Roman
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-8412-0635-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martina Bick, 1956 in Bremen geboren, studierte Historische Musikwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Gender Studies und arbeitet an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Sie schrieb zahlreiche Kriminalromane und Romane sowie Kurzgeschichten und Gedichte für Anthologien und den Rundfunk.
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Advent
Es schien gar nicht richtig hell zu werden an diesem 19. Dezember, einem Montag, dem letzten vor dem Weihnachtsfest. Die Autos fuhren mit eingeschalteten Scheinwerfern und tauchten trotzdem erst spät aus dem Dunst auf, der über Autobahnen und Landstraßen hing. Emina ließ den Scheibenwischer ihres Smart laufen, um den feinen Wasserfilm von der Scheibe zu fegen, den die Nebelschleier hinterließen. Im Radio spielten sie ab heute nur noch Adventsund Weihnachtslieder. Die schönste Zeit des Jahres, betonte der Moderator. Dabei war es für die meisten Mitmenschen vor allem die anstrengendste und hektischste Zeit. Emina hatte bisher keinen Weihnachtsstress gekannt. Sie musste keine Familienfeier ausrichten und auch schon lange nirgendwo mehr erscheinen. Ihre Mutter flog seit Jahren über die Feiertage nach Gran Canaria, wo sie inzwischen ganz lebte. Früher war Emina mitgefahren, aber sie hatte diese seltsame Sommerwoche mitten im Winter nie gemocht. Sie liebte die heimatliche Weihnachtsstimmung, die mit Kerzen und Tannen geschmückten Räume, die guten Düfte, welche die grünen Nadeln, das Weihnachtsgebäck, Punsch und Glühwein verströmten, und die glänzenden Augen von Klein und Groß, in denen sich die Lichter des Weihnachtsschmucks spiegelten. Sie mochte auch die schönen alten Lieder, die sich alle Jahre wieder in ihr Herz schlichen, obwohl ihre musikalischen Interessen sonst ganz anders gelagert waren. Leise summte sie eine ziemlich kitschige Fassung von »Macht hoch die Tür, die Tor macht weit« mit und ließ die feierliche Stimmung, in der so viel Vorfreude und Erwartung mitschwangen, in sich hineinströmen. Wenn nur die frühe Dunkelheit und die andauernde Kälte ihr nicht so zusetzen würden. Hatte sie auch noch so viele Schichten warmer Pullover und dicker Strümpfe übereinander gezogen, fror sie doch immer den ganzen Winter über und hatte ständig kalte Hände und Füße. Sie ließ mit Volldampf die Motorwärme ins Wageninnere blasen. Ohne die Erfindung dieses bunten fröhlichen Fests mitten in der finstersten Zeit des Jahres wären die nördlichen Regionen für die meisten Menschen vermutlich immer unbewohnbar geblieben. Dabei war es gerade heute ein bisschen wärmer geworden, und natürlich hatte es gleich angefangen zu nieseln. Würde die Temperatur wieder unter null fallen, würde die feine Feuchtigkeit überall gefrieren und die Straßen in gefährliche Rutschbahnen verwandeln. Bis dahin sollte sie ihre kleine Reise erledigt haben und wieder zu Hause in Hamburg sein. Kurz hinter Lüneburg verließ sie die Autobahn und bog auf eine schmale, wenig befahrene Landstraße ab. Keine schaukelnden Lkw mehr, die meinten, kleine Autos spielend überholen zu können. Keine drängelnden Raser hinter ihr, wenn sie es einmal wagte, auf die Überholspur einzuscheren. Sie streckte sich hinter dem Steuer, drehte das Radio lauter und versuchte, eine zweite Stimme zu »In dulci jubilo« zu finden, die sich hübsch zu dem Gesang des Tölzer Knabenchors anhörte. Die Wiesen längs des Flusses verschwanden im Nebel. Wie karg und streng diese Landschaft sich heute darstellte, die im Frühjahr so bunt und leuchtend gewesen war. Knorrig streckte sich das Geäst schwarzer, kahler Bäume in den Himmel. Weich verloren sich die Wiesen hinter den Deichen. Das Flussbett konnte man von der Straße aus nicht sehen, aber man ahnte den breiten Strom, weil der Himmel darüber irgendwie weiter zu sein schien. Immer öfter kamen ihr Trecker entgegen, die Anhänger hochbeladen mit Kartoffeln oder Rüben. Vor einem Kreisverkehr warf sie schnell einen Blick auf die Karte. Lechnow war die nächste Ortschaft. Die Kirche von Lechnow war ein massives, kleines Backsteingebäude mit einem dicken, nicht sehr hohen Glockenturm. Die Wetterseite des Gebäudes war ganz mit Efeu überwachsen. Ein alter Friedhof umgab die Kirche. Seine Mauer war zerfallen. Auch die meisten Grabsteine waren verwittert und die Grabstätten vermutlich schon vor langer Zeit aufgelöst worden. Emina fuhr über den mit Kopfsteinen gepflasterten Dorfplatz und stellte den Wagen vor einem ehemaligen Kaufladen ab. Die Ladenreklame hing noch am Haus, das Schaufenster aber war mit vergilbten Gardinen verhangen. Es gab keine aufgezeichneten Parkplätze. Hier hatten zu Ostern die Kirmesbuden gestanden, das kleine Karussell mit den holzgeschnitzten Pferden und der jauligen Leierkastenmusik, die Schießbude und der Stand mit den gebrannten Mandeln und leckerem türkischen Honig. Und schließlich das Bierzelt, in dem sie bis