E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Bleyer 1848
Originalausgabe 2022
ISBN: 978-3-15-962059-6
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-15-962059-6
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1848 - was für ein Jahr: Die Rufe nach Grundrechten und demokratischer Teilhabe wurden lauter, hitzige Debatten wurden zu Barrikadenkämpfen, der politische Status quo geriet endgültig ins Wanken. Letztendlich erreichten die Revolutionärinnen und Freiheitskämpfer ihre Ziele nicht, doch ein entscheidender Anfang war gemacht. Die Historikerin Alexandra Bleyer erzählt von der einzigartigen Dynamik dieses Revolutionsjahrs in ganz Europa. Neben den politischen Geschehnissen nimmt sie auch den bewegten Alltag in den Blick und begleitet eine Vielzahl von Personen durch diese bewegten Zeiten - von der Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters über Verteidiger des Status quo wie Fürst Metternich bis hin zu Dichtern wie Johann Nestroy und der Tänzerin Lola Montez, die es als Revolutionsflüchtling in die USA verschlug. Eine atemberaubende Chronik, die die ganz besondere Aufbruchsstimmung jener Tage offenbart.
Alexandra Bleyer, geb. 1974, ist Historikerin und freie Autorin. Bei Reclam erschienen zuletzt 'Napoleon. 100 Seiten' und 'Propaganda. 100 Seiten'.
Autoren/Hrsg.
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Vor dem Sturm
Vormärz. Der Epochenbegriff für die Zeit vom Ende des Wiener Kongresses 1815 bzw. im engeren politischen Sinn von der Julirevolution 1830 bis zur Revolution ist insofern etwas problematisch, als dass er die Jahre vor der Märzrevolution auf eine Vorlaufzeit reduziert. An deren Anfang stand – wieder einmal – Napoleon; besser gesagt: der Sieg über den Kaiser der Franzosen und die auf dem Wiener Kongress ausgehandelte Neuordnung Europas, zu deren Leitmotiven der Erhalt des monarchischen Prinzips sowie das Gleichgewicht der Großmächte zählten. Die Wiener Ordnung galt ihren Architekten als Garant für Friede und Stabilität in Europa. In der Generation des österreichischen Staatskanzlers Clemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich lässt sich eine fast panische Revolutionsfurcht bemerken. Aber kann man es den Zeitgenossen wirklich verdenken? Sie hatten ja miterlebt, wie die Französische Revolution ihre vertraute Welt auf den Kopf stellte und wie in Paris die Köpfe rollten. Wie seit 1792 ein Krieg nach dem anderen Europa verheerte – Kriege, die insgesamt bis zu fünf Millionen Tote gefordert hatten. An den konservativ-reaktionären Höfen Europas standen Innen- und Außenpolitik unter der Prämisse der Revolutionsabwehr. Dazu gehörte die Unterdrückung liberaler und nationaler Bewegungen, die als Keimzelle neuer Umstürze gedeutet wurden. Im Deutschen Bund – der Staatenbund wurde auf dem Wiener Kongress gegründet und ersetzte das auf Druck Napoleons 1806 erloschene Heilige Römische Reich – traten neben intellektuellen Vordenkern teils militant agierende Burschenschafter als Speerspitze der liberalen und nationalen Ideen auf. Nach dem Wartburgfest 1817 verfasste der Student Heinrich Riemann mit seinem Zimmernachbarn die Grundsätze und Beschlüsse des 18. Oktober, in denen vorsichtshalber »allzu scharfe Sätze« durch Professorenhand gestrichen wurden. Diese sogenannten Wartburgbeschlüsse enthielten typische frühliberale Forderungen: konstitutionelle Erbmonarchie, Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz des Eigentums, öffentliche Gerichte, Rede- und Pressefreiheit sowie die nationale