E-Book, Deutsch, Band 1/2020, 132 Seiten
Deutschunterricht der Vielfalt
E-Book, Deutsch, Band 1/2020, 132 Seiten
Reihe: ide - informationen zur deutschdidaktik
ISBN: 978-3-7065-6062-7
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses ide-Heft möchte den Leser_innen einerseits grundsätzliches, wissenschaftlich gesichertes Wissen anbieten, das in Folge für den Unterricht im Sinne eines Wissenstransfers genutzt werden kann. Andererseits bietet es Einblicke in verschiedene Bereiche, in denen Schrift weit über die Vermittlung des Schreibens in der Schule hinausgehend vertiefende Verbindungen mit anderen Fachrichtungen, sei es Kunst, Literatur oder Geschichte eingeht.
Aus dem Inhalt:
Interdisziplinäre Annäherung an Schrift und Schriftlichkeit
Peter Ernst: Die beste aller Schriften? Grundsätzliche Überlegungen zu Schrift und Schreiben
Elmar Lenhart: Hand – Maschinen – Schreiben
Christian Marquardt, Karl Söhl: Schrifterwerb und Bedeutung der Schreibschrift
Schrifterwerb und Schreiben an den schulischen Institutionen im Wandel
Maria Dippelreiter: Bravo, österreichische Schulschrift!
Konstanze Edtstadler: Anfänglicher Schrifterwerb – didaktisch und praktisch
Jutta Ransmayr: Eine Frage des Schreibmediums. Deutschmatura mit dem Stift oder am Computer schreiben?
Schrift als Querschnittsmaterie
Doris Moser: Christine Lavant?! Auf Spurensuche im Literaturarchiv
Anja Wildemann, Barbara Hoch: Heute schon Malayalam gelesen? Schriftsysteme im Unterricht in mehrsprachigen Lerngruppen thematisieren
Andrea Brait, Cornelia Sommer-Hubatschke: Die Geschichte der Schrift. Ein fächerübergreifender Stationenbetrieb
Helen Bito, Julia Bito: Buchstabenpartituren. Das Gesicht der Wörter: Visuelle Poesie – Unterrichtsbeispiele für einen produktionsorientierten Lyrikunterricht in der Sekundarstufe II
Service
Mara Rader: Schrift und Schriftlichkeit. Bibliographische Hinweise
Online
Sonja Vucsina: 'Eine Geschichte für alle, die Wichtigeres zu tun haben'.Sprach- und Schriftspuren in Bilderbüchern Elisabeth Schabus-Kant: Nicht nur in Stein gemeißelt. Schrift als Querschnittsmaterie
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Elmar Lenhart Hand – Maschinen – Schreiben
Kritik am Medium Schrift und damit an der Kulturtechnik Schreiben wird oft dann geübt, wenn technologisch fundamentale Veränderungen Paradigmenwechsel im Schreibprozess einleiten. Zwei Reduktionshypothesen aus der Antike und der Neuzeit zeihen die Schrift der Ersetzung zuerst des sprechenden, dann des handschriftlich kommunizierenden Menschen. Es zeigt sich aber am Beispiel schriftstellerischer Produktion, dass das Schreiben, ungeachtet seiner technischen Prämissen und seines Status als »lustvolle Tätigkeit«, in der Regel auf sein Ergebnis, die Schrift, abzielt und Kritik wie Analyse des Schreibprozesses deshalb immer auf dieselbe zurückgeworfen wird. Roland Barthes, Platon und Friedrich Kittler sind sich zwar nicht über den Weg gelaufen, doch ließe sich das, was diese drei publiziert hatten, auch als Dialog darstellen und zwar in einem Medium, das man mit einem Sammelbegriff Schrift nennt und das so unterschiedliche Formen annehmen kann wie eine gekerbte Steintafel, mit Pinselstrich auf Papier gemalte Zeichen, ein Druckwerk (wie das vorliegende) oder eben die Textdatei, die auf einem Server und noch an zig anderen Stellen »liegt«. (Den Begriff muss man aus der Welt des Analogen entlehnen, wie das auch bei »Desktop« oder »Mailbox« praktiziert wird, um eine Illusion von Haptik herstellen zu können.) Schriften beziehen sich aufeinander, die Reihenfolge ihrer Entstehung muss dabei keine Rolle spielen, Texte ergeben bisweilen auch in vertauschten Folgen eine Narration. Schrift selbst ist dagegen strikt linear-chronologisch organisiert. ELMAR LENHART ist seit 2011 Senior