Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-552-05993-1
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Arthur, 22, still und intelligent, hat 26 Monate im Gefängnis verbracht. Endlich wieder in Freiheit stellt er fest, dass er so leicht keine neue Chance bekommt. Ohne die passenden Papiere und Zeugnisse lässt man ihn nicht zurück ins richtige Leben. Gemeinsam mit seinem unkonventionellen Therapeuten Börd und seiner glamourösen Ersatzmutter Grazetta schmiedet er deshalb einen ausgefuchsten Plan. Eine kleine Lüge, die die große Freiheit bringen könnte ... Humorvoll und empathisch erzählt Bachmann-Preisträgerin Birgit Birnbacher davon, wie einer wie Arthur überhaupt im Gefängnis landen kann, und geht der großen Frage nach, was ein „nützliches“ Leben ausmacht.
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Hallein, Mai 1988 Er heißt Arthur, aber nicht einmal das stimmt ganz. Jedenfalls: Jetzt wird er geboren. Das rosa Leben in den Händen von Marianne und Ramon, blutverschmiert, blaugeprellt, ein beim Brüllen zitterndes Gaumenzäpfchen. Marianne riecht an ihrem Sohn und denkt: Wenn so das Menscheninnerste riecht, dann kann nicht alles verloren sein. Was nicht so oft vorkommt: Wie einig sich Marianne und Ramon sind, zum Beispiel wenn sie sagen: »Das Schönste, was es gibt.« Dass selbst Ramon ganz still ist, selbstvergessen, wie er da in diesem Stuhl hängt und kurz nicht mit sich selbst beschäftigt ist, sondern das Bündel Säugling in seinen Armen anschaut, seinen zweitgeborenen Sohn. Später einmal wird Marianne sagen: Die Kinder werden so schnell erwachsen — irgendwann verschwinden sie in ihrem Zimmer und kommen zwei Kopf größer wieder heraus. Schon mit Arthurs Geburt hat sie die ersten Jahre mit seinem Bruder Klaus wieder vergessen. Das Wort Schreikind gab es damals noch nicht, und Marianne hatte keinen Vergleich. Klaus schrie einfach, er schrie die ganze Zeit, niemals schien er richtig satt zu werden, Schlaf brauchte er kaum. Manchmal schrie und döste er zugleich, und Marianne gewöhnte sich an, zu schlafen, wenn er das tat. Ein zweites Kind war keine Entscheidung für Marianne, es ist passiert. Und dann kommt Arthur und braucht so wenig. Schaut herum, schaut das Mobile mit den blauen Heißluftballons an, schaut ihnen nach, bewegt die Augen hin und her, verzieht den Mund zu einem Lächeln. Marianne fasst es nicht. Das ist ein ganz anderes Kind, sie merkt sofort: Dieser Mensch genügt sich selbst. An diesem 29. Mai 1988, als Arthur noch nicht einmal einen Namen hat, sagt sie: »Genau so habe ich ihn mir vorgestellt«, und produziert ein Glücksgefühl. Es ist wahr, Glück ist für Marianne eine Produktionsleistung, etwas, über das sie von Natur aus, so sagt sie, nicht verfügt. Aber Marianne ist fleißig und lernt schnell. Was das Glück anbelangt, haben sich die Zeiten zu Mariannes Ungunsten geändert. Als Marianne Kind war, erzog man seinen Nachwuchs nicht unter der Prämisse, dieser solle glücklich sein. Von ihr hatte niemand gewollt, was sie später von ihren Söhnen verlangte: Sei glücklich! Klaus musste ganze sechs Jahre alt werden, um zum ersten Mal glücklich zu sein, wegen einer Schultüte voller Smarties. Und Arthur? Kam einfach glücklich zur Welt. Ein Kind seiner Zeit. Wusste, bevor er denken konnte, was man von ihm erwartet. Genau so hat sie sich das alles vorgestellt. Nur ohne die Streitereien um den Namen. Mario, sagt sie mit einer hingehauchten Zärtlichkeit, sie versucht ein Lachen, das ihr nicht mehr so ganz gelingen mag. Marianne erwartet wirklich nicht mehr viel von Ramon, aber dass er ihren Wunsch respektiert, das schon. Immerhin hat sie das Kind zur Welt gebracht. Alles andere regt sie nicht auf, alles andere schiebt sie erst einmal beiseite. Heute wird er ihr mit so etwas nicht kommen. Morgen auch nicht. Sie wird ihm das nicht abnehmen, nichts wird sie aussprechen für ihn. Dabei weiß sie es doch längst: Das steuert auf was zu. Nur Ramon glaubt noch, sie weiß nichts. Wirklich nur er. An diesem Tag denkt Marianne nicht daran, was werden wird, sie denkt nur: Mario. Was für ein zärtlicher Schwung in diesem Namen liegt, eine Liebe, ohne Liebe in der Stimme kann sie diesen Namen gar nicht aussprechen. Und Feuer! Alles scheint er zu erfüllen, während ein Arthur ihr gar nichts sagt. Oder schlimmer: Wenn er ihr etwas sagte, dann Gladiator, und das möchte sie nun wirklich nicht. »Mario!«, ruft Ramon mit gespieltem Schock und tut so, als würde Marianne tatsächlich etwas zu sagen haben. »Mario, Maria, ein Mann mit dem Namen seiner Mutter, ein armer Hund!