Bjornerud | Zeitbewusstheit | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Bjornerud Zeitbewusstheit

Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-7518-0327-4
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Den Zeitraum von neun Tagen, den ein Tropfen Wasser durchschnittlich in der Atmosphäre verbleibt, können wir leicht nachvollziehen. Aber die Hunderte von Jahren, die sich ein Molekül Kohlendioxid, das den Klimawandel antreibt, darin erhält, überschreiten die Grenzen unserer Vorstellung. Doch gerade die Prozesse, die weit vor uns lagen, prägen unsere Gegenwart, und unser heutiges Verhalten wird noch über Generationen hinweg gravierende Folgen für den Zustand der Erde haben. In Zeitbewusstheit zeigt Marcia Bjornerud eindrucksvoll, wie die Geologie als Biografin unseres Heimatplaneten anhand der Messungen von Erosion und Gebirgsbildung, aber auch von Ozean- und Atmosphärenveränderungen ein Verständnis für die Tiefenzeit und den Rhythmus der Erde bereithält, das wir in unserer Epoche der Beschleunigung dringend brauchen, wenn wir Lösungen für die drohende Umweltkatastrophe finden wollen. Die Lebensdauer der Erde mag im Vergleich zu der eines Menschen ewig erscheinen, doch zur Sicherung des Überlebens beider bleibt uns in Wirklichkeit nur wenig Zeit.

