Eine Geschichte von Frauen, Freundschaft und Abenteuer auf Island
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-25799-6
Verlag: Kailash
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tory Bilski gründete 2013 ihren preisgekrönten Blog Icelandica, auf dem sie von ihren jährlichen Reisen nach Island berichtet. Die US-Amerikanerin schreibt neben Reiseberichten auch erfolgreiche Kurzgeschichten und arbeitet an der Yale University. Sie lebt mit ihrer Familie in New Haven, Connecticut.
Weitere Infos & Material
2004 Irrfahrt Beim ersten Mal, gleich nach dem Start, Jahre vor dem Einzug technischer Raffinessen wie GPS oder iPhones, verfahren wir uns. Binnen dreißig Minuten nach unserer Abfahrt in Reykjavík finden wir uns an einer Weggabelung wieder, schmeißen unsere geballten Orientierungskünste zusammen und nehmen die falsche Abbiegung. Wir sind neun Frauen, die sich mit dem Gepäck auf dem Schoß und zu unseren Füßen in drei Reihen in einen Van gestopft haben – vier Teenager, vier Frauen mittleren Alters und Sylvie, die sich jeder Altersangabe entzieht. Die Teenager sitzen ganz hinten und haben sich mithilfe ihrer iPods ausgeklinkt. Tüten mit Käsegebäck und Schokoladenkeksen werden herumgereicht. Eve fährt, und wir übrigen Erwachsenen, Sylvie, Maggie und ich jedenfalls, sollen navigieren. Zu dem Zweck haben wir eine Karte von der Sorte, die sich schlecht zusammenfalten lässt und die es in Tankstellen und Touristeninformationen zu kaufen gibt. Unsere Zeigefinger fahren pflichtschuldig, wenn auch falsch, den Weg entlang. Wir wechseln uns alle paar Minuten ab und unterbrechen hin und wieder unsere Gespräche, um so zu tun, als würden wir uns tatsächlich für die Richtungsangaben interessieren. Dann sagen wir etwas so Hilfreiches wie: »Wir sollten eigentlich jeden Moment in Smörgåsbordafjordur ankommen.« Nach dieser Ankündigung knüllen wir die Karte wieder zusammen und reichen sie weiter, als wollten wir sagen: »Aufgabe erledigt, reich mir mal die Butterkekse.« Am meisten redet Sylvie. Ihr Gesprächsstoff reicht von ihrer Begeisterung über ihren neuen Yogalehrer, Rodney Yee (Eve stimmt ihr bei, »Er ist ein Gott«), über Pema Chödrön (Eve wieder: »Eine Göttin«) bis hin zu Sartre (hier herrscht dann Schweigen) und Shakespeare, meinem einzigen Zugang zu diesem Gespräch. Bei Titania, Jago und König Lear kann ich mitreden. Sylvie quietscht und drückt von hinten gegen Eves Sitz. »Siehst du, deshalb habe ich sie eingeladen, ich brauche eine Literaturfreundin!« Eve ist eher ihre spirituelle Freundin, nehme ich an. Ich kenne diese beiden Frauen, die die Reise organisiert haben, kaum. Die anderen Frauen und die Mädchen kenne ich gar nicht. Wir fahren zu Helgas Hof, eine Person und ein Ort, die ich ebenfalls nicht kenne. Aber ich bin an einem Ort, den ich liebe: Island. Sie lieben, was ich liebe: Islandpferde. Sylvie ist die Verbindung zu Helga: »Wir haben uns angefreundet, als wir zusammen nach Saratoga gefahren sind, um uns ein Pferd anzuschauen. Wir fuhren stundenlang herum und verirrten uns im Dunkeln und konnten den Stall nicht finden. Dabei haben wir uns angefreundet.