Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-641-25717-0
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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1 Mündendorf
Ein Kleinstadtkrankenhaus, ein lichterfüllter Morgen, keine einzige Wolke am Himmel. Trotzdem kalt für einen Jahrhundertsommer, denkwürdig kalt. So kommt es ihm vor. Der Mann, etwa um die vierzig, sieht aus wie ein kleiner, sehr dicker Junge, wiegt hundertdreißig Kilogramm bei einer Körpergröße von eins siebzig, wobei das um fünf Zentimeter geschummelt ist. Er achtet auf sich, seine Kleidung ist ordentlich, ein wenig ungebügelt, ein wenig aus der Mode, Kleinstadtfarben, er ist nie ganz von hier weggekommen. Er hält sich in seiner zerschlissenen Lederjacke an der Brüstung fest und zieht mit zittrigen Fingern an seiner Zigarette, er ist ein massiges, gekrümmtes Häufchen Elend. Zuerst ist er hier hoch, um Zeit zu gewinnen, hat sich einen doppelten Espresso bestellt und ist raus in den Außenbereich der Cafeteria. Von der funktionalen Dachterrasse aus schaut man in alle Richtungen auf die Mittelgebirgslandschaft. Eine historisch interessierte Gruppe von Bewohnern des angegliederten Seniorenheims hat vor Jahren mit zittriger Hand Schilder gestaltet, auf denen das Panorama erklärt wird. Da oben die Burgruine, von wo aus die Grafen einst den ganzen Landstrich beherrschten. Da unten die kurz nach dem Bauernkrieg durch einen verheerenden Brand vernichtete Stadt. In der Mitte ein verwaister und asbestverseuchter Betonblock, das ehemalige Einkaufszentrum. Dort vorn der Kindergarten, wo sie ihm alte Märchen beigebracht haben. Direkt daneben der Friedhof für die Protestanten. Und darüber, etwas kleiner, der für die Katholiken. Wer nichts ist, kommt auf die grüne Wiese, erzählte man sich früher. Es hat verdammt noch mal alles nichts gebracht. Denkt er und verbrennt sich die Finger. Er wirft den kokelnden Filter weg und steckt sich aus Reflex den schmerzenden Zeigefinger in den Mund. Eine Brandblase, möglicherweise bleibt eine Narbe, Feuer kann er nicht mit Feuer bekämpfen, wann lernt er das endlich. Sein Name ist Peter Pinscher, seine Mama (und nur die) darf ihn Peterle nennen, das denkt er so, weil noch kein Platz ist für Vergangenheitsformen. Eine raucht er noch. Er sollte jetzt das Treppenhaus nehmen, nach unten ins Foyer gehen und sich anmelden, er hat seinen Termin, danach ist es zu spät. Das Abschiedszimmer ist die Perle der Geriatrie, ständig überbucht, mit warmen Farben gestrichen und ausgestattet mit Extras wie dem beleuchteten Salzkristall. Nur die eine Zigarettenlänge noch, besser eine halbe, denn er hat es sich neuerdings angewöhnt, jeweils das Ende der Zigarette abzureißen, so raucht er schon mal um die Hälfte weniger, so wird er bald damit aufhören, denkt er. Pinschers Fingernägel sind abgekaut, nein, in Wahrheit einfach nur so kurz geschnitten wie möglich. Vor dem, was sich unter längeren Nägeln ansammeln könnte, gruselt er sich. Der Arbeit wegen. Er trägt sein volles Haar nach links gescheitelt, er fährt sich den ganzen Tag mit der rechten Hand durch die Frisur, bis sie trotz Duschens schon Stunden später wieder fettig ist. Ein Tick von vielen, die er sich nie mehr abgewöhnen wird. Sein leicht nach vorn gebeugter Gang ist ein Symptom seiner ständigen Lauerstellung. Du bist immer im Krieg, aber hier ist es doch