Einigung Deutschlands. War das Wartburgfest schon ein Alarmsignal für die Herrschenden, wurde zwei Jahre später die Ermordung des Schriftstellers und russischen Generalkonsuls August von Kotzebue durch den Studenten Karl Ludwig Sand als Teil einer groß angelegten Verschwörung interpretiert. Die Reaktion folgte prompt: Die Karlsbader Beschlüsse sahen im Deutschen Bund die Überwachung der Universitäten, das Verbot der Burschenschaften und die Entlassung verdächtiger Professoren vor. Eine Vorzensur kontrollierte nun Schriften von unter 20 Druckbogen (320 Seiten) Länge; eine »Central-Untersuchungs-Commission« in Mainz sollte revolutionäre Umtriebe in den deutschen Staaten untersuchen. Verschwörungen, wohin man sah (oder sehen wollte): In England lieferten die ebenfalls zu beobachtenden sozialen Unruhen, Massendemonstrationen sowie ein Attentat auf die Kutsche des Prinzregenten und künftigen König Georg IV. die Begründung für die Six Acts, die »Karlsbader Beschlüsse auf ›englisch‹«.4 In Frankreich führte u. a. die Ermordung des Thronfolgers Charles Fernand, Herzog von Berry, 1820 zu einem Kurswechsel Richtung Reaktion. Die Angst vor revolutionären Umwälzungen beschränkte sich nicht auf den eigenen Staat. Auch die Vorgänge in anderen Ländern wurden argwöhnisch beobachtet, da man aus leidvoller Erfahrung wusste: Revolutionen sind ansteckend. England, Russland, Österreich und Preußen hatten im Kampf gegen Frankreich zu einem Bündnis zusammengefunden, das sie über den Sieg hinaus fortsetzen wollten. Als sogenanntes Europäisches Konzert wollten die Großmächte – Frankreich wurde 1818 in den Kreis aufgenommen – ihre Politik auf Monarchenkongressen und Botschafterkonferenzen koordinieren, die Wiener Ordnung verteidigen und Konflikte diplomatisch statt durch Krieg lösen. Während die 1815 auf Initiative Zar Alexanders I. begründete Heilige Allianz, ein Feindbild der Gegenseite, kaum praktische Bedeutung erlangte, bewies das Europäische Konzert seine Effizienz, als ab 1820 eine revolutionäre Welle über Südeuropa schwappte. Auf den Kongressen von Troppau, Laibach und Verona einigte man sich darauf, die Revolutionen niederzuschlagen. Doch das aufstrebende (Bildungs-)Bürgertum rief immer lauter nach politischer Mitsprache und Reformen, konkret nach einer Verfassung. Am Beispiel des Deutschen Bundes zeigt sich, wie unterschiedlich die Entwicklung nach 1815 in den einzelnen Staaten verlief. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. wollte von seinen Verfassungsversprechen der Befreiungskriege nichts mehr wissen; für den erzkonservativen österreichischen Kaiser Franz II./I., der Veränderungen scheute wie kaum ein anderer, war eine solche ohnehin kein Thema. Im Gegensatz dazu setzten viele süddeutsche Regierungen ihren Reformkurs der napoleonischen Ära fort und entwickelten sich zu konstitutionellen Monarchien. Innerhalb von fünf Jahren erhielten Sachsen-Weimar, Baden, Bayern, Württemberg sowie Hessen-Darmstadt Verfassungen. Diese sind nicht allein als Zugeständnis an die dort recht starken liberalen Kräfte zu sehen; einheitliche Gesetze und Normen sollten vielmehr die durch Gebietszugewinne neu hinzugekommenen Untertanen in den Staat integrieren und dessen Legitimität besiegeln. Der Monarch blieb Träger der Souveränität, seine Macht wurde allerdings durch die Verfassung beschränkt. Die Volksvertretung erfolgte in einem Zweikammersystem, wobei die alten Eliten im Oberhaus ihren Einfluss bewahren konnten; in die Zweite Kammer wurden Abgeordnete gewählt. Freilich