« Er, der Offizier Ramon Galleij, wolle einen S-O-H-N. Er buchstabiert. »Eine Aussage! Hier kommt … Tätääm!!!! Ein Mann muss heißen wie ein Mann. Ein Name muss was sagen, gestern wie heute. Heute heißen sie alle Anton und Franz und …« »Klaus …« Jetzt schweigt er. Klaus sitzt da und schaut selig von einem zum andern. Marianne streicht ihm, dem einzig Vernünftigen, über den Kopf. Als Baby war er so anspruchsvoll, und jetzt gibt er alles zurück. Dass Ramon Galleij am Wochenbett seiner Frau steht, dieses duftende Bündel Kind hält und zugleich an den Schoß seiner Affäre denkt. Marianne würde das nicht überraschen. Wenn Ramon gehen will, soll er es sagen. Wer ist sie, dass sie ihm das abnimmt? Sie ist müde und muss schlafen, wenn das Kind schläft. Jetzt schläft es, und er referiert über Namen und Männlichkeit, bis ihr beharrliches Schweigen ihn endlich zum Verstummen bringt. Typisch sie, denkt Ramon, steht breitbeinig da, schaut aus dem großen Doppelfenster hinaus in den frühmorgendlichen Park. Er hat ganz vergessen, wie leicht Babys sind und wie klein. Er muss aufpassen, dass er nicht zu fest drückt. Kalt lässt ihn das alles nicht. Er denkt: Um eine Entscheidung geht es ja längst nicht mehr. Familie, ja oder nein. Dieser Zug ist längst abgefahren. Und wann ist schon jemals der richtige Zeitpunkt? Einen richtigen Zeitpunkt gibt es nicht, zwei Kinder hin oder her. Wie schön dieser Junge ist. Marianne schläft jetzt, mit geöffnetem Mund schnarcht sie im Sitzen. Klaus ist ganz still, wendet den Blick nicht ab vom Gesicht des kleinen Bruders. Lächelt selig. Ist doch alles gut, denkt Ramon. Und dass sie eine starke Mutter haben. Selbst jetzt, während sie daliegt, verwundet und den Schrecken der Geburt noch im Gesicht, aber trotzdem mit aufgekrempelten Ärmeln, sodass man ihre kräftigen Arme sieht. Die Besuchszeit geht bis Mittag, dann wird er Klaus bei Mariannes Mutter absetzen und zu Jean fahren. Sie ist ohnehin so eifersüchtig wegen dieser ganzen Sache mit der Geburt. Aber er wird sie schon milde stimmen, Jean wird es so machen, wie er sagt, sie macht es immer so, wie er es sagt, und wenn er sie anschreit, macht sie es nur noch hektischer. Das ließe Marianne sich nicht bieten, niemals. Aber Marianne so zu sehen, so blass und mit einem Gesicht von zwei Tagen ohne Schlaf, irritiert ihn. Er möchte sie eigentlich nicht länger anschauen. Es ist halb zwölf. Jetzt schreit der Kleine wieder, und die Geburtsurkunde ist immer noch nicht ausgestellt, die Zeile mit dem Namen immer noch leer. »Ein richtiger Racker!«, sagt Ramon und gibt ihn Marianne. Was in aller Welt heult sie jetzt wieder? Sie hat doch schon zweimal ein Schmerzmittel bekommen. »Die Müdigkeit«, sagt Marianne und wiegt den Buben. »Gib her!«, sagt Ramon in einem Ton, als hielte sie ihn stets von allem ab, was ihm zusteht, und nimmt das Klemmbrett mit dem Geburtsblatt vom Nachttisch. Dass Marianne Ramon tatsächlich einfach schreiben lässt, kann sie sich später gar nicht mehr vorstellen. Schon nach wenigen Wochen weiß sie nicht mehr, wie es gewesen ist, so müde zu sein. Aber sie ist müder als der Tod, und die Nähte bluten. Ramon schreibt: Arthur Galleij und macht einen Punkt danach. Wegen dieses Punktes werden sie später noch eine Änderungserklärung unterschreiben müssen, eine Schererei mehr, die ihnen seine Bestimmtheit eingebrockt hat. Auch dabei schluckt Marianne ihren Wunsch hinunter, denn da heißt der Bub ja schon seit drei Wochen Arthur, und wer ist sie, dass sie ihrem Kind seinen Namen nimmt. Für manches ist es einfach zu spät, denkt sie und unterschreibt mit zusammengepressten Lippen, dass der Punkt wegkommen soll. Aber eines bleibt: Noch lange, wenn Marianne Arthur sagt, denkt sie Mario. Und wenn sie Mario denkt, sagt sie Arthur. Irgendwann verschmelzen der wirkliche und der geheime, niemals vergessene Name in ihrem Kopf zu einem gemeinsamen. Ein Name, der beide Namen bedeutet, hart klingt und weich, zärtlich und kalt. Und solange sie den Namen ihres Sohnes noch ausspricht, hört Marianne immer diesen doppelten Klang, und als sie später verweigert, seinen Namen zu sagen, hat sie vergessen, dass es einmal eine zweite Möglichkeit gegeben hat. Ramon denkt: Ein Mann lässt vieles mit sich machen, aber irgendwann ist der Ofen aus. Dann ist zusammengeräumt, dann hält der stärkste Kerl das nicht mehr aus. Zum Beispiel diesen schweigenden Rücken in der Küche. Sie hat null Humor, absolut N-U-L-L. Worüber lacht diese Frau? Nichts nimmt sie leicht. Die Verweigerung in Person. Es ginge noch länger so weiter, aber viel denkt er sich gar nicht mehr dazu. Das muss er auch nicht, Verweigerung reicht ja selbst der Kirche schon als Grund. Das eine Mal: ein beidseitig besoffener Zwischenfall nach der Abschiedsfeier mit dem Team von Camping Grubinger. Überhaupt, dieser unsägliche...