Ungekürzte Ausgabe
E-Book, Deutsch, 152 Seiten
ISBN: 978-3-7448-0821-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gabriele Beyerlein ist seit 1987 freie Schriftstellerin und hat mehr als dreißig Bücher für Kinder, für Jugendliche und für Erwachsene veröffentlicht, darunter einige Fantasygeschichten und zahlreiche in der Vergangenheit spielende Jugendromane, in denen sie eine spannende Handlung mit historischer Genauigkeit verbindet. Ihre Bücher standen wiederholt auf Nominierungslisten für Literaturpreise. Sie erhielt den Heinrich Wolgast Preis 2008 und den Gerhard Beier Preis 2010. Gabriele Beyerlein hat Psychologie studiert, promoviert und in der sozialwissenschaftlichen Forschung und Lehre gearbeitet. Nachdem sie ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckt hatte, machte sie sich als Autorin selbstständig. Sie lebt heute in Darmstadt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
Die ganze Woche habe ich es geschafft, nicht an die Flötenstunde zu denken, fast jedenfalls. Aber jetzt ist Donnerstagnachmittag und Donnerstagnachmittag muss ich in die Musikschule. Sonst macht mir das nichts aus. Obwohl ich viel lieber Schlagzeug lernen würde als Blockflöte, aber meine Eltern sagen, ein Schlagzeug ist teuer, und bevor sie mir eines anschaffen, wollen sie sehen, ob ich überhaupt ein Jahr Musikunterricht durchhalte. »Durchhalte«, wie das schon klingt! Wenn ich ein Schlagzeug hätte, würde ich jeden Tag üben, so viel ist sicher. Vielleicht bekomme ich eines zum Geburtstag. Letzte Woche hat Tim mich gesehen, als ich mit den anderen aus der Flötenstunde kam: vier Mädchen und ich. Kann ich doch nichts dafür, dass ich der einzige Junge in der Gruppe bin. Obwohl, blöd sieht das schon aus. Und als Tim dann so gegrinst hat und gesagt: »Flötenstunde, Mädchenstunde«, da habe ich geantwortet: »Hast du eine Ahnung, was ich hier für Sachen mache!« Natürlich hat er dann wissen wollen, was für Sachen, und mir ist so schnell nichts eingefallen und ich habe mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Wirst schon sehen!« Und weil mir immer noch nichts eingefallen war, habe ich bei einem Fahrrad, das vor der Musikschule stand, die Ventile rausgedreht und in den Gully geworfen. Tim hat das gut gefunden und wie verrückt gelacht. Aber der große Junge mit dem roten Drachen auf der Jacke nicht. Dem gehört nämlich das Fahrrad und der kam ausgerechnet in diesem Augenblick aus der Musikschule. Tim und ich sind weggelaufen. Aber der Junge hat uns gesehen. Was mache ich, wenn er mich wiedererkennt? Er ist mindestens drei Jahre älter als ich. Und einen ganzen Kopf größer. Und er sieht aus, als ob er Sport macht. Vielleicht sogar Judo. Oder Karate. Er hat auch Donnerstagnachmittag Musikschule. Wenn ich die Ventile wenigstens nur auf den Gehsteig geworfen hätte und nicht in den Gully! Vielleicht rufe ich die Flötenlehrerin an und sage, ich bin krank. Halsweh habe ich sowieso schon. Doch Claudia blockiert seit Stunden das Telefon. So ist das mit großen Schwestern, wenn sie verknallt sind. Ich könnte sie ja bitten, kurz aufzuhören. Aber sie soll bloß nicht denken, ich rede wieder mit ihr. Das tu ich nämlich nicht mehr. Wegen Felix, meinem Kater. Da frage ich ja noch lieber meinen Bruder, ob er zufällig Lust hat, mich zur Musikschule zu begleiten. Thorsten ist fünfzehn und noch größer als dieser Junge. Aus seinem Zimmer kommen so Geräusche: Ballern und Schießen und Kreischen. Das ist sein neuestes Computerspiel. Plötzlich schreit Thorsten: »Scheiße!