Scientist am Robert-Musil-Institut der Universität Klagenfurt und betreut daselbst das Kärntner Literaturarchiv. Schwerpunkte seiner Überlegungen sind derzeit Schreibprozessforschung und Literaturvermittlung. E-Mail: elmar.lenhart@aau.at Der Raum ist hier nicht gegeben, eine Geschichte der Schriftkritik auch nur zu skizzieren. Das wird sich in zahlreichen Auslassungen bemerkbar machen und einer geografisch-historischen Eingrenzung, die man leicht auch als Eurozentrismus lesen kann. Der Übersicht und der Einfachheit halber folgt der Text der üblichen zeitlichen und technologiegeschichtlichen Chronologie. Auch deshalb beginnt er bei Platon und seiner grundlegenden Kritik am Medium Schrift, deren Nachteile er gegen die Oralität, vor allem aber das menschliche Gedächtnis als Wissensspeicher und -generator abwägt. Schrift ist vorerst nur einmal Handschrift, eine weitere Zäsur stellt der Buchdruck dar, folgenreicher scheint aber das später folgende maschinelle Schreiben zu sein, eine Ära, die einschneidende Veränderungen in der Beziehung zwischen Schrift und Schreibprozess mit sich brachte. Der Druck ist ein Medium der Schrift, nicht aber des Schreibens, denn mit der gutenbergschen Revolution gehen Schrift und Schreiben endgültig getrennte Wege. Letzteres findet im literarischen Schreiben seinen qualitativ stärksten Ausdruck und gibt den Forschenden Anlass, den Schreibprozess an anschaulichen Beispielen zu rekonstruieren. Das mag verschiedene historische Gründe haben, zu den vermutlich wirksamsten zählen die veränderten Arbeitsbedingungen der Berufsschreibenden. Eine Geschichte der Schrift ist wahrscheinlich eine Geschichte der Instrumente, der Materialien und der Technologien, eine Geschichte des Schreibens ist dagegen eine Geschichte der Beziehung der menschlichen Hand zu Schreibinstrumenten. Die Schrift [sic]1 [ist] historisch gesehen, eine dauerhaft widersprüchliche Aktivität […], mit einem doppelten Postulat verbunden: einerseits ist sie streng merkantiles Objekt, ein Instrument von Macht und Segregation, erstarrt im gröbsten Realen der Gesellschaften; und andererseits ist sie Praxis des Genusses, mit den triebgebundenen Tiefenschichten des Körpers und den subtilsten und gelungensten Produktionen der Kunst liiert. (Barthes 2006, S. 9–11) 1. Handschrift
Die Kultur der Druiden Galliens und Britanniens existierte zwischen dem vierten Jahrhundert vor und dem zweiten Jahrhundert nach Christus und ist den LeserInnen der französischen Comicserie Asterix seit 1959 vertraut. Dort ist ein recht detailliertes Bild des Druiden-Ordens gezeichnet. Die bekannten zeitgenössischen Quellen stammen aber nicht von den Druiden selbst, sondern von ihren politischen Gegnern: römischen Feldherrn und Geschichtsschreibern, die bemüht waren, der oralen Kultur der Druiden, und Erstere auch den Druiden als Datenträger selbst, ein Ende zu bereiten (vgl. Bragg 2012). Ihre Bräuche sind in zahlreichen Textstellen von römischen und griechischen Autoren festgehalten. Julius Caesar konnte vermutlich als einziger der Überlieferer noch unmittelbare Erfahrungen sammeln, seine politischen Strategien ließen eine objektive Darstellung freilich nicht zu. Band 36 von Asterix setzt sich sehr ausführlich mit diesem Problem auseinander (vgl. Ferri/Conrad 2015, S. 18): Die unbeugsamen Gallier wehren sich gegen ihre Diffamierung und sie tun dies intradiegetisch mit Hilfe einer Aufzeichnungstechnik, die sie »das Mund-zu-Ohr« nennen und extradiegetisch über das Medium Comic. Diese sequentielle Kunstform, die mündliche Sprache in einem Schrift-Bild-Hybrid wiedergibt, verhandelt das Thema als Wettbewerb der Aufschreibesysteme: Unzuverlässig ist der Prozess des Kopierverfahrens durch Caesars Berufsschreiber, während es der gallische Druide – so fragil sein Gedächtnis