E-Book, Deutsch, 228 Seiten
Benz / Eichenbach / Schörghofer Wenn alte Wellen singen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-943531-43-5
Verlag: Burgenwelt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wassergeschichten aus dem Mittelalter
E-Book, Deutsch, 228 Seiten
ISBN: 978-3-943531-43-5
Verlag: Burgenwelt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wer dem Wasser richtig zuhört, dem offenbaren sich Geschichten aus längst vergangener Zeit – geheimnisvoll, beängstigend, tragisch.
Höre davon, wie aus dem Wunsch, auf dem Seeweg neues Land zu erkunden, ein wahrer Alptraum wird. Sieh bangen Herzens zu, wenn Könige in der nassen Flut ihr Leben lassen. Sei dabei, wenn die Nordländer in eine fremde Welt aufbrechen. Ergründe die Geheimnisse eines höchst schicksalhaften und oft willkürlichen Elements. Denn Wasser gibt und nimmt gleichermaßen ...
16 Autorinnen und Autoren haben sich auf den Weg gemacht, dem kühlen Nass seine Geschichten zu entlocken. In ihren Kurzgeschichten berichten sie von Geheimnissen, die Flüsse und Seen seit Jahrhunderten bewahren, erzählen von Schätzen, die das Meer für immer vor den Augen der Welt verborgen hat, und von magischen Wesen, deren Kontakt mit den Menschen trotz guter Absichten manchmal viel Schaden anrichtet.
Hör genau hin und lausche den Klängen des Wassers, wenn alte Wellen singen …
Weitere Infos & Material
Hochwasser C.M. Dyrnberg *** Die Leichen lagen auf dem Feld, als warteten sie darauf, geerntet zu werden. Sieben Tage hatte das Hochwasser in den Fluren rund um das Kloster gestanden. Am Pfingstsonntag war der Fluss gegen Abend über seine Ufer getreten und hatte das Umland lautlos überschwemmt, die Wege überspült und sich in die Stuben der Bauernhöfe ergossen. In der achten Nacht kroch die dunkle, dreckige Brühe schließlich in das Flussbett zurück, hinterließ Schlamm und zerstörte Äcker – und gab drei Tote frei. Drei Leichen, die auf dem klostereigenen Feld südlich der Anhöhe unserer Abtei wie verstreute Getreidegarben liegengeblieben waren. Wir entdeckten sie in aller Frühe nach dem Morgengebet, während des Rundganges, der uns einen Überblick über die drohenden Ernteverluste verschaffen sollte: kleine, unförmige Erhebungen, die aus der Ferne an Steine oder morsch gewordene Brückenteile erinnerten. Erst als wir näher an sie herantraten, erkannten wir, dass es sich um menschliche Körper handelte, verkrustet mit stinkendem Morast, in gekrümmter Haltung, wahrscheinlich die Leiber von Frauen, sicher aber war ich mir in diesem Punkt nicht. Unsere Worte versiegten. Stumm standen wir zwischen den grausigen Funden wie Verlorene in einem Labyrinth. Der Prior fand als Erster seine Stimme wieder. Erst vor eineinhalb Jahren hatte ihn der Bischof in unser entlegenes Kloster gesandt, um den Posten des Stellvertreters zu besetzen. Er war, wie man so sagte, in der Welt herumgekommen und hatte an angesehenen Universitäten studiert, an diesem Morgen aber wich auch aus seinem Gesicht alles Weltmännische. »Laufe zurück ins Kloster«, sagte er zu mir gewandt. »Benachrichtige den Abt! Sofort!