmer in Amsterdam: Ben wartet auf die Urne mit der Asche seiner Mutter Marlene. In einem Brief an seinen vierjährigen Sohn versucht er zu erklären, wie es dazu kam, dass sich sein Leben plötzlich verändert hat. Vor vierzig Jahren erfuhr Ben, dass sein eigener Vater entführt und ermordet wurde, im kolumbianischen Rebellengebiet, wo er im Auftrag eines deutschen Magazins unterwegs war. Danach änderte sich für Bens Mutter alles. Doch erst nach Marlenes Tod erkennt Ben, in welchem Ausmaß seine Mutter sich in Lebenslügen verstrickt hatte und dass die Geschichte seiner Familie eine große Illusion ist.
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ERSTER TAG
Marlene, meine Mutter, deine Großmutter, ist in der Post verlorengegangen. Nicht, weil sie sich in einem riesigen Bürogebäude verlaufen hätte, nicht, weil sie alt und verwirrt war. Sie wurde nicht alt, und sie war ganz klar bis kurz vor ihrem Ende, als das Morphium ihr waches Bewusstsein trübte. Nein, als ordentliche und versicherte Paketsendung ging sie verloren, ging die Urne mit der Asche verloren, die von ihr übrig geblieben war. Deine Großmutter hätte diese Geschichte sicherlich komisch gefunden. Ich kann ihre Stimme hören, wie sie solche Sachen erzählte, alte, immer wieder aufpolierte Geschichten aus der Familie oder irgendwas, was sie im Radio gehört oder beim Friseur gelesen hatte, wo sie die Illustrierten nach Neuigkeiten über königliche Paare und ihre Familien durchkämmte (bis zu ihrem Tod war sie eine sentimentale holländische Monarchistin, sie liebte die Monarchie als etwas Schönes, so wie sie Hortensien liebte). Ich kann sie lachen hören, ein entferntes Echo des trompetenden Familienlachens. Sie liebte absurde Geschichten, und es hätte sie amüsiert, durch ihr Verschwinden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu bleiben. Sie ist buchstäblich nicht zu ihrem eigenen Begräbnis erschienen. Erst vor zwei Stunden wurde ich angerufen. Die Friedhofsdirektion bedauerte, die Urne meiner Mutter sei nicht wie erwartet angekommen; da könne man nichts machen, meine Anwesenheit sei demnach nicht notwendig. Ich habe dann noch mit der niederländischen Post telefoniert, mit der deutschen Post, mit dem Begräbnisinstitut, das die Kremation vorgenommen und das Paket hochoffiziell abgeschickt hat. Nichts. Niemand weiß etwas. Meine Mutter bleibt verschwunden, irgendwo auf dem Weg zwischen Sterbebett und Grab. So sitze ich hier, in einem Hotelzimmer in Amsterdam, wohin ich gekommen bin, um als einziger Trauernder an der Bestattung teilzunehmen. Ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Schriftlich. Damit es zählt, damit du mir glaubst, damit alles dokumentiert ist, was schon passiert ist und was in den nächsten Tagen noch passieren wird. Von meinem Zimmer aus blicke ich über eine Gracht. Es ist seltsam beruhigend, die Fenster der Häuser gegenüber zu beobachten. Ich werde meine Suche fortsetzen, aber momentan kann ich nichts tun. Ich warte auf Rückrufe, Überprüfungen, höhere Instanzen. Zunächst einmal habe ich also Zeit, dir von der Verkettung der Umstände zu berichten, die mich hierhergeführt haben und die dabei sind, mein Leben von Grund auf umzugraben. Um dir zu erklären, was vorgefallen ist, um dir zu zeigen, wer dein Vater ist, muss ich etwas ausholen, muss ich dir von meiner Mutter erzählen, sie kann es ja nicht mehr, und von ihrer Mutter, von ihrer, deiner und meiner ganzen Familie. Es mag dir eine kapriziöse Idee scheinen, Sascha, dir