« Sylvie ist besitzergreifend und gibt mit ihrer Freundschaft zu Helga an. »Sie hat mich eingeladen und gesagt, ich könnte auch andere einladen. Wir sind die Einzigen, für die sie das macht. Normalerweise öffnet sie ihr Gästehaus nicht für Leute, die sie nicht kennt. Sie macht das für mich und die, die ich ihr vorschlage.« Vor dieser Reise hatte ich Sylvie ein paarmal und Eve vielleicht zweimal auf ihrem Hof in den Berkshires getroffen. Das ist der einzige Islandpferdehof, der für mich halbwegs erreichbar ist. Die Fahrt dorthin dauert eindreiviertel Stunden; das schaffte ich hin und zurück an einem Tag. Von Eves Stallverwalter erfuhr ich von ihrer Reise nach Island. Dann schrieb ich Sylvie eine langatmige E-Mail, um zu fragen, ob sie noch einen Platz für mich hätte. Sie schrieb zurück: »Van ziemlich voll. Platz über Radkasten/Heizung frei.« Das verstand ich als Ja. Bald lernte ich, dass Sylvie, die sich mündlich sehr wortgewandt ausdrückt, sich schriftlich kurzfasst und ihre abgekürzten Mitteilungen allerlei Interpretationsspielraum lassen. Ich war also die Letzte, die dazustieß. Eigentlich gehöre ich gar nicht dazu, bin vielleicht gerade mal eine Stufe höher als eine Anhalterin. Wie versprochen, bin ich auf dem Radkasten gelandet, mein Kopf stößt immer wieder gegen den Dachhimmel. In jeden verfügbaren Zwischenraum sind Reisetaschen und Taschenbücher gestopft. Mein Sitz ist tatsächlich so etwas wie der heiße Stuhl – im Juni braucht man in Island manchmal noch die Heizung, und die warme Luft strömt aus der Seitentür neben mir. Eve bremst, um ein Straßenschild besser lesen zu können. »Findet jemand diese Stadt auf der Karte?« Maggie hat die Karte und studiert mit zusammengekniffenen Augen das Schild, nicht die Karte. »Ich glaube schon.« Die Antwort stellt uns soweit zufrieden, und wir fahren weiter. Eve wirft im Rückspiegel einen Blick auf die Teenager und versucht sie miteinzubeziehen. »Sollen wir Earl hören?« »Ja, Earl«, sagt Maggie, »mach Earl an.« Sie hat bisher kaum gesprochen, außer um mit absoluter Sicherheit zu sagen, dass wir an einer Kreuzung, die sich noch als wichtig herausstellen wird, rechts fahren sollten anstatt links. »Sollen wir Earl hören?«, wiederholt Eve Unterstützung und Enthusiasmus heischend. »Earl«, fordert Sylvie. Eine der Jugendlichen pult ihre Stöpsel aus den Ohren und wühlt in ihrer Tasche nach einer CD. Ich habe keine Ahnung, wer oder was Earl ist, aber kurz darauf dröhnt es aus den Lautsprechern vorne. Ich kenne das Lied nicht, verstehe auch nicht alles, aber den Grundgedanken bekomme ich mit. Goodbye Earl, Earl muss sterben. Das Rachelied einer Frau. Beim Refrain singt Eve mit. Earl ist tot. Ich lehne mich zurück und entspanne mich. Diese Frauen und Mädchen sind in Ordnung. Außerdem ist da wohl jemand wütend auf seinen Ehemann. Nach ein paar mehr Liedern von den Dixie Chicks höre ich, wie Eve vor sich hinmurmelt. »Mmm, irgendwann sollten wir eigentlich durch einen Tunnel fahren.« Die Landschaft hat sich nur minimal verändert: Jetzt stehen nicht mehr nur ein paar Pferde auf der Wiese – bei deren Anblick Sylvie jedes Mal »Pferdchen!« ruft – sondern Hunderte, Herden aus fruchtbaren Stuten und schlaksigen Fohlen. »Babys!