Marcia Bjornerud ist Professorin für Geowissenschaften und Umweltstudien an der Lawrence University in Appleton, Wisconsin. Sie ist Autorin von Elements, des Wissenschaftsblogs des New Yorker. 2005 veröffentlichte sie das Buch Reading the Rocks. The Autobiography of the Earth. Dirk Höfer, 1956 geboren, ist Autor und Übersetzer und lebt in Berlin. Studium der Bildenden Kunst und der Philosophie. Weinhändler. Synchronschreiber. Redakteur der Kulturzeitschrift Lettre International, später Drehbuchschreiber und Spieleentwickler für Ludic Philosophy, Berlin. Bei Matthes & Seitz Berlin erschienen u.a. seine Übersetzung von Jason Moores Kapitalismus im Netz des Lebens sowie sein mit Martin Burckhardt geschriebener Essayband Alles und Nichts.
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PROLOG
VOM REIZ DER ZEITLOSIGKEIT
Zeit ist die Sache, betreffs derer alle übereinkommen könnten, sie als übernatürlich zu bezeichnen. – Haldor Laxness, Am Gletscher, 1968 Für Kinder, die in winterlichen Klimaverhältnissen aufwachsen, gibt es wohl nur wenige Erlebnisse, an die sie sich mit ebenso großer Freude erinnern wie an einen Tag im Schnee. Anders als Ferien, deren Vergnügungen mitunter durch die wochenlange Vorfreude geschmälert werden, sind Tage mit Schnee das reine ungetrübte Glück. Im ländlichen Wisconsin der 1970er Jahre verkündete der örtliche Radiosender die wetterbedingten Schulschließungen, und wir saßen bebend vor Hoffnung und bei voller Lautstärke vor dem Radio, wenn die Namen der öffentlichen und kirchlichen Schulen – in alphabetischer Reihenfolge und unerträglich bedächtig – verlesen wurden. Endlich wurde unsere Schule genannt, und plötzlich schien alles möglich. Die Zeit war zeitweise aufgehoben; die tyrannischen Stundenpläne der Erwachsenenwelt schienen wie durch Zauberhand ausgesetzt – ein Zugeständnis an die größere Autorität der Natur. Vor uns lag der Tag in all seiner wohligen Fülle. Eine Expedition in die weiße, stumme Welt war das Erste, was nun anstand. Wir staunten über die neue Geografie der kleinen, um das Haus stehenden Waldstücke und über die vertrauten Gegenstände, die nun zu bauschigen Karikaturen ihrer selbst aufgebläht waren. Auf Baumstümpfen und Steinen saßen dicke Kissen, der Briefkasten trug einen lächerlich hohen Hut. Wir genossen diese heroischen Erkundungsmissionen umso mehr, als wir wussten, dass wir später in die gemütliche Wärme der Häuser zurückkehren würden. An einen Tag mit Schnee erinnere ich mich besonders. Ich war in der achten Klasse, in jener Übergangszeit also, in der einem sowohl die Welt der Kindheit als auch die des Erwachsenseins offensteht. In der Nacht waren fast dreißig Zentimeter Schnee gefallen, gefolgt von heftigen Winden und beißender Kälte. Am anderen Morgen war die Welt völlig still und blendend hell. Meine Kindheitsgefährten waren nun schon Teenager geworden, die sich mehr fürs Schlafen als für den Schnee interessierten, ich aber konnte der Aussicht, draußen eine völlig verwandelte Welt anzutreffen, nicht widerstehen. Ich hüllte mich in Daunen und Wolle und ging hinaus. Eine schneidende Luft drang in meine Lungen. Die Bäume knarrten und ächzten so, wie sie es stets bei großer Kälte tun. Als ich den Hang zu dem Bach hinunterstapfte, der hinter unserem Haus entlangläuft, entdeckte ich einen roten Tupfen auf einem Ast: Im kalten Sonnenschein hockte ein Kardinalmännchen. Ich ging in Richtung des Baums und war überrascht, dass mich der Vogel nicht hörte. Ich ging noch näher heran, und mit einer Mischung aus Widerwillen und Faszination bemerkte ich, dass er auf seinem Sitz erfroren war – in lebensechter Haltung wie ein mit Glasaugen versehenes Exemplar in einem Naturkundemuseum. Es war, als würde die Zeit in den Wäldern stillstehen und mir erlauben, Dinge zu sehen, die in ihrer Bewegung normalerweise verwischt waren. Als ich an diesem Nachmittag zurück nach Hause kam und die Segnungen der freien Zeit auskostete, wuchtete ich unseren großen Weltatlas aus dem Regal und legte mich vor ihn auf den Boden. Karten haben mich immer fasziniert; die guten sind wie labyrinthische Texte, hinter denen sich verborgene Geschichten auftun. An diesem Tag wollte es der Zufall, dass ich den Atlas auf einer Doppelseite, einer Karte mit den Zeitzonen der Erde aufschlug, mit Uhren oben in den Spalten, die die relativen Zeitangaben in Chicago, Kairo oder Bangkok anzeigten. Bis auf ein paar willkürliche Festsetzungen wie China (nur eine Zeitzone umfassend) und ein paar Ausreißer wie Neufundland, Nepal und Zentralaustralien, wo die Uhren nicht in einem runden Betrag relativ zur mittleren Greenwich-Zeit vor- oder zurückgestellt werden, verliefen die pastellfarbenen Streifen auf der Karte meist entlang der Längengrade. Es gab auch ein paar Regionen – die Antarktis, die Äußere Mongolei und eine arktische Inselgruppe namens Spitzbergen –, die grau eingefärbt waren, was laut der Kartenlegende so viel wie »Keine amtliche Zeit« bedeutete. Die Vorstellung, dass es Gegenden gibt, die – ohne Minuten oder Stunden, ohne die Tyrannei eines in Stunden unterteilten Tags – sich nicht durch Zeiteinheiten haben fesseln lassen, faszinierte mich. War die Zeit dort etwa eingefroren wie der Kardinal auf seinem Ast? Oder floss sie ungetaktet