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E-Book, Deutsch, Band 12, 260 Seiten

Reihe: Artificium

Bering Konzeptionen der Kunstdidaktik

Dokumente eines komplexen Gefüges

E-Book, Deutsch, Band 12, 260 Seiten

Reihe: Artificium

ISBN: 978-3-89896-749-5
Verlag: wbv Media
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Die technologische Entwicklung der letzten Jahre bedingt eine tiefgreifende Veränderung der Wahrnehmungsverhältnisse, womit die Anforderungen an die Kompetenz der visuellen Wahrnehmungsfähigkeiten enorm gestiegen sind. Die ästhetische Erziehung steht damit vor neuen Aufgaben. Der vorliegende, für zahlreiche Fachseminare im Rahmen der Ausbildung von Kunstlehrern und -lehrerinnen in den letzten Jahren unverzichtbar gewordene Band stellt - nun in der dritten Auflage überarbeitet, wesentlich erweitert und auf den gegenwärtigen Stand der Diskussion gebracht - grundlegende Konzeptionen der Kunstdidaktik in ausgewählten Texten zusammen und bietet sowohl neueste Problemstellungen angesichts der Neuen Medien als auch die historische Dimension der kunstpädagogischen Diskussion. Darüber hinaus werden die wichtigsten Ergebnisse der Bezugswissenschaften - Kunstwissenschaft und geschichte, Philosophie, Kommunikationswissenschaften u. a. - berücksichtigt.
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Jörg Ruhloff
Kritik der »Visuellen Kommunikation« (1975) In der »Visuellen Kommunikation« kommt [...] Kunst primär nur noch als negativer Gegenstand vor. »Wichtiges Lernziel des auf Bildende Kunst bezogenen Unterrichts ist die ›Diskriminierung‹ von Kunst als Instrument von Herrschaft.« (Möller) Jedoch selbst als negative Größe ist Kunst nicht der zentrale Unterrichtsinhalt. Was also ist mit »Visueller Kommunikation« gemeint? Gegenstand des Faches ist – auf einen einfachen Nenner gebracht – die an ein Sinnesorgan, das Auge, gebundene Mitteilung. Möglicher Einzelinhalt des Lehrens und Lernens ist alles optisch Wahrnehmbare, insofern ihm eine Mitteilungsfunktion zugeschrieben werden kann. Die denkbare »künstlerische Gestaltung« ist für die Qualifikation zum Unterrichtsinhalt unmaßgeblich. Demnach können im Unterricht alle optisch registrierbaren Kulturprodukte vorkommen, zum Beispiel: Werbefilme, Familienfotos, Comics, Architektur, Wohnungseinrichtung, Bekleidung, Geräte, Müllkippen, Schulhöfe, Warenformen und -verpackungen, Menschen in Situationen und Aktionen – kurz: alles von Menschen produzierte Sichtbare. Gelehrt und gelernt werden soll nun aber nicht, was es alles zu sehen gibt. Gelernt werden soll vielmehr, was sich am Gesehenen dem Gesichtssinn verbirgt. Das sind die Standpunkte des Sehens und der Produktion von Sichtbarem. Das sind Zwecke und Wirkungen der den Gesichtssinn reizenden Wahrnehmungsobjekte, die Absichten, Interessen und Abhängigkeiten ihrer Produzenten. Gelernt werden soll etwa, daß die üblichen Urlaubsfotografien nach Form und Inhalt nicht nur harmlose private Erinnerungen sind, sondern möglicherweise zugleich Dokumente einer durch Freizeitindustrie, durch Reiseprospekte z. B. lancierten Wahrnehmungs-, Erlebens- und Lebensstereotypie, die letztendlich auf ökonomische Ursachen zurückführbar ist. [...] Neben der Analyse von visuellen Produkten und visueller Produktion auf ihre Bedingungen, Intentionen und Wirkungen geht es um verändernde Praxis. Die Schüler sollen Gerät und Technik der visuellen Mitteilung zu beherrschen, die vorhandenen technischen Kommunikationsmöglichkeiten in den Dienst ihrer eigenen Bedürfnisse zu stellen lernen. Aus hilflosen Rezipienten und Konsumenten des Angebots der Bewußtseinsindustrie sollen potentielle Mitproduzenten, aus