spät am Abend gesessen und gefeiert hatten. Wo sie ihn kennengelernt hatte, noch später am Abend. Christoph und sie. Oder hatte er Christian geheißen? Emina öffnete die Autotür und stemmte sich aus dem Wagen. Fast passte sie mit ihrem Bauch nicht mehr hinter das Steuerrad. Sie knöpfte den schwarzen Wollmantel zu, den Anett ihr geliehen hatte. Anett war Jaspers Schwester, sie hatte schon drei Kinder und mehr Schwangerschaftsklamotten als normale Kleider. Aber sie hatte auch dann nicht mehr ihre normale Kleidergröße, wenn sie mal nicht schwanger war. »Ein bisschen bleibt von jedem Kind an einem hängen«, hatte sie gern lachend gesagt und sich stolz über den Bauch gestrichen. Emina hatte sich geschworen, dass sie kein solches Dauerpolster davontragen würde von ihrem Kind. Sie war auch nicht besonders stolz auf ihren Bauch – ein Kind bekommen konnte doch nun wirklich jede. Das stimmte natürlich nicht ganz, gab es heutzutage doch unzählige Frauen mit »unerfülltem Kinderwunsch«. Sie hatte darüber jede Menge im Wartezimmer ihrer Frauenärztin erfahren. Trotzdem schien ihr ihre Schwangerschaft bis jetzt keine besondere Leistung zu sein. Man musste sie ja im wahrsten Sinne des Wortes nur er-tragen. Die Leistung kam dann später, wenn das Kind da war. Aber daran wollte sie jetzt noch nicht denken. Auch nicht an die Geburt. Je näher sie kam – und sie kam rasant näher, besonders seitdem sie in der Mutterschutzfrist angekommen war und offiziell nicht mal mehr in ihrem Schneideratelier arbeiten durfte –, desto mehr verdrängte sie den Gedanken daran. Eins nach dem anderen. Jetzt galt es erst mal, Christoph zu finden. Oder Christian. Sie ging ein paar Schritte über den Dorfplatz. Die Luft war feucht und schwer, aber sie roch würzig und frisch, fast so wie damals im Frühjahr. Ein wunderbar leichtes Lüftchen, gereinigt von Wald und Flur, aufgefrischt vom großen Strom, gesättigt mit den Düften frühblühender Pflanzen und Bäume – so roch es jedenfalls in ihrer Erinnerung. Genau die richtige Luft, um sich an einem ersten lauen Frühlingsabend spontan zu verlieben. War sie eigentlich verliebt gewesen? Doch, gleich auf den ersten Blick. Und lange genug für das, was folgte. Emina schob die Hände in die Manteltaschen und ging über den Friedhof zur Kirche. Die große Holztür war verschlossen. Schade. Sie lauschte einen Moment – niemand spielte auf der Orgel. Nur Gänse oder Enten flogen schnatternd über sie hinweg. Sie formierten sich in regelmäßigen Mustern am niedrigen Himmel. Irgendwo bellte ein Hund. Sonst war es still. Auf der anderen Seite des Dorfplatzes, der Kirche gegenüber, befand sich das Gemeindehaus. Das Gemeindebüro war nur vormittags besetzt, las Emina. Jetzt war es schon weit nach Mittag. Im Schaukasten hing ein Zettel mit Terminplan, wann in welcher Kirche des Landkreises am Sonntag Gottesdienste stattfanden. In St. Laurentius in Lechnow würde am Heiligen Abend um 16 Uhr ein Weihnachtsgottesdienst mit Krippenspiel abgehalten werden. Der Altenkreis, den Diakon Schmidt leitete, fiel in der Woche zwischen den Feiertagen aus. Der Neujahrsgottesdienst würde in der Kirche St. Pankratius in Groß Löwen stattfinden. Emina hatte keine Ahnung, wo das war. Für den Schneedienst war die Küsterin, Frau Griese, zuständig. Emina schaute über den Dorfplatz, der so ausgestorben vor ihr lag, als wären alle Bewohner des Ortes ausgewandert. Sie hatte Hunger, und sie war müde. Sie war dauernd müde und hatte Hunger. Carola hatte sich schon über sie lustig gemacht, weil sie jetzt immer mit Butterbrotpaketen und Plastikdosen voll Obst- und Gemüseschnitzen zur Arbeit kam. Carola war Kostümschneiderin, genau wie Emina, sie hatten in derselben Werkstatt gelernt und teilten sich nun ein Atelier. Seit Emina schwanger war, hatte sie nicht viel mehr gegessen als früher, aber sie musste wesentlich öfter etwas essen. Besonders in letzter Zeit. Das war auch ganz in Ordnung, hatte ihre Ärztin ihr erklärt. In den letzten Wochen der Schwangerschaft verdoppelte das Kind sein Gewicht. Vor drei Wochen hatte es ungefähr vier Pfund gewogen, jetzt waren es vermutlich schon sechs, und bei der Geburt würde dann vielleicht ein satter Sieben- oder Achtpfünder herauskommen. Emina lächelte bei dem Gedanken an das dralle Baby, legte die rechte Hand an ihre Seite, dorthin, wo meistens seine kleinen Tritte und Knüffe landeten. Sie wandte sich nach rechts, wo das Gasthaus »Zum Goldenen Anker« in der abknickenden Vorfahrtstraße einen Mittagstisch anbot. Das Gasthausschild war erleuchtet. Emina stemmte die schwere Eichentür auf und prallte zurück vor der dicken Luft in der dunklen, überhitzten Wirtsstube. Obwohl die Kneipe rauchfrei war, schienen die drei Männer, die um einen Holztisch herum saßen und Karten spielten, von dichtem Qualm umgeben zu sein. Aber es war nur die feuchte Wärme, die an den Scheiben kondensierte und sich in Schwaden unter der Decke sammelte. »Guten Tag«, murmelte Emina. Die Herren ließen ihre Karten nicht sinken, aber sie...