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E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Berliner Shmutz


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-455-01626-0
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-455-01626-0
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Eine dreckige Geschichte mit einem reinen Herzen.« The New York Times


 Raizl lebt mit ihrer jüdischen Großfamilie in Brooklyn. Sie teilt sich ein Zimmer mit ihrer kleinen Schwester, sie liebt ihren Großvater über alles und sie unterstützt ihre Mutter im Haushalt. Aber außerhalb der Familie hat Raizl einen Studienplatz, einen Nebenjob und eine Therapeutin. Und da ist noch etwas: Sie liebt Pornos! Bald erlebt sie ein sexuelles Erwachen, lange bevor der Matchmaker den richtigen Ehemann für sie finden kann. Während sie sich heimlich ihrer Sucht hingibt und ein aufregendes Unileben in Manhattan führt, hat sie zuhause in Brooklyn arrangierte Dates und einen Alltag voller Rituale. Raizl ist hin- und hergerissen zwischen der modernen Welt und ihrer Community, die ihr so viel Liebe und Halt gibt. 

 »Grenzüberschreitend und urkomisch: Raizls Geschichte stellt alles infrage, was wir über das Frausein, Begehren und den Glauben zu wissen meinen.«  Los Angeles Times

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Weitere Infos & Material


Cover
Verlagslogo
Titelseite
Widmung
Motto
Tochter Israels
Traumleser
Zeichen
O'Donovan heiße ich
Versuchs mal
Das Kleid in der Wanne
Die Beschau
Kalter Entzug
Gepriesen sei, was trejf ist
Die rebezn
Der Geruch von dort
Kaputte Zeit
V-Ausschnitt
Der broche-Wettbewerb
Zu viel
Die Mädchen in ihr
Minzschnaps
Tod durch Vergessen
Borsalino
Sparschwein
Das Nicht rausnehmen
Purim-schtik
Feuer
Kokosch-Kuchen
Heiratstreffen
Schwanz-freßer
Pflaumenkuchen
Jeans, die schon bezahlt sind
Durch dessen Wort alles entstand
Ein Golem zwischen den Beinen eines jeden Mannes
Achtzehn mit Eins
Sahnetorte
Shmutzwelt
Shloimi
Das Essen fällt ihm aus dem Mund
Bis hundertzwanzig
Sam und Spark
Welcher Tag es ist
Das erste F
Was dir niemand nehmen kann
Gewohnheiten
Zeidys Bett
Die Boote sind nicht da
Siebzig Prozent
Wer ist dort drinnen?
Ausnahme von der Regel
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen
Rein statistisch gesehen
Umgebracht
Meema Shprintza
Dekan Zeidy
Ganew
Warum
Jeder Abend ist ein Kampf
Bürosklavin
Lieblingsbruder
Oben ohne
Silberschatz
Was schauen Sie sich an?
Schnecke im Anzug
Such du für mich aus
Der andere Moishe
Eigentherapie
Geheilt
Schejtlshopping
Moishes Geschenk
Das Kleid
Letzter Arbeitstag
Die kale-Lehrerin
Böse Mächte
Abschied
Keine Verabredungen mehr
Dank
Glossar
Biographien
Impressum