so eine Zeitkapsel zu überreichen, einen Brief, den dein Vater geschrieben hat, als er exakt das Alter hatte wie du jetzt, wenn dir dieser Brief ausgehändigt werden soll: vierundvierzig Jahre. Du sollst den Brief an deinem Geburtstag bekommen, so werde ich es hinterlegen. Vierzig Jahre in die Zukunft! Wenn ich dann noch lebe – und ich weiß nicht, ob mir diese Idee erstrebenswert erscheint –, werde ich mich auf meinen fünfundachtzigsten Geburtstag vorbereiten. Vielleicht wirst du mich besser verstehen, wenn du diese Zeilen gelesen hast, vielleicht sogar dich selbst, die Impulse, Ticks und Gesten, die jeder Mensch mit Fremden teilt, die zufällig Teil derselben Familie sind. Die Häuserzeile gegenüber wirkt idyllisch. Ich sehe direkt in einige Wohnungen hinein: ein Studentenpaar schräg links gegenüber, ein kahlköpfiger Mann an seinem Computer, ein Schlafzimmer mit einem ungemachten Bett, das noch genauso aussieht wie gestern Abend. Ich habe noch eine zweite Mission hier, die schwieriger ist als das Begräbnis oder die Suche nach einer abhandengekommenen Urne, und weniger klar. Auch sie betrifft deine Großmutter, aber noch mehr deinen Großvater und mich selbst – und damit betrifft sie auch dich. Um sie zu erklären, um zu erklären, warum ich im Begriff bin, eine wildfremde Frau zu besuchen, die ich nur einmal in meinem Leben gesehen habe, nämlich bei der Trauerfeier für deine Großmutter, bei der sie unvermittelt auftauchte und, kaum dass wir ein paar Worte gewechselt hatten, genauso plötzlich wieder verschwand – um all dies verständlich zu machen, muss ich dich mitnehmen in die Zeit, in der ich selbst noch ein Kind war. Ich habe den größten Teil meiner Kindheit allein mit meiner Mutter verbracht, obwohl über die Jahre mehrere Männer Anteil an ihrem Leben hatten. Nie habe ich jene an Vaters statt angenommen, denn ich hatte ja einen Vater, der zwar nicht bei mir war, nicht körperlich anwesend, aber doch eine ständige Nähe und Inspiration, ein Teil von mir. Mein Vater Henk war ein Held, und ich liebte ihn mit einer hell lodernden Kinderliebe, auch wenn ich kaum mehr eine Erinnerung an ihn hatte. Ich war gerade vier, als er nach Südamerika aufbrach, um dort eine Geschichte zu recherchieren. Das war 1972. Er war Journalist. In Kolumbien sollte er zu einer Rebellengruppe stoßen, um dann irgendwo im Dschungel deren Anführer zu interviewen, für das Hamburger Magazin, für das er arbeitete. Von dieser Reise ist er nie zurückgekommen. Er hatte sich noch gemeldet bei einem Kollegen drüben, der ihm geholfen hatte, den Kontakt herzustellen, er war zu diesem Treffen gefahren, irgendwo in der Provinz, mit dem Auto, und dann war jede Kommunikation von seiner Seite abgebrochen. Niemand bekannte sich zu der Entführung, seine Leiche wurde nie gefunden, aber damals verschwanden Tausende auf diese Weise. Es gibt ein Wort dafür auf Spanisch: Desaparecidos – die Verschwundenen. Sein Tod war seinem Magazin nur eine kurze Notiz wert, eine Zeitung veröffentlichte einen Nachruf. Einige Jahre später wurde sogar ein Journalistenpreis nach ihm benannt, die Umstände seines Verschwindens und seines Todes wurden jedoch niemals geklärt. Ich erinnere mich dunkel an einzelne Bilder und Momente des Zusammenseins mit ihm. Ich erinnere mich daran, dass ich auf dem Boden saß und mit seiner Büroschere irgendetwas aus buntem Papier ausschnitt. Er hatte mir immer wieder gesagt, dass ich vorsichtig sein sollte mit der Schere, die schrecklich und wunderbar