« Ich selbst, der ich hier das Wort zu führen und mir die längst vergangenen Geschehnisse in Erinnerung zu rufen habe, war ein Bauernjunge aus der Gegend und zur damaligen Zeit noch Novize. Ich tat wie befohlen, lief den schmalen Weg hinauf zur Abtei und weiter in die Gemächer des Abtes, wo er wie so oft mit dem Braumeister zusammensaß. Im Verlauf der Amtszeit des Abtes war unser ärmlicher Konvent zu einer blühenden Klosterbrauerei gediehen. Was in früheren Zeiten bloße Leidenschaft einer Handvoll Mönche gewesen war, diente nun als Haupteinkommensquelle, ja hatte der Abtei zu Reichtum verholfen. Von einer seiner wenigen Reisen hatte der Abt die Idee mitgebracht, dem Biersud Hopfen beizumengen, ein Getreide, das bis dahin lediglich als Heilkraut zur Beruhigung der Nerven sowie gegen Magenbeschwerden Verwendung gefunden hatte. Schon die ersten Versuche überzeugten geschmacklich, und bald waren die in der Bierbrauerei sonst üblichen Gewürze wie Lavendel, Lorbeer oder Gagelkraut zur Gänze aus dem klostereigenen Rezept getilgt. Mittlerweile war das schmackhafte Bier im gesamten Bistum bekannt; fässerweise brachten wir das herbe Gesöff in die Städte, wo es uns die reichen Herren regelrecht aus den Händen rissen, und die wenigen eigenen Felder unserer Abtei reichten längst nicht mehr aus, die Produktion zu stemmen. Das Kloster fraß Hopfen wie ein vielköpfiges Ungeheuer, und so verwunderte es nicht, dass die Grundherren im Umkreis allesamt längst auf Hopfenanbau umgestiegen waren. Im Einklang mit der klösterlichen Gemeinschaft kamen auch sie zu Vermögen – und dennoch hätten wir jeden Monat weit mehr von unserem Bier verkaufen können, als wir zu liefern imstande waren. Das Hochwasser war für uns demnach eine reine Katastrophe und entsprechend schlecht war die Stimmung des Abtes. »Was willst du?«, fuhr er mich an. Ich setzte ihn über unseren Fund in Kenntnis und erwartete, dass er erst sein Gespräch zu Ende führen, erst noch über anstehende Lieferungen, Vorbestellungen oder Verfeinerungen des Gärprozesses sprechen wollen würde – aber weit gefehlt: Sogleich sprang er auf und eilte mit mir gemeinsam aus den Klostermauern hinab zu jenem Feld, wo die Mitbrüder warteten. Als wir zum Stehen kamen, rang der Abt um Atem. Das schnelle Gehen war ihm ob seiner Leibesfülle nicht gut bekommen. »Drei?«, wiederholte er keuchend, nachdem sein Stellvertreter die fieberhaft vorgebrachten Ausführungen beendet hatte. »Drei«, bestätigte der Prior und zeigte mit seinem Finger auf die nicht weit von uns entfernten Funde. Der Abt nickte mehrmals, dann jedoch versank er in grimmiges, stirnrunzelndes Schweigen, wie wir es auch ohne seinen Beistand zusammengebracht hatten. Wir mochten mehrere Minuten so dagestanden haben, still betend und grübelnd, bis schließlich einer der jüngeren Brüder, an dessen Namen ich mich nicht mehr zu erinnern vermag – wie ich ohnehin viele Geschehnisse dieser Tage aus meinem Gedächtnis verbannt habe –, einen Vorschlag kundtat: »Wir könnten«, sagte er leise, »die Bauern flussaufwärts befragen. Vielleicht wissen sie, wer die Toten sind, vielleicht …« »Die Bauern befragen?« Die Stimme des Priors klang weder aufgebracht noch spöttisch, vielmehr unnachsichtig dozierend, als würde er einen Gedankengang in seine Einzelteile zerschneiden. »Was soll das bringen? Im besten Fall kennen wir dann die Namen dieser Unglücklichen. Haben wir jedoch wirklich verstanden, was hier geschehen ist, wenn wir wissen, dass diese hier Maria und jener dort Franz hieß?« Entweder war der Prior hinsichtlich der Geschlechter der Toten zu einem anderen Urteil als ich gekommen, oder er hatte noch nicht genau genug hingesehen, jedenfalls schien er eine Antwort zu fordern, als glaubte er, der junge Mönch würde ein theologisches Streitgespräch mit ihm beginnen wollen. Wie nicht anders zu erwarten verstummte dieser jedoch bloß errötend und senkte den Kopf. »Mir scheint«, wandte sich der aus seiner Versunkenheit erwachte Abt an seinen Stellvertreter, »Ihr wollt uns etwas mitteilen?