E-Book, Deutsch, Band 63, 408 Seiten
Kritische Perspektiven auf Geschlecht und Gesellschaft
E-Book, Deutsch, Band 63, 408 Seiten
Reihe: Politik der Geschlechterverhältnisse
ISBN: 978-3-593-45401-6
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Henrike Bloemen ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster. Christiane Bomert ist Akademische Rätin in der Abteilung Sozialpädagogik der Universität Tübingen. Stephanie Dziuba-Kaiser ist Politikwissenschaftlerin und Referentin für Gender Consulting an der Hochschule Osnabrück. Mareike Gebhardt ist Ko-Leiterin der Forschungsgruppe ZivDem (Zivile Seenotrettung als Kristallisationspunkts des Streits um Demokratie) der Gerda Henkel Stiftung am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster.
Autoren/Hrsg.
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Feministische Politikwissenschaft als demokratisierende Haltung
Brigitte Bargetz und Gundula Ludwig 1.Einleitung
Gabriele Wilde zählt zur Gründer*innengeneration feministischer Politikwissenschaft im deutschsprachigen Raum. Gemeinsam mit vielen anderen mutigen, kreativen und beharrlichen Feministinnen hat sie an der Hervorbringung eines Grundgerüsts feministischer Politikwissenschaft gearbeitet, das mittlerweile umfassende theoretische Werkzeuge wie empirische Analysen zu vergeschlechtlichten Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie zu Neukonzeptualisierungen des Politischen enthält. Angesichts der Fülle an theoretischen Bezügen, methodischen Instrumenten und wissenschaftstheoretischen Selbstverständlichkeiten, die allesamt unter dem zwischenzeitlich großen Dach der feministischen Politikwissenschaft subsumiert werden können, fällt es nicht leicht, einen gemeinsamen Nenner feministischer Politikwissenschaft zu formulieren. In unserem Beitrag wollen wir daher auch keine abschließende Definition entwerfen. Vielmehr möchten wir – ganz im Sinne von Gabriele Wilde – den Fokus auf feministische Politikwissenschaft als kritische Gesellschaftstheorie legen (Wilde 2014; Wilde/Bomert 2019) und ein Verständnis ebendieser als demokratisierende »Haltung« (Foucault 1992: 12) vorschlagen. Wir greifen damit Wildes Blick (2014: 204) auf feministische Politikwissenschaft als eine »genuin demokratische Instanz« auf und entfalten dieses Bild weiter. Dafür rekurrieren wir zunächst auf Grundlagen feministischer Wissenschaftstheorie, daran anschließend akzentuieren wir Ansprüche feministischer Politikwissenschaft und legen diese als demokratisierende Epistemologie dar, ehe wir mit einigen Überlegungen zur Bedeutung feministischer (Politik-)Wissenschaft in anti-demokratischen Zeiten schließen. 2.Wissenschaft und Politik – Wissenschaft als Politik?
Insbesondere im Kontext des sich in den letzten Jahren verdichtenden rechtsextremen, rechtspopulistischen und rechtskonservativen »Angriffs auf die Demokratie« (Wilde/Meyer 2018) wurden Gender und Queer Studies wiederholt mit dem Vorwurf konfrontiert, dass es sich bei diesen um politische und folglich »ideologische« Wissenschaften handle. Gender und Queer Studies, so die rechten Diffamierungen, würden Politik in die Wissenschaft tragen und Wissenschaft mit politischen Zielen vermengen. Aus feministischer wissenschaftstheoretischer Perspektive sind es freilich nicht erst Gender und Queer Studies, die Politik in die Wissenschaft bringen; vielmehr sind Wissenschaften als Teil gesellschaftlicher Verhältnisse immer schon politisch. Wissensproduktion ist, so haben feministische Wissenschaftstheoretiker*innen gezeigt, »von materiellen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen nicht zu trennen« (Gutiérrez Rodríguez 2011: 87). Die Hervorbringung wissenschaftlichen Wissens ist eine gesellschaftliche Praxis und »zwar bis in den Kern dessen, was als Begründungszusammenhang verstanden wird: von ihren methodischen Regeln bis hin zu ihren Objektivitätskonzepten und Wahrheitsansprüchen« (Singer 2005: 17). Um den politischen Charakter von Wissenschaften zu fassen, prägte Donna Haraway (1988: 575) den Begriff der »situated knowledges«. Damit betont sie, dass Wissen nie universell sein kann, sondern stets von konkreten Subjekten unter historisch spezifischen Verhältnissen erarbeitet wird. Jede andere Art, Wissenschaft