« Jetzt ist er tot. Wahrscheinlich ist seine Laune da gerade nicht am allerbesten. Aber die ist sowieso nie gut, jedenfalls nicht, wenn ich etwas von ihm will. Schnell mache ich seine Tür auf. »Thorsten«, beginne ich, »würdest du vielleicht mit mir zur Musikschule gehen, da ist nämlich ... »Bist du ein Baby, oder was?«, fragt Thorsten und startet mit einem neuen Leben. Auf dem Monitor ist ein dunkler Gang. Von Thorsten, ich meine von seinem Helden, sieht man nicht mehr als den rechten Arm mit der Pistole in der Hand. »Verschwinde«, sagt Thorsten, »das Spiel hier ist nichts für Kinder.« Na ja, hätte ich mir denken können, dass Thorsten mich nicht begleitet. Claudia telefoniert immer noch. Ich nehme meine Jeansjacke und die Flötentasche und gehe los. Draußen regnet es. Ich halte mir die Tasche über den Kopf und renne. Bis zu der Ecke, von der aus man die Musikschule sieht. Hier halte ich vorsichtshalber erst mal an. Da steht er, der Junge. Genau im Eingang. An dem komme ich nicht vorbei, ohne dass er mich sieht, so viel ist sicher. Ein paar Kinder gehen aus der Schule weg in die andere Richtung. Sonst ist kein Mensch da. Wäre ich nicht so spät dran, könnte ich hier auf die Mädchen aus meiner Gruppe warten und mit ihnen reingehen. Warum ist mir das nicht eher eingefallen! Ich ziehe mich hinter die Hausecke zurück. Inzwischen regnet es nicht mehr, es schüttet. Meine Turnschuhe sind schon ganz durchweicht. Wenn der Junge auch um drei Unterricht hat, muss er doch längst reingehen. Ich schaue um die Ecke. Sehe die Jacke mit dem roten Drachen. Verdrücke mich wieder. Der Wind peitscht mir den Regen ins Gesicht. Es ist schrecklich kalt. Der Junge steht immer noch im Eingang unter dem Dach. Er wird nicht nass. Jetzt ist es schon zehn nach drei. Da kann ich sowieso nicht mehr in die Flötenstunde, die haben längst ohne mich angefangen, und geübt habe ich auch nicht. Ich muss eben nächstes Mal sagen, ich bin krank gewesen, zu krank, um anzurufen. Wenn der Junge nicht wieder auf mich wartet ... Ich drehe um und laufe zurück. Ich renne richtig, trotzdem friert mich. Vor der Haustür fällt mir ein, dass ich noch nicht ins Haus kann, falls Claudia auf die Uhr schaut und an meine Flötenstunde denkt. Vielleicht rächt sie sich ja dafür, dass ich nicht mehr mit ihr rede, und sagt Papa, dass ich nicht in der Flötenstunde war. Und Papa soll jedenfalls nichts davon erfahren. Wegen dem Durchhalten und dem Schlagzeug. Und überhaupt. Weil es ziemlich unangenehm werden kann, wenn Papa schimpft. Ich gehe an unserem Haus vorbei und biege in die nächste Straße ein. Bei Meiers sitzt wieder die schwarze Katze hinter dem Flurfenster und schaut heraus. Sehr vornehm hat sie die Vorderpfoten nebeneinander gestellt und schaut mich reglos an, wie eine Porzellankatze. Oder wie eine Göttin. Die Ägypter früher haben geglaubt, die Katzen seien heilig, es gab sogar eine Göttin in Katzengestalt, Bastet hieß die, ich kenne mich aus mit den Ägyptern, ich habe mal ein Buch gelesen über die Pyramiden und die Pharaonen und so, und