Tochter Israels
Die Nägel der Ärztin glänzen und glitzern um den Stift, den sie auf Raizl gerichtet hat. »Du willst nicht heiraten?«, fragt Dr. Podhoretz. Raizl schüttelt den Kopf. »Ich will«, stellt sie richtig. »Aber ich kann nicht. Mami hat mich zu Ihnen geschickt, weil ich ihr und der Heiratsvermittlerin gesagt habe, keine Treffen. Keine Beschau.« Ihrer Mutter hat sie gesagt, dass sie Angst vor Sex habe, was stimmt. Angst habe, nie einen Ehemann zu finden. Stimmt auch! Nur ist das nicht alles. »Du kannst nicht?« Die Ärztin runzelt die Stirn. Raizl presst die Schenkel so fest zusammen, als wären die Beine ihrer dicken Strumpfhose unter dem langen Wollrock zusammengenäht, sie wehrt sich gegen das Gefühl, dass selbst unter diesem ganzen Stoff ein Teil von ihr entblößt werden wird. Doch wenn sie einen Ehemann finden will, muss sie mit der Sprache herausrücken. »Ich schaue mir zu viel an«, antwortet Raizl, aber die Ärztin reagiert nicht. »Auf dem Computer«, fügt Raizl hinzu und wird rot. Das Geständnis treibt ihr die Hitze von den Schläfen, von den Spitzen der Ohren ins Gesicht. »Moment, meinst du Pornografie?« Raizl nickt unmerklich, der Hauch eines Ja. Pornos, das ist es, was sie sich anschaut. Shmutz. »Okay.« Auch Dr. Podhoretz nickt, als wäre das nichts Ungewöhnliches. »Lass uns darüber sprechen. Was siehst du dir gerne an?« Was sie sich gerne ansieht? Warum fragt die Ärztin das? Raizl schaut zur Decke, als schwirrte dort oben vielleicht eine Antwort herum, und murmelt »Ich wejß nischt«. Sie ist sich nicht sicher, was in diesen Pornonächten mit ihr passiert. Raizl hatte angenommen, Dr. Podhoretz würde ihr sagen können, was mit ihr los ist und wie sie damit aufhören kann. Aber bisher Fehlanzeige. Stattdessen erinnert die Frage der Ärztin Raizl an ein Video, das sie in der Nacht zuvor gesehen hat, Collegemädchen beim Spielen. Drei junge Frauen lagen bäuchlings auf dem Bett, sie trugen T-Shirts, sonst nichts. Ihre nackten Hintern ragten empor. Zwei von ihnen spielten ein albernes Videospiel und quatschten und lachten, während ein Mann das Mädchen in der Mitte schtupte. Waren sie nicht zu alt für solche Spiele? Und sahen sie nicht, was zwischen ihnen passierte – kriegten sie nicht mit, dass da geschtupt wurde? Das Mädchen in der Mitte redete nicht, aber manchmal griff es hinter sich und hielt sich den Hintern. Raizl erinnert sich an die fein manikürten, knallpinken Nägel des Mädchens. Als sie merkt, dass die Erinnerung an das Video ein Gefühl da unten hervorruft, presst Raizl die Beine noch enger zusammen. Sie lächelt schwach und fragt sich, ob Dr. Podhoretz etwas mitbekommt. Aber die Ärztin legt nur den Kopf schief und fragt: »Kannst du mir ein bisschen mehr erzählen? Am besten auf Englisch. Es tut mir leid, aber mein Jiddisch ist begrenzt.« Die Ärztin klingt nicht so, als tue es ihr wirklich leid, aber Raizl holt tief Luft und macht sich bereit. Es scheint unmöglich zu sein. Zu sagen, was sie weiß. Es ist ganz egal, dass ihr Wissen rein virtuell ist. Die einzigen Hände, die je ihren Körper berührt haben, sind ihre eigenen. Aber die Videos, die sich in ihrem Kopf eingenistet haben, kann sie nicht löschen oder wegsperren. Kein Engel wird kommen und ihr dieses Wissen nehmen, so wie der Engel, der jedem Säugling noch im Mutterleib den Talmud lehrt und dann die Lippen des Babys bei der Geburt zukneift und nur die kleine Einkerbung zwischen Nase und Oberlippe als Erinnerung hinterlässt: Das Kind soll sich den Talmud mit einem neuen Bewusstsein, aus freien Stücken wieder aneignen. Wenn Raizl doch nur so in die Ehe gehen könnte – vollkommen unschuldig, neugeboren und unwissend, so begierig, sexuelle Lust zu erlernen, als hätte sie keinen Deut digitale Erfahrung. Doch für eine solche Unbeflecktheit ist es zu spät. Raizl rutscht tiefer in ihren Lehnsessel, und das weinrote Leder knarzt erbarmungslos bei jeder ihrer Bewegungen. Raizl hat Angst, dass sie sich mit dem Sex, der sie erwartet, nie anfreunden wird: Freitagabendsex, nach dem rituellen Bad. Wird sie das besondere Nachthemd, das sie als Braut trägt, ausziehen und nackt sein? Wird sie jemals ihren choßn, ihren zukünftigen Ehemann, dazu bringen können, seine Zunge dort unten hinzutun? Wenn sie den Frauen in den Videos Glauben schenken soll, wird sie ohne so etwas nicht leben können, und sie hat Angst, dass ihr choßn denken wird, sie sei proßt, ein vulgäres Mädchen mit shmutzigen Wünschen. Manchmal wagt sie zu hoffen: Wenn sie den Schwanz-Pimmel ihres choßn erst mal in den Mund nimmt, wird auch er nicht mehr ohne so etwas leben können. Davon haben Pornos sie überzeugt. Wenn sie es jetzt schafft, keine Pornos mehr zu schauen, ist es vielleicht noch nicht zu spät, einen choßn zu finden. Zu heiraten. »Helfen Sie mir aufzuhören?«, fragt Raizl. »Möchtest du denn aufhören?