glitzerte. Ich aber fühlte mich sicher und sah zu ihm auf, wie er an seiner Schreibmaschine saß und schrieb und dabei rauchte, eine Zigarette nach der anderen. Ich erinnere mich an seinen Geruch und an den Klang seiner Stimme und daran, wie wir Spaziergänge an der Elbe gemacht haben, früh am Morgen, mit einer milchigen Sonne am Himmel und ölschwarzen Felsen als Wellenbrecher, auf die ich geklettert bin, und mit den riesigen Schiffen, die sich an uns stumm vorbeischoben, bis sie plötzlich mit dröhnendem Nebelhorn verkündeten, dass alle Welt ihnen untertan sein musste. Man konnte diesen Ton in der Brust spüren, so mächtig war er. Ich besitze eine Fotografie, die uns bei so einem Spaziergang zeigt. (Erinnere ich mich wirklich an die Spaziergänge, oder hat dieses Bild meine Erinnerung erst geschaffen?) Ich sitze auf seiner Schulter und lache, den Mund weit geöffnet. Mein Vater schaut zu mir hinauf, ein kräftiger Mann mit einem entschlossenen, offenen Gesicht, einem Gesicht, von dem du so viel geerbt hast, dass ich oft an dieses Foto denken muss, wenn ich dich ansehe. Ich habe mich immer gefreut, wenn Marlene mich mit meinem Vater verglich, was sie oft getan hat. Wie dein Vater, sagte sie oft, bei einer bestimmten Bewegung oder einer Geste, die sie an früher erinnerte. Sie hatte dabei ein ganz besonderes, verhaltenes Lächeln auf den Lippen, einen verborgenen Stolz. Damals war ich fest entschlossen, später selbst ein Held zu werden und sein Erbe anzutreten. Sobald ich erwachsen wäre, wollte ich nach Kolumbien fliegen und die Umstände seiner Entführung aufklären, ich wollte mich seines Erbes würdig erweisen. Natürlich bin ich kein Held geworden. Ich arbeite bei einer Marketingagentur. Auch in Südamerika bin ich noch nie gewesen. Eine gewisse Scheu hat mich davon abgehalten, diesen Kontinent zu betreten. Vielleicht ist diese Scheu einfach Feigheit. Ich schweife ab. Aber ich muss abschweifen und weit ausholen, anders kann ich dir nicht das ganze Bild zeigen, und ich weiß nicht, was ich dir über die Jahre erzählen kann, wie viel Zeit wir miteinander haben werden. Außerdem ist in den vergangenen Wochen so vieles aufgewühlt und umgegraben worden, dass mir selbst nicht klar ist, in welcher Reihenfolge ich alles erzählen soll, ich weiß nur, dass du nichts verstehen wirst, wenn du nicht weißt, warum die Menschen, um die es hier geht, so geworden sind und nicht anders. Meine Mutter Marlene, deine Großmutter (ich werde sie von jetzt an Marlene nennen, das gibt auch mir Distanz), ist als kleines Mädchen nach Holland gekommen. Sie wurde in Hamburg geboren, im Winter 1942, bevor die großen Bombenangriffe begannen. Elly, ihre Mutter, den Fotos nach damals sehr attraktiv, mit katzenhaft schräggestellten Augen und rötlich-blondem Haar, war allein, unverheiratet, neunzehn Jahre alt. Kannst du hundert Jahre später überhaupt ermessen, was das damals hieß? Sie hatte davon geträumt, Filmschauspielerin zu werden. Der Vater war Buchhalter bei einem Hamburger Filmstudio, ein nervöser Mann, der niemandem in die Augen blicken konnte, ein Aufschneider und Frauenheld. (So hat ihn mir Marlene später beschrieben, nach den Schilderungen ihrer Mutter, denn sie hat ihren Vater nie gesehen. Elly selbst hat ihn später mit keinem Wort mehr erwähnt.) Elly hatte einen Schreibmaschinenkurs belegt. Als er sie einlud, war sie ganz davon in den Bann geschlagen, dass er beim Film war, sein mausähnliches Profil und seine schlechten Manieren wurden...