da stand das von der Katzengöttin, und wie die Katze von Meiers da im Fenster sitzt und so unbeweglich schaut, da finde ich, sie haben Recht gehabt, die alten Ägypter. Ich gehe hin und tippe mit dem Zeigefinger gegen die Glasscheibe. Da schlägt die Katze mit ihrer Pfote aus, als wolle sie meinen Finger durch das Glas fangen. Dann, damit ich nicht denke, sie hätte mit mir gespielt, leckt sie sich ausgiebig ihre Pfote, setzt sich wieder elegant zurecht und tut, als würde sie mich nicht sehen. Ich würde sie gerne kraulen, an der Kehle auf ihrem weißen Fleck. Mein Felix hat auch einen weißen Fleck gehabt. Und ein schwarzes Fell. Nur kleiner war er, auch wenn er ein Kater war, aber eben ein sehr junger. Er konnte einen wunderschönen Buckel machen. Und seinen Schwanz fangen. Und im Luftsprung nach Sonnenstrahlen jagen. Wenn ich ihn im Arm gehalten habe und er ganz laut geschnurrt hat und mich mit seiner kühlen Schnauze ins Gesicht gestupst, dann war ich ungefähr der glücklichste Junge auf der ganzen Welt. Es hat mir fast nichts ausgemacht, dass Mama nicht da war, wenn ich aus der Schule kam, weil sie jetzt auch nachmittags arbeitet und nicht mehr nur vormittags. Weil sie mit einer Halbtagsstelle nicht Abteilungsleiterin werden kann, hat sie gesagt, und weil große Kinder große Ansprüche haben. Ich habe keine Ansprüche, nur Felix, sonst nichts. Felix habe ich lieb gehabt, lieber als alles. Ich habe ihn ja immer noch lieb. Aber er ist nicht mehr bei uns. Und daran ist Claudia schuld. Meine Schwester ist nämlich krank geworden, ihre Augen waren rot, dauernd sind ihr die Tränen gelaufen und die Nase, und nachts hat sie uns alle wachgehustet. Meine Mutter hat Claudia von Arzt zu Arzt geschickt und dann hat einer behauptet, dass Claudia eine Katzen-Allergie hat und dass sie wegen Felix krank geworden ist. Ich glaube das nicht, ich bin ja auch nicht von Felix krank geworden, und Felix war schon Monate bei uns, bevor das angefangen hat mit Claudias roten Augen und ihrem Husten und allem, und daran sieht man doch schon, dass es nichts mit Felix zu tun hat. Aber Papa hat Felix in irgendein Tierheim gebracht. Mir haben meine Eltern es erst gesagt, als es schon geschehen war. Sonst hätte ich das nie zugelassen. Ich hätte mich vor das Auto gestellt, so dass Papa nicht hätte losfahren können. Oder ich hätte Felix versteckt. Oder – Ach, ich weiß auch nicht. Ich habe Papa gesagt, dass er das nicht hätte tun dürfen. Weil Felix in einem Tierheim unglücklich ist. Er konnte nichts anderes machen, hat Papa behauptet, weil Claudia so schrecklich krank war und es für sie so gefährlich war, dass sie keinen Tag länger mit Felix unter einem Dach leben durfte, und weil so schnell keine Familie für Felix zu finden war, und Felix kommt bestimmt wieder zu einer Familie, die ihn ganz lieb hat. Ich habe Felix aber noch viel mehr lieb, habe ich gesagt, und außerdem gehört er mir und man darf nicht etwas weggeben, was einem anderen gehört, das ist gemein, und ich will Felix zurück, und wenn er ihn nicht aus dem Tierheim zu uns holt, dann hole ich ihn heim. Da ist Papa wütend geworden. Angebrüllt hat er mich, dass ich egoistisch bin und nur an mich selbst denke, und was ich denn überhaupt für ein Bruder bin, ob ich will, dass meine Schwester ihr Leben...