E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-7504-6817-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gabriele Beyerlein ist seit 1987 freie Schriftstellerin und hat mehr als dreißig Bücher für Kinder, für Jugendliche und für Erwachsene veröffentlicht, darunter zahlreiche in der Vergangenheit spielende Jugendromane, in denen sie eine spannende Handlung mit historischer Genauigkeit verbindet. Ihre Bücher standen wiederholt auf Nominierungslisten für Literaturpreise. Sie erhielt den Heinrich Wolgast Preis 2008 und den Gerhard Beier Preis 2010. Gabriele Beyerlein hat Psychologie studiert, promoviert und in der sozialwissenschaftlichen Forschung und Lehre gearbeitet. Nachdem sie ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckt hatte, machte sie sich als Autorin selbstständig. Sie lebt heute in Darmstadt.
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Wie Hildegard nicht ahnte,
wie schnell alles anders würde Breslau, September 1944 „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“, sang Hildegards Mutter am Konzertflügel. Weich war ihre Stimme und voller Sehnsucht. Und die Begleitung dazu so traurig und doch zugleich tröstlich, als würde man von den Tönen gestreichelt. Hildegard drückte ihre Katze enger an sich, kraulte sie an der Kehle und kuschelte sich tiefer in die Kissen des Sofas. Hier saß sie am liebsten und sah durch die hohen Türen hinaus in den Garten zum Springbrunnen und hörte dem Klavierspiel und Gesang der Mutter zu. Genüsslich knabberte Hildegard an den Plätzchen, die Frau Winkler, die Hauswirtschafterin, heute gebacken hatte. Sie hatten selten welche, weil ja die Butter rationiert war und man für alles Lebensmittelmarken brauchte. Aber morgen gab es eine Torte, denn morgen kam der Vater auf Heimaturlaub. Und von dem restlichen Teig hatte Frau Winkler Plätzchen gebacken. Endlich, endlich kam der Vater heim. Wenn nur der Krieg aufhören würde, damit er nicht mehr kämpfen müsste und immer daheim sein könnte! „Warum singst du so traurige Lieder, wenn doch morgen Vati heimkommt?“, fragte sie, als die Mutter das Lied beendet hatte. Diese lachte. „Dein Vater liebt nun mal die ‚Winterreise‘ von Schubert. Da habe ich als Überraschung für ihn den ganzen Liederzyklus einstudiert. Und jetzt komm, ich hatte dir doch versprochen, dass wir heute eine Kahnfahrt machen!“ „O ja!“ Hildegard sprang auf, die Katze machte sich davon. Wenig später saßen sie in einem Kahn und ließen sich die Oder hinuntertreiben. Die Mutter ruderte hin und wieder mit leichten Schlägen, Hildegard hielt das Steuer in der Hand und passte auf, dass sie dem Ufer nicht zu nahe kamen und mit keinem anderen Kahn zusammenstießen. Ein größeres Schiff überholte sie, in seinen Wellen begann ihr Boot zu schaukeln. Vom Dom herüber klangen die Glocken, auf der Promenade flanierten Spaziergänger, ein Trupp Soldaten marschierte vorbei. Morgen würden ihre Mutter und sie dort mit dem Vater entlangspazieren. Oder mit ihm Kahn fahren, schneller als heute, denn er war stark, er konnte rudern wie ein echter Seemann. Nach der Kahnfahrt gingen sie zu ein paar Geschäften am Ring. Die Mutter kaufte Zigarren für den Vater und sein Rasierwasser und Noten, die sie bestellt hatte. Als sie nach Hause kamen, neigte sich der Tag schon zu Ende. Sie öffneten das Gartentor, und da, im Licht der tiefstehenden Sonne, saß jemand auf der Bank unter der Linde, ein Mann in Uniform. Jetzt stand er auf. „Vati! Vati!“, rief sie und rannte auf ihn zu, er breitete die Arme aus, sie warf sich mitten hinein, er hob sie hoch und drehte sich mit ihr im Kreis, ihre Zöpfe flogen, rot leuchtete der Himmel, sie roch sein Rasierwasser, alles war gut. „Alle Detektive in die Diele und stehenbleiben!“, tönte die tiefe Stimme von Hildegards Vater durch das Haus. „Der Meisterdieb Tunichtgut macht sich wieder auf den Weg, wechselt das Zimmer und sucht sich ein neues Versteck, um sich vor dem Auge des Gesetzes zu verbergen und seiner gerechten Strafe zu entgehen.“ Hildegard schälte sich vorsichtig aus dem schweren Samtvorhang im Herrenzimmer und schlich auf leisen Sohlen durch den Raum, alle Sinne gespannt. Nur nirgendwo anrempeln und sich durch den Lärm verraten. Es war vollkommen finster. Hier, der Schreibtisch ihres Vaters, der Scherenstuhl ... „Tunichtgut schleicht durch die Straßen und Hinterhöfe von Breslau. Keiner sieht ihn, keiner hört ihn ...“ Der Vater draußen in der Diele redete weiter und weiter, damit die Detektive abgelenkt waren und nicht merkten, wenn sie an ihnen vorbeischlich und sich in einem anderen Zimmer ein Versteck suchte. Denn sie war der Meisterdieb und Mama, Frau Winkler und deren Tochter Else waren die Detektive, die nach ihr suchen mussten, sobald der Vater den Befehl dazu gab. So ging das Spiel, das er sich ausgedacht hatte, und es war das großartigste Spiel, das man sich vorstellen konnte. Er erzählte weiter und sie schlich genau auf die Stimme zu, stieß gegen den Vater, als sei das zufällig und aus Versehen. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und drückte sie kurz an sich, streichelte ihr leicht über die Haare, die Berührung nahm sie mit und tastete sich in den Salon voran. Gerne wäre sie ja in den ersten Stock hinauf, aber das hatte der Vater verboten, auf der Treppe im Finstern wäre es zu gefährlich, hatte er erklärt. Dagegen konnte man nichts machen, was er sagte, das galt. Unter dem Flügel legte sie sich flach auf den Boden. Immer noch spürte sie die Hand des Vaters auf ihrem Scheitel. „Und jetzt beginnen die Detektive wieder ihre Suche, bereit, dem Meisterdieb das Handwerk zu legen“, tönte Vaters Stimme. Jemand kam in den Salon, sie konnte diesen Jemand nicht sehen, aber hören. Die Schuhe klackten bei jedem Schritt: Frau Winkler. Jetzt rempelte sie an den Notenständer und stieß ihn um. Es schepperte. Leise schimpfte die Hauswirtschafterin vor sich hin. „Die Detektive scheuen bei ihrer Verfolgungsjagd keine Gefahr und nehmen sogar den Kampf mit Notenständern auf“, kommentierte der Vater das Geräusch. Hildegard presste die Lippen zusammen. Jetzt bloß nicht lachen! Krampfhaft hielt sie die Luft an. „Was für Gefahren werden sich den Detektiven noch stellen?“, fragte der Vater. „Müssen sie auch mit Windmühlen fechten?“ Da konnte Hildegard nicht mehr an sich halten und platzte los. Lachte, und lachte noch, als Frau Winkler unter den Flügel gekrochen kam und nach ihr fasste. Würde der Vater nur nie, nie wieder abreisen müssen an die Front. Breslau, Oktober 1944 „Und in dem Schneegebirge, da fließt ein Brünnlein kalt.“ Hildegard schmetterte das Lied im Rhythmus der Schaukelbewegung. Der Vater hatte gesagt, sie hätte eine schöne Singstimme und sie sollte nur fleißig das Singen und das Klavierspielen üben. Lächelnd hatte er ihr dabei über die Haare gestrichen, vor drei Wochen, an dem Tag, an dem er wieder an die Ostfront gefahren war und ihr zum Abschied den wunderschönen Ring mit dem roten Rubin geschenkt hatte. Wenn er das nächste Mal Heimaturlaub hatte, würde sie ihm nicht nur Volkslieder am Klavier vorsingen wie diesmal, „Und in dem Schneegebirge“ oder „Ein Bäumlein stand im tiefen Tal“. Sie würde Lieder von Schubert einstudieren und sich dabei selbst am Klavier begleiten, so wie Mutti es machte. Wenn sie ganz viel übte, bekam sie das hin, die ganze „Winterreise“, dann würde er sich freuen. Er sollte sich freuen über sie. Weit lehnte sie sich zurück und holte ordentlich Schwung. Herrlich war es, auf der Schaukel unter der Linde so durch die Luft zu fliegen. Dieser Kitzel im Bauch, wenn es hoch hinauf ging und wenn dann der Punkt erreicht war, wo sich die Richtung umdrehte. „Wann kommst du aber wieder, wann kommst du aber wieder, Herzallerliebster mein“, sang sie voller Inbrunst den Vers weiter. Sie konnte alle Strophen und überhaupt viele Lieder. Bald wurde sie zehn, dann kam sie in den Jungmädelbund. Else ging schon lange zu den Jungmädeln, sie war ja drei Jahre älter. Liedtexte auswendig zu können war das Wichtigste, sagte Else. Und stricken und sticken und nähen. Hildegard seufzte. Besonders reizvoll fand sie Handarbeiten nicht. Aber die Wochenendausflüge, von denen Else erzählte, waren gut. Mit Räuber und Gendarm Spielen und Mond Beobachten und Lagerfeuer und Übernachten im Heuschober. Das war etwas, was die Mutter ihr normalerweise nie erlauben würde. Aber wenn die Jungmädel das veranstalteten, konnte sie nichts dagegen sagen. Weil die Jungmädel Pflicht waren. Von der Schaukel aus sah Hildegard, wie der Briefträger die Gartentür öffnete und den Kiesweg heraufkam. Er steckte die Post nie in den Briefkasten, sondern brachte sie immer persönlich zu Frau Winkler in die Küche, weil er spekulierte, dass er dann etwas Gutes erhielt. Kurz darauf kam er auch wirklich mit einem Stück Kuchen in der Hand wieder heraus. Seltsam eilig hatte er es heute, als könnte er gar nicht schnell genug wegkommen. Ob der Vater ihr wieder eine Feldpostkarte geschickt hatte? Er schrieb schöne Karten, manchmal dachte er sich ein kleines Gedicht aus, das sie fortsetzen sollte, oder stellte eine Rätselfrage, die sie lösen musste. Die letzte war gewesen: „Ist der längste seiner Sorte, findest ihn an heißem Orte. Seinen Namen trägt ein Pferd, das auf Straßen nicht verkehrt.“ Er hatte sich bestimmt gefreut, dass sie das Rätsel gelöst und die Antwort sogar gereimt hatte: „Ist doch klar, das ist der Nil, gell, da staunst du, ich weiß viel.“ Sie musste unbedingt sofort nachsehen, was er ihr heute geschrieben hatte. Hildegard sprang von der Schaukel und lief zur Hintertür, stürmte in die Küche. Klavierspiel tönte aus dem Salon durch das Haus, dann brach es...