und ungehindert, einem umfassenderen natürlichen Rhythmus folgend, einfach dahin? Als ich Jahre später durch Zufall oder Bestimmung auf Spitzbergen landete, um Feldstudien für meine Doktorarbeit in Geologie durchzuführen, stellte ich fest, dass ich mich tatsächlich an einem Ort jenseits oder außerhalb der Zeit befand. Die Eiszeit hatte die Inselgruppe noch fest im Griff. Die Hinterlassenschaften menschlicher Geschichte aus verschiedenen Epochen – Walknochen, die von Trankochern des siebzehnten Jahrhunderts zurückgelassen worden waren, Gräber russischer Jäger aus der Zeit Katharinas der Großen, der verbogene Rumpf eines Luftwaffenbombers – lagen wie in einer schlecht kuratierten Ausstellung auf den weiten, öden Tundraflächen verstreut. Ich lernte zudem, dass die Zuordnung »Keine amtliche Zeit« eigentlich auf einen lange schwelenden Streit zwischen Russen und Norwegern zurückgeht, ob nun auf Spitzbergen die Moskauer oder die Osloer Zeit gelten solle. An jenem schneereichen Tag aber, als ich keinen Alltagsroutinen folgen musste, kurz vor dem Erwachsenwerden, aber noch behaglich in meinem Elternhaus, tat sich mir ein kurzer Einblick in die Möglichkeit auf, dass es versteckte Winkel gibt, an denen Zeit nicht festgelegt ist und amorph bleibt – an denen man sogar ungehindert zwischen Vergangenheit und Gegenwart reisen kann. In der vagen Vorahnung der vor mir liegenden Veränderungen und Verluste wünschte ich mir, dass der perfekte Tag, den ich damals durchlebte, mein dauerhaftes Zuhause werde, von dem aus ich zu Abenteuern aufbrechen, bei der Rückkehr jedoch alles unverändert vorfinden würde. Das war der Beginn eines vertrackten Verhältnisses zur Zeit. Nach Spitzbergen kam ich das erste Mal im Sommer 1984 als Doktorandin, genauer als seekranke Passagierin an Bord eines Forschungsschiffs des Norwegischen Instituts für Polarforschung. Die Saison für unsere Feldstudien fing erst im frühen Juli an, wenn das Eis genügend aufgebrochen war und eine sichere Navigation zuließ. Drei lange Tage, nachdem wir vom norwegischen Festland aufgebrochen waren, erreichten wir endlich die Südwestküste der Hauptinsel von Spitzbergen und das Gebiet, auf das ich mich in meiner Doktorarbeit über die Tektonikgeschichte des dortigen Gebirgszugs, des nördlichsten Ausläufers der Appalachen-Kaledoniden-Kette, konzentrieren wollte. In meinem seekranken Zustand war ich im Grunde froh über den an jenem Tag herrschenden hohen Wellengang, der verhinderte, dass unsere kleine Gruppe mit dem Schlauchboot an Land gebracht wurde. Die raue See hatte nämlich zur Folge, dass wir in den Genuss eines viel schnelleren und trockeneren Transports per Hubschrauber kamen. Wir hoben vom Oberdeck des schwankenden Schiffs ab. Unsere Ausrüstung und Lebensmittelvorräte baumelten, in ein Netz geschlungen, wie eine Tüte voller Zwiebeln unter dem Hubschrauber und hingen gefährlich über dem wogenden Meer. Ich erinnere mich, wie ich beim Anflug auf das Land den Boden nach Gegenständen absuchte, um ein Gefühl für den Maßstab zu bekommen, aber die Felsbrocken, Bachläufe und Flecken moosbewachsener Tundra blieben in ihrer Größe unbestimmt. Schließlich sah ich etwas, das aussah wie eine alte verwitterte Obstkiste. Wie sich herausstellte, war dies die Hütte, in der wir die kommenden zwei Monate verbringen würden (siehe Abb. 1). Abb. 1: Die Hütte auf Spitzbergen in der norwegischen Arktis Nachdem der Helikopter abgeflogen und das Schiff hinter dem Horizont verschwunden war, waren wir in unserem Camp vom späten zwanzigsten Jahrhundert so gut wie abgeschnitten. Die Hütte, oder hytte, die sich als ziemlich gemütlich herausstellte, war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von findigen Jägern aus Treibholz gebaut worden. Zum Schutz gegen die Eisbären trugen wir Mauser-Karabiner aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Außer einem vereinbarten nächtlichen Funkaustausch mit unserem Schiff, das im Laufe des Sommers langsam das Archipel umfahren und ozeanografische Messungen vornehmen würde, hatten wir keine Möglichkeit, mit der Welt zu kommunizieren. Wir hörten keine aktuellen Nachrichten, und noch Jahre nach diesem Sommer und den Feldstudien in späteren Jahren entdeckte ich beschämende Lücken, was die Kenntnis jener Weltereignisse anbelangte, die zwischen Juli und September stattfanden. (Was? Wann ist Richard Burton gestorben?) Auf Spitzbergen löst sich meine Zeitwahrnehmung von den gängigen...


Marcia Bjornerud ist Professorin für Geowissenschaften und Umweltstudien an der Lawrence University in Appleton, Wisconsin. Sie ist Autorin von Elements, des Wissenschaftsblogs des New Yorker. 2005 veröffentlichte sie das Buch Reading the Rocks. The Autobiography of
the Earth.

Dirk Höfer, 1956 geboren, ist Autor und Übersetzer und lebt in Berlin. Studium der Bildenden Kunst und der Philosophie. Weinhändler. Synchronschreiber. Redakteur der Kulturzeitschrift Lettre International, später Drehbuchschreiber und Spieleentwickler für Ludic Philosophy, Berlin. Bei Matthes & Seitz Berlin erschienen u.a. seine Übersetzung von Jason Moores Kapitalismus im Netz des Lebens sowie sein mit Martin Burckhardt geschriebener Essayband
Alles und Nichts.


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