« Der Prior drehte sich zu dem Fragenden um. Für einige Augenblicke schien er seine Gedanken zu sammeln. »Ich habe meine Novizenjahre in einem Kloster an der Donau verbracht«, begann er. »Dort werden jeden Frühling Leichen angeschwemmt. Die Bauern verscharren sie meist sogleich entlang des Ufers. Sie gehen davon aus, dass sich diese Verdammten freiwillig in die Fluten stürzten. Und Todsündern bleibt die Feier eines christlichen Begräbnisses ja verwehrt. Bei einem Toten dürften auch wir von einem Selbstmörder ausgehen. Hier aber liegen drei auf unserem Feld. Drei Tote auf einen Streich! Und darüber hinaus sehen diese drei, so viel ich zu erkennen vermag, nicht aus wie die Wasserleichen, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekommen habe. Die wenige Haut, die wir sehen können, ist nicht aufgebläht.« »Ich sehe nur Dreck«, unterbrach ihn der Abt. »Ich zeige Euch, was ich meine«, antwortete der Prior, der während des Erzählens an einen der Leichname herangetreten war. Der Klostervorsteher jedoch winkte ab. »Nein«, sagte er barsch. »Sagt mir lieber, worauf Ihr hinauswollt.« »Worauf ich hinauswill? Der Fluss hat die Toten fast direkt vor unser Tor gelegt. Durch die Natur aber spricht Gott selbst zu uns, sie ist neben der Bibel das zweite Buch, in dem wir sein Wort erfahren dürfen. Daher liegt die Frage nahe, ob diese Toten nicht ein Zeichen sind.« Ich erinnere mich, dass seine Worte durchaus Eindruck machten. Mancher in der Runde nickte, der Abt aber sah ihn unumwunden an. »Ich vermag dem Gedankengang zwar zu folgen«, antwortete er, »aber ich verstehe noch immer nicht, wozu Ihr uns ratet.« »Wir müssen die Toten selbstverständlich untersuchen«, gab der Prior zurück. »Untersuchen?« Die Stimme des Abtes überschlug sich. »Ja, untersuchen. Wenn es sich um ein Signum Gottes handelt, dürfen wir die Toten nicht im Boden verscharren, als würde es sich bei ihnen um namenlose Selbstmörder handeln!« Während des Schweigens, das auf diesen Vorschlag folgte, blickten die Oberhäupter des Klosters in unsere kleine Runde. Ich selbst erlaubte mir nicht aufzusehen. Dann murrte der Abt etwas Unverständliches, das wenig freundlich klang, zuckte aber zugleich mit den Schultern. »Von mir aus«, sagte er schließlich, die Worte hervorpressend, als hätte er solche Zahnschmerzen, dass es ihm widerstrebte, den Mund weiter zu öffnen als unbedingt notwendig. »Untersucht sie und erstattet mir heute Abend Bericht. Wenn Ihr nicht findet, wonach auch immer Ihr sucht, werden die Unglücklichen morgen in den Fluss geworfen. Soll das Wasser sich um sie kümmern.« Im Gehen wandte er sich noch einmal seinem Stellvertreter zu: »Und stört unter keinen Umständen das Klosterleben mit Euren Untersuchungen! Wenn Ihr die Toten schon in unsere Mauern bringen müsst, dann schafft sie in den hintersten Raum des Kellergewölbes, dort, wo die leeren Fässer lagern. Von denen ja viele in diesem Zustand verbleiben werden, ob dieses verdammten Hochwassers«, setzte er hinzu. --- In meiner linken Hand hielt ich die Fackel, in meiner rechten den Kübel mit Wasser; der Prior selbst hatte die Bürste. Außer uns befand sich niemand hier unten – niemand zumindest, der am Leben gewesen wäre. Vor uns, auf dem kalten Boden...