Manipulierten sollen Manipulateure werden, die ggf. auch mit Massenmedien wirkungsvoll für ihre politischen Ziele zu »agitieren« verstehen. [...] Der Unterricht will an sichtbaren Kulturzeugnissen und insbesondere an den durch die Massenmedien Fernsehen und Film übermittelten nicht bloß irgendwelche, von Fall zu Fall möglicherweise wechselnden Bedingungen und Folgen erkennbar machen. Es ist eine durchgehende geheime Mitteilung, die an den unterschiedlichsten visuellen Objekten vor allem interessiert und die sie bei allen medientechnischen und inhaltlichen Unterschieden zu einem Problemgebiet zusammenfügt. Was immer sonst ein Bild, ein Film, eine Schulhofmauer, ein Werbespot darstellen, bedeuten, aussagen, beabsichtigen – ihre Hauptbedeutung für die gesellschaftskritisch ambitionierte »Visuelle Kommunikation« ist die, daß sie Herrschaftsverhältnisse mitteilen, die es aufzudecken und zu verändern gilt. Das spezifische Problem des Unterrichts, so kann zusammengefaßt werden, sind die visuellen Manifestationen menschlicher Herrschaftsbeziehungen und die Herrschaftsausübung durch visuelle Produktion und Konsumtion. Dieser These widerspricht es nicht, wenn dem Fach außer einer gesellschaftkritischen Funktion auch noch andere Funktionen scheinbar gleichrangig zugeordnet werden, in den Hessischen Rahmenrichtlinien z. B. eine kommunikative, eine kreative und eine regenerativ-hedonistische Funktion; denn daß gelernt werden muß, »sich über visuell wahrnehmbare Objekte und Situationen [zu] verständigen«, ihnen Informationen zu entnehmen und mittels ihrer Informationen zu übermitteln (»kommunikative Funktion«), wird man als ein unerläßliches technisch-methodisches Implikat des Faches anzusehen haben, auf das seine sonstigen funktionellen Leistungen angewiesen sind, nicht aber als Reverenz vor dem selbstständig gesehenen Problem des Verstehens und der Verständigung. Die Förderung der »Kreativität« ist ausdrücklich durch den Zweck der Demokratie restringiert. Die Bejahung lustvoller Betätigung versteht sich nicht aus einer Hochschätzung der Lust, sondern aus ihrer Leistung, »rigide Verhaltensformen und Disziplinierungszwänge« aufzulösen. Und die regenerative Funktion darf nicht als Kapitulation vor dem »ungelösten Widerspruch« zwischen »Lohnarbeit und Freizeit« in der kapitalistischen Gesellschaft mißdeutet werden, sondern muß als dessen zeitweilige Respektierung verstanden werden, und sie bezieht sich auf die Gestaltung der Freizeit unter dem Blickwinkel der Alternative, ob fremde Interessen und Zwänge oder eigene Bedürfnisse sie ausfüllen. [...] Die »Visuelle Kommunikation« geht danach sachlogisch entweder in die vorhandenen Unterrichtsfächer ein und in ihnen auf oder sie wird zum Teilbereich eines neuen Faches »Kommunikationslehre«. Als selbstständiges Fach hat sie kein methodisches Prinzip des Lehrens und Lernens, ist pädagogisch unausgegoren und vielleicht nur deshalb ein desto geeigneteres Feld für politische Indoktrination. Wenn es aber in der »Visuellen Kommunikation« als Lehrfach nicht um Indoktrination, sondern um u. a. gesellschaftspolitisch bedeutsame Erkenntnis von Indoktrination gehen soll, dann wäre ihr angemessener Ort der ggf. zu modifizierende politische und sozialkundliche Unterricht. [...] Eine anspruchsvolle Begründung stellt darauf ab, daß das der Kunstpädagogik zugrundeliegende Problem in der Kontinuität der historischen Entwicklung in ein anderes Problem übergegangen sei. Das ist etwa so zu verstehen: Die sachliche Grundlage der Kunstpädagogik war u. a. die Voraussetzung eines eigenen, von nichts anderem ausschließlich ableitbaren Bereichs ästhetisch-künstlerischer Phänomene und