« Es ist der Traum eines jeden Pferdeliebhabers. Pferde, so weit das Auge reicht, auf isländischem Grün, so weit das Auge reicht. Wir geben die Karte auf und schnappen unsere Kameras, halten sie planlos aus dem Fenster und knipsen drauflos. Die Erwachsenen im Auto fallen beim Anblick dieser Pferde wieder in ihre Kindheit zurück, die Teenager weniger. Ich bin 46, und Sylvie geht auf die 66 zu; Maggie ist Eves nur wenig ältere Schwester, und Eve ist, schätze ich, knapp über 50. Bis heute kenne ich Eves wahres Alter nicht. Wenn die Sprache darauf kommt, lenkt sie ab. Ich kenne viele solcher Frauen. Sie wollen nicht aufgrund ihres Alters kategorisiert werden, und das ist auch okay. Wenn wir jetzt in einer Zeit des Genderfluid leben, können wir meiner Meinung nach auch unser Alter unterschiedlich flexibel definieren. Wir können es als Spektrum betrachten, und wir können uns in unserem Lebensalter hin und her bewegen, wie wir wollen. Wenn das infrage gestellt wird, können wir sagen: Warum sollte man bei der Biologie des Alters so dogmatisch sein? Wie wir da aus dem Fenster hängen und all die Pferde rufen und locken, sind wir wieder zehn Jahre alt. Eve gibt ihr Bestes, um uns ans Ziel zu bringen. Sie fährt vor einem Straßenschild rechts ran, schaut sich den Stadtnamen an und fragt: »Sieht das nach irgendwas aus, das auf der Karte steht?« Auf dem Rücksitz stecken Sylvie und ich die Köpfe zusammen und tun so, als würden wir wieder die Karte studieren. »Mmm, irgendwie schon.« Sylvie gibt auf und hält die Karte hoch. »Wer kann gut Karten lesen?« Maggie und ich melden uns nicht freiwillig. Sylvie wedelt mit der Karte vor meiner Nase herum. »Hier, navigier du mal.« Wenig überzeugt nehme ich die Karte, bin aber in Gedanken immer noch draußen in der Graslandschaft bei den Pferden, die frei über alle Hügel und Täler rennen. Ein Fest für die Augen. Ich weiß nicht, ob ich mich an Szenen aus meiner Kindheit erinnere oder ob es mein paläo-genetisches Gedächtnis ist, aber nichts senkt meinen Blutdruck so wirkungsvoll, nichts stimuliert meinen Hippocampus und steckt meine Dopamin-Rezeptoren in Brand wie der Anblick von Pferden. Schlagartig empfinde ich Frieden, Ruhe und, völlig unpassend, Aufregung. Die Karte flattert schlapp in meinen Händen, während Eve weiterfährt. Sylvie plaudert über ihren Ehemann, der nicht mit ihr umgezogen ist und immer noch in Connecticut wohnt: »Ganz ehrlich, ein Langweiler, er verhält sich wie ein alter Mann. Er will überhaupt nichts machen.« Eve bremst ab, bis wir beinahe stehen. »Leute, wir sind jetzt schon seit Meilen auf einer Schotterstraße. Hier ist weit und breit keine Landstraße in Sicht.« Das alarmiert Sylvie, die mit dem für sie typischen übertriebenen Einatmen dramatisch erklärt: »Wir haben uns verfahren. Fahr ran.« Sie schlägt sich die Hände vors Gesicht. Zu diesem frühen Zeitpunkt unserer Reisen kannte ich Sylvies Ängste noch nicht, aber ich erkenne, wenn jemand Angst davor hat, sich zu verirren. Mein Mann hat diese Angst auch. Es gibt keine schmerzlindernden Worte, um so jemanden zu beruhigen. Eve fährt bei einem Schotterparkplatz rechts ran, und unter uns liegt die Wasserfläche eines hypnotisch blauen Fjords. Seine Farbe ist nicht nur einfach Blau, sondern...