zu begreifen, kritisiert sie als Phantasma des »god trick« (Haraway 1988: 581): als ein Blick, der vortäuscht, »alles von nirgendwo aus sehen zu ko¨nnen« (Haraway 1988: 581; Übers. BB/GL). Ähnlich weist Patricia Hill Collins die Annahme zurück, dass es eine unmarkierte, nicht positionierte Wissenschaft geben könne. Dass allerdings Wissensansprüche stets nur partiell sein können, bedeutet nicht, dass sie auch epistemologisch gleichwertig sind. Mit ihrem Konzept der »outsiders within« greift Collins (1986: 12) die Erfahrungen afro-amerikanischer Frauen auf und stellt die Anordnung von partikularem und allgemeinem Wissen, wie sie im weißen Male- und Mainstream der Academia vorherrschen, vom Kopf auf die Füße: Wissen, das von marginalisierten Subjektpositionen erarbeitet wird, ist nicht verengtes, sondern erweitertes Wissen. Gerade durch die Positionierung als outsiders werde es möglich, als selbstverständlich erachtetes Wissen kritisch zu hinterfragen (Collins 1986: 16). Marginalisiertes Wissen hat also das Potenzial, zu einem Zugewinn an Erkenntnis zu führen. Was feministische Wissenschaft von der als unpolitisch gerahmten, doch immer schon politischen Wissenschaft des weißen Male- und Mainstreams unterscheidet, ist dreierlei: Erstens zeichnen sich feministische Wissenschaften durch Reflexion und Kritik der gesellschaftspolitischen Einbettung von Wissen(sproduktion) aus und führen damit gleichsam zu einer Erweiterung des Erkenntnisradius. Wird Wissenschaft als gesellschaftlich situiert und politisch aufgefasst, geraten auch die »Produktionsverhältnisse«, die (materiellen) »Produktionsbedingungen« und die »sozialen und kulturellen Verhältnisse der ProduzentInnen [sic] wissenschaftlichen Wissens« (Singer 2005: 17 f.) in den Blick. Zweitens unterscheidet sich feministische Wissenschaft von der vermeintlich unpolitischen Wissenschaft in ihrer Ausrichtung von Politik: Denn ihr geht es nicht um eine wissenschaftliche Zementierung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, sondern um die Beteiligung an deren Überwindung. Der Anspruch, durch die explizite Auseinandersetzung mit vergeschlechtlichten, heteronormativen, rassifizierten, kapitalistischen, ability-zentrierten Ungleichheitsverhältnissen Wissen zu generieren, zielt zugleich darauf ab, eine adäquatere Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse zu erarbeiten und sich an der Hervorbringung einer Welt zu beteiligen, in der ein gutes Leben für alle möglich sein soll (Haraway 1995: 78 f.). Feministische Wissenschaft ist drittens bestrebt, sich selbst kritisch und reflexiv zu transformieren. So gilt es, Leerstellen und Machtverhältnisse auch innerhalb feministischer Wissenschaften zu kritisieren (hooks 2014 [1989]) und darüber letztere kontinuierlich zu verändern. Innerfeministische Kritik wird auf diese Weise zu einer »Selbsttransformationskraft« (Kerner 2013: 103) und zum Motor kritischer Veränderung. Feministische Wissenschaft ist, so wollen wir resümieren, eingreifende Wissenschaft, die Gesellschafts- und Geschlechterverhältnisse nicht nur beschreiben, sondern auch verändern will. Konsequenterweise ist feministische Wissenschaftstheorie auch Gesellschaftstheorie und Wissenschaftskritik dergestalt ebenso Gesellschaftskritik (Singer 2005: 179). Der »transformative Anspruch« von feministischer Wissenschaftstheorie als Gesellschaftstheorie ist also stets ein »doppelter: ein theoriepolitischer und ein gesellschaftspolitischer« (Mendel 2015: 46). Es geht um die Frage, wie Wissensformen gesellschaftliche Verhältnisse und folglich auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse legitimieren, mit hervorbringen, aber auch transformieren. 3.Jenseits geschlechtsneutraler »Halbwahrheiten«: Ansprüche feministischer Politikwissenschaft
Feministische Politikwissenschaft gründet in der Annahme, dass Geschlecht Effekt machtvoller Konstruktionsprozesse und konstitutiv in die politische Ordnung moderner westlicher Gesellschaften eingeschrieben ist. Eva Kreisky (1995a: 204) stellte bereits Mitte der 1990er Jahre fest, dass Politikwissenschaft in einem »vor-wissenschaftlichen Denken« verharrt, solange sie die Bedeutung von Geschlecht für Staat, Gesellschaft und Politik ignoriert. Feministische...