Urteile. Die These von der Autonomie der Kunst und der Eigenbedeutung ästhetischen Urteilens meint man nun entlarvt zu haben als ein Überbauprodukt der historisch vorübergehenden bürgerlichen Gesellschaft. Aber hinter der falschen gesellschaftlichen Funktion der autonom gesetzten Kunst soll sich dennoch ein echtes Problem versteckt gehalten haben. In der Produktion einer eigenwertigen Welt des schönen Scheins verbarg sich das ungelöste Problem der Entwicklung eines vom Widerspruch zwischen Arbeit und Eigentum, eines von Selbstentfremdung freien menschlichen Lebens. Schiller ging danach gewissermaßen bei der Entwicklung seiner Ästhetik bereits mit Marx schwanger. Beim gegenwärtig erreichten Stand der Produktivkräfte ist es nicht mehr erforderlich, den Widerspruch ästhetisch zu verschleiern, weil er objektiv auflösbar ist. Auf der Überbauseite, der Bewußtseinsseite sind es die elektronischen Medien, die einerseits die »ästhetische Glättung ungelöster Widersprüche« entlarven können, andererseits den Charakter der Kunst im ganzen verändern. »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (W. Benjamin) verliert seinen durch die Theorie der Autonomie befestigten und angeblich aus der handwerklich-individuellen Produktionsweise stammenden exklusiven Charakter. Das in die autonome Kunstproduktion abgelenkte, aber durch sie nicht lösbare Problem der Emanzipation des Menschen wird, soweit es auf die massenhafte Herstellung des richtigen Bewußtseins mit ankommt, durch die elektronischen Medien lösbar. In ihnen steckt massenhaft bewußtseinsumwälzendes Potential. »Tonbandgeräte, Bild- und Schmalfilmkameras befinden sich heute schon in weitem Umfang im Besitz der Lohnabhängigen. Es ist zu fragen, warum diese Produktionsmittel nicht massenhaft an den Arbeitsplätzen, in den Schulen, in den Amtsstuben der Bürokratie, überhaupt in allen gesellschaftlichen Konfliktsituationen auftauchen. Indem sie aggressive Formen einer Öffentlichkeit herstellten, die ihre eigenen wären, könnten die Massen sich ihrer alltäglichen Erfahrung versichern und aus ihnen wirkliche Lehren ziehen.« Das in und von der Kunst sozusagen gelähmte Emanzipationsverlangen wird durch die elektronischen Medien freisetzbar. Den Medien, so heißt es in Anlehnung an Enzensberger dann bei Möller, »ist Emanzipation immanent«. »Visuelle Kommunikation« in Gestalt eines erkenntnisgerichteten Unterrichts über die modernen Medien, in Gestalt der Anleitung zu ihrem praktischen Gebrauch und zur Kritik ihres falschen, nämlich der Verlängerung der bürgerlichen Gesellschaft dienenden Gebrauchs soll deshalb »Hauptfach von Beginn bis Ende des Schulbesuchs werden«. Die Kunsterzieher sind zu dieser Aufgabe nicht allein aufgrund ihrer auch von Möller herangezogenen traditionellen Beschäftigung »mit visuellen Phänomenen« berufen, sondern vor allem deshalb, weil die Medien objektiv das Erbe der Kunst angetreten haben. [...] Die (ästhetische) Kunst und die darauf bezogene Kunstpädagogik sind möglicherweise am Ende. Daß sie jedoch in den elektronischen Medien und einer als Medienpädagogik verstandenen »Visuellen Kommunikation« nach ihrem Tode weiterleben, ohne sich zu erkennen zu geben, ist Glaubenssache und bedarf der Versicherung durch einen Orakelspruch. Quelle
Ruhloff, Jörg, »Visuelle Kommunikation« – Nachfolgefach des Kunstunterrichts? In: Pädagogische Rundschau. Nr. 9, Sept. 1975, S. 719-734 Jörg Ruhloff (geb. 1940), Professor (em.) für Systematische und Historische Pädagogik an der Universität Wuppertal; grundlegende Veröffentlichungen zu Fragen der Bildung und Erziehung. 2002 Ehrendoktorwürde...



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