durfte nicht jeder wählen: Frauen blieb die Mitbestimmung verwehrt, und das Zensuswahlrecht schloss jene Männer aus, die weder einen gewissen Besitz noch die geforderte Mindeststeuerleistung vorweisen konnten. Das war ganz im Sinne der bürgerlichen Liberalen, die zwar von einer Gleichheit der Menschen ausgingen, aber »keine Demokraten im modernen Sinn«5 waren. Sie wollten keine Revolution, sondern Reformen im Einvernehmen mit den Fürsten. Das einfache Volk war ihrer Meinung nach für die politische Teilhabe noch nicht reif und gebildet genug. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich die bis heute wirksamen politischen Hochideologien Liberalismus, Demokratismus, Konservativismus, politischer Katholizismus sowie Sozialismus bzw. Kommunismus heraus. Der Liberalismus wurzelte als gesamteuropäische Bewegung in der Aufklärung und war von den Ideen von 1789 geprägt; Ziel der Liberalen bzw. Konstitutionellen war der Verfassungs- und Rechtsstaat. Das demokratische Lager, auch »bürgerlicher Radikalismus« genannt, spaltete sich etwa in den 1830ern vom Liberalismus ab; die Grenzen waren in dieser Ausbildungsphase politischer Strömungen noch fließend. Die Demokraten vertraten das Prinzip der Volkssouveränität und wollten einen National- und Verfassungsstaat mit allgemeinem Wahlrecht für Männer; Vorbild waren u. a. die USA. Sie setzten sich stärker als die Liberalen für soziale und gesellschaftliche Reformen ein und nahmen teilweise sozialistische und kommunistische Ideen auf. Aus diesem Lager erwuchsen später die Sozialdemokraten. Freilich gab es innerhalb der jeweiligen Lager viele Abstufungen und Übergänge; so näherte sich der linke Flügel der Liberalen in manchen Positionen den Demokraten an, während umgekehrt keineswegs alle Demokraten auch Republikaner waren. Im späteren Vormärz drangen aus Frankreich, das in der ersten Jahrhunderthälfte »wichtigster Impulsgeber für soziale Bewegungen und Revolutionen«6 war, neue Ideen und Begriffe in die Diskussion ein, darunter der Sozialismus (antirevolutionär, wollte durch eine neue Sozialwissenschaft gesellschaftliche Harmonie erreichen) und der Kommunismus (revolutionär, dieser knüpfte an republikanische Gleichheitsvorstellungen an). Frühformen dieser Ideologien entwickelten sich vorrangig in Geheimgesellschaften und Vereinen. Der politische Katholizismus stützte sich auf etwa 400 meist während der 1848er Revolution gegründete Piusvereine und konzentrierte sich auf kirchenpolitische sowie soziale Themen. Der Konservativismus entwickelte sich in Europa in der Auseinandersetzung mit bzw. Abwehr der Französischen Revolution und ihren Idealen. Er wollte das bestehende System – der Monarch herrschte von Gottes Gnaden, der Landtag war ständisch gegliedert – bewahren. Wo deutlich wurde, dass sich die Reformziele nicht mit, sondern nur gegen den Willen der Monarchen erreichen ließen, wo oppositionelle Stimmen unterdrückt und Gegner des bestehenden politischen Systems gnadenlos verfolgt wurden, blieb oft nur der Weg ins Exil oder in den Untergrund. Auch wenn die Geschichte der vormärzlichen Geheimgesellschaften keine Erfolgsgeschichte ist, zeigt sie, welches politische Klima herrschte. Für viele Protagonisten der 1848er Revolution war sie eine wichtige Schule, beispielsweise für den Italiener Giuseppe Mazzini. Die Mitgliedschaft in einem Geheimbund konnte im Vormärz allerdings hoffnungsfrohe Karrieren beenden, bevor sie begonnen hatten, wie die Biographie des Philosophen und Verlegers Arnold Ruge zeigt. Der...