auch scheinen mag – bewerkstelligt, die Nachricht dauerhaft zu speichern und zu übermitteln. Die entscheidende Schwäche der römischen Strategie ist übrigens die Verwendung von Codes: Schriftstücke werden vertauscht, Satzfragmente falsch zusammengesetzt, ein dauerndes Problem des Mediums Schrift: Nur bei intakter Linearität kann Sinn erhalten bleiben. Dass der Druide Miraculix (im franz. Original Panoramix) nur teilweise dem Bild der schriftlichen Überlieferung entspricht, liegt an der diskursiven Struktur des Mediums. »Der Autor schreibt sich in ein zweifach zu denkendes Kontinuum ein: wörtlich in das vor ihm liegende Material, die Tontafel, das Pergament oder das Table und zugleich in den Diskursraum, der immateriell, als sublimes diachrones Zusammenspiel von Skriptoren und Lektoren über viele Jahrhunderte hinweg funktioniert.« (Büttner u. a. 2015, S. 10) Schrift bildet einen Ereignisraum, der eine räumliche, aber keine zeitliche Dimension hat. Das ist es, was der Asterix-Band auch für die orale Kultur beweisen will, wenn in den letzten Panels, dem Postskriptum, der aktuelle Vertreter des druidischen Netzwerks den Autoren die vorliegende Geschichte erzählt (Ferri/Conrad 2015, S. 48). Es wird suggeriert, dass die orale Erinnerungskultur ihre zeitgemäße Ausprägung im Comic finde. Ohne die Wahrnehmung dieses Ereignisraums, wenn Schrift bloß als singuläres materielles Phänomen betrachtet würde, verhält sich Schriftlichkeit zur Mündlichkeit, wie Platon es im Dialog Phaidros beschreibt. In diesem, wie man betonen muss, genuin schriftlichen Text, begegnen die Gesprächspartner Sokrates und Phaidros der Verwendung der Schrift mit Skepsis, denn nicht »für das Gedächtnis, sondern für die Erinnerung« sei die Schrift erfunden und Missverständnisse und Widersprüche seien vorprogrammiert (Platon 1995, S. 177). Wo der Redner gleichsam mit seinem Körper für seinen Vortrag einstehen müsse, werde die Rede, und das ist hier die philosophische Sprache, lebendig und interaktiv. Wie ein Bild wiederhole dagegen der schriftliche Text in der Relektüre das Einzige, was in ihm Gestalt geworden sei. Die Schrift ist das Schattenbild der »lebenden und beseelten Rede des wahrhaft Wissenden« (ebd.). Sie ist dort gut aufgehoben, wo sie als Werkzeug der Erinnerung dient, wo sie dagegen eine Rede formuliert, müsse sie defizitär bleiben. Die Schrift, das ist die Hand, also der Körper: seine Triebe, seine Kontrollen, seine Rhythmen, seine Gewichte, sein Gleiten, seine Komplikationen, seine Ausflüchte, kurz, nicht die Seele (ungeachtet der Graphologie), sondern das mit seinem Begehren und seinem Unbewußten befrachtete Subjekt. (Barthes 2002, S. 214) Schrift verweist auf das Vergangene, den historischen Zeitpunkt ihrer Realisation. Der Schriftbegriff bezieht sich auf ein semiotisches System, dessen Rahmung durch Operativität, Referenz und aisthetische Präsenz festgelegt ist (Grube/Kogge 2005, S. 12). Die Schrift selbst ist ein Gegenstand, der mit detailliert beschreibbaren Werkzeugen hergestellt wird. Eine Geschichte der Schreibwerkzeuge, wie sie Roland Barthes anstelle der Geschichte der Stile und der Techniken vorschlägt (vgl. Barthes 2006, S. 81), wäre auch eine Geschichte der Schrift und sie wäre von immensem Umfang, denn es gibt viele Weisen, wie eine Oberfläche von einem Werkzeug so manipuliert werden kann, dass die darauf entstehenden Formen als Zeichen erscheinen. Deutet die Tatsache, dass dem materiellen Anteil an der sprachlichen Kommunikation von der kulturwissenschaftlichen Forschung eine geringere Bedeutung zugesprochen wurde, darauf hin, dass es sich bei Schriftzeugnissen um unproblematische, banale Gegenstände handelt? Möglicherweise ist es so und möglicherweise war deshalb die Semantik, der Diskurs, das Unsichtbare hinter dem...