« Die Ärztin senkt das Kinn und betrachtet Raizl über den Brillenrand hinweg. Sie stellt die Frage in genau dem gleichmütigen Ton, in dem sie bereits alle anderen Fakten gesammelt hat. Bisher hat die Ärztin schon die Bedeutung von Raizls Namen herausgefunden (jiddisch für »Rose«), ihr Alter (achtzehneinhalb) und die Geschwisterfolge (das dritte von fünf Kindern). »Nur fünf Kinder? Warum so wenige?«, hatte die Ärztin gefragt. Raizl hatte es geschmerzt, von Mamis Fehlgeburten zu erzählen, als plauderte sie gerade Familiengeheimnisse aus. Doch laut Mami gehört die Ärztin zwar nicht zur Gemeinschaft, hat aber bereits mit anderen chassidischen Familien zusammengearbeitet. Vermutlich hat sie schon alle Leiden und zoreß, von denen man so munkelt, in ihrer Praxis gehabt: die am Schnaps hängende Mutter, den mit Tellern um sich werfenden Vater, den bettnässenden Bar-Mizwa-Jungen. Hier und da eine Braut, die in ihrer Hochzeitsnacht nicht blutet und noch nie in der Nähe eines Pferdes gewesen ist. Jetzt also Raizl, Tochter Israels, pornosüchtig. »Ich kann nicht aufhören«, sagt Raizl. »Jede Nacht schaue ich mir das an.« Dr. Podhoretz’ hin- und herfliegender Stift bringt Raizl aus dem Konzept. »Jede Nacht?«, ermuntert die Ärztin sie. »Du hast Internet zu Hause?« »Ja«, antwortet Raizl und krümmt die Zehen in ihren flachen schwarzen Schuhen. Wieder ein Geheimnis gelüftet. »Tati ist Filialleiter in einem Elektrogeschäft, und seit er Schmerzen im Rücken hat, lassen sie ihn manchmal von zu Hause aus arbeiten. Er braucht das Internet für seine E-Mails. Er weiß nicht, dass ich das Passwort kenne und dass ich das Internet auf meinem Laptop öffne, denn den soll ich nur benutzen, um Buchhaltung zu lernen. Ich bin im Cohen College. Ich habe ein Stipendium.« Sie überschlägt sich fast bei diesen Details, es ist so viel leichter, darüber zu sprechen als über die Videos. »Ich arbeite auch noch ein paar Stunden pro Woche für eine Firma auf der Siebenundvierzigsten Straße«, fährt Raizl fort. »Es ist schon alles arrangiert: Wenn ich meinen Abschluss habe, werde ich dort in Vollzeit arbeiten.« »Arrangiert?«, fragt Dr. Podhoretz. »So wie eine Ehe?« »Ich habe einen Laptop«, sagt Raizl ungeduldig. Die Ärztin versteht nicht, worum es geht. »Man hat ihn mir erlaubt, weil er für die parnoße ist, den Lebensunterhalt. Ich gebe Mami das Geld, und sie legt es für meine Hochzeit zurück. Und in der Zwischenzeit, bis ich heirate, hilft es meinen Brüdern – in einigen Jahren werden sie wie Tati arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen, aber jetzt studieren sie den ganzen Tag die Tora. Ich habe meinen Computer, wo ich will. In der Schule. Zu Hause. Im Bett.« Raizl wird wieder rot, aber die Ärztin verzieht keine Miene. »Niemand sonst darf einen Computer zu Hause haben, meine Brüder nicht, meine Schwester nicht, auch nicht meine Freunde«, sagt Raizl. »Es ist verboten.« »Das ist sehr ungewöhnlich, nicht wahr?«, fragt die Ärztin. »Eine junge Frau wie du, die aufs College geht, bevor sie heiratet?« Raizl nickt. Tati hätte es ihr fast nicht erlaubt. * Letzten Frühling, vor fast einem Jahr, hatte Tati abgewehrt, als Raizl ihm den Zusagebrief zeigte. Das College für gottlos befunden. »Koledsch ist tume«, sagte er. Mami sprang ihr bei und warf ein, dass es nicht regelwidrig für Raizl sei, Buchhaltung zu lernen, zudem könne sie gut mit Zahlen umgehen. Mami erinnerte Tati daran, was ein Buchhalter verdiente. Und außerdem würde es sie gurnischt kosten. Raizl hatte schließlich ein Vollstipendium! »Gurnischt mit gurnischt«, sagte Tati wegwerfend, ohne von seiner Gemara aufzuschauen. Kein Einsatz, kein Gewinn. »Bitte, Tati«, sagte Raizl. Er unterbrach seine Lektüre, schürzte die Lippen und betrachtete Raizl. Nahm seine Jarmulke ab, fuhr mit ihr über den fast kahlen Kopf und den etwas dickeren Haarkranz im Nacken, dann setzte er sie wieder an genau der gleichen Stelle auf. Ohne zu blinzeln, sein Blick ein Befehl, starrte er Raizl an. »Rejjjsl«, er sprach ihren Namen traditionell aus und zog ihn so in die Länge, dass aus ihm ein ganzer Satz wurde. »Nischt ken die Wissenschaft«, sagte er. »Keine Biologie, keine Affen. Du weißt bereits, wo du herkommst. Nur Buchhaltung.« Raizl hatte Tatis Bedingungen akzeptiert. Dass es Dinge wie verpflichtende fachfremde Kurse und zusätzliche freiwillige Seminare gab, verschwieg sie. Und sie erwähnte nicht, dass ein Computer zu ihrem Stipendium gehörte. Der gojische Kalender schrieb Frühjahr 2012, und die Oberrabbiner hatten gerade das Internet verboten. Vor vierzigtausend...


Berliner, Felicia
Felicia Berliner studierte Kreatives Schreiben an der Columbia University. Shmutz ist ihr erster Roman. Sie veröffentlicht außerdem in Lithub, PB Dauly und Breakwater Review.

Felicia Berliner studierte Kreatives Schreiben an der Columbia University. Shmutz ist ihr erster Roman. Sie veröffentlicht außerdem in Lithub, PB Dauly und Breakwater Review.



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