friedlich, wann lernst du das endlich. Sein Aussehen gibt nur zum Teil seine Maßlosigkeit preis. Er frisst, statt zu essen, er säuft, statt zu trinken, er quarzt, statt zu rauchen. Wenn er verliebt ist, dann im Wahn, wenn er sich was wünscht, dann unbedingt. Er arbeitet nicht, er ackert, er ist nicht traurig, er krepiert vor Kummer. Pinscher steht auf der Dachterrasse des Kleinstadtkrankenhauses und sucht in den Bäumen: Irgendwo müssen sie sein. Als er siebzehn Jahre alt ist, da fliegt an einem Sonntagabend sein allererster Wellensittich zur Haustür hinaus, genau drei Tage vor Weihnachten. Unklar, wie er sich aus dem Käfig befreit oder ob jemand fahrlässig das Törchen offen lässt, unwahrscheinlich, dass das Tier die darauffolgende Frostnacht übersteht. Trotzdem hält Pinscher seit damals Ausschau in den Bäumen. Seit über zwei Jahrzehnten denkt er über die rein theoretische Möglichkeit nach, dass sein Wellensittich namens Bubi Pinscher überlebt haben, dem Tod ein Schnippchen geschlagen und neu angefangen haben könnte in der Wildnis der Kleinstadt. Den Schrecken abschütteln. Ein Nest bauen. Eine Familie gründen. Ganz groß werden. Bubi und seine unüberschaubare Wellensittichsippe. Mit ein paar Gramm verschwundener Federn geht damals alles los. Beginnt die Erosion. Löst sich die Familie auf, schleichend, über die Jahre. Zuerst gerät vor über zwanzig Jahren die Mama wortwörtlich ins Rutschen, plötzlich liegt sie mit Blutungen im Gehirn in der Einfamilienreihenhausküche, genau einen Tag nach dem Verschwinden des Wellensittichs. Zustand nach Aneurysmaruptur, Arteria communicans anterior, erblich und adipositasbedingt, die Operation rettet ihr das Leben und hinterlässt eine wie zu früh an Alzheimer laborierende, ratlose Mama. Danach geschieht alles, wie man es in einer Arbeiterfamilie mit der handelsüblichen Neigung zu Alkoholgenuss und Nikotinabusus erwarten darf: Eines Tages werden zum Trost zwei neue Wellensittiche und ein Terrier angeschafft, die alsbald aus unbekanntem Grund tot im Käfig liegen (die Vögel) oder wegen Unerziehbarkeit ins Tierheim zurückgebracht werden (der Hund), eines Tages hält Pinscher jemand ein Messer an die Kehle und stiehlt ihm zwanzig Euro und ein altes Handy (Beschuldigter unbekannt), eines Tages darf seine Mama sich ein Meerschweinchen aussuchen, das bei der ersten Gelegenheit an einem regnerischen Herbsttag über die Terrasse des Reihenhauses in den Garten flieht, eines Tages kriegt sein Papa beim Rasieren vor dem Badezimmerspiegel einfach keine Luft mehr, sie suchen nach Gründen, sie finden Krebs, sie behandeln, was nicht mehr zu behandeln ist, zwei Wochen später ist er nicht mehr da, was hast du erwartet, ewige Jugend, Starkraucher, Pegeltrinker, hartes Arbeitermilieu, eines Tages verkauft Pinscher das Haus seiner Kindheit samt den ganzen Möbeln und Schränken und Fotoalben und Pflegebetten, damit es endlich raus aus dem Kopf ist, er besorgt ein Zimmer im Altersheim für seine Mama, und eines Tages, das wusste er, wird er hier auf der Dachterrasse des in unheilvollem Mimosengelb gestrichenen Kleinstadtkrankenhausbaus stehen und nichts fühlen außer Hunger, schon wieder. Du kannst nicht kraft deiner Gedanken deine gesammelte Trauer in den Eisbecher vor dir projizieren. Nein, auch nicht in den Cheeseburger, in die salzigen Pommes oder in die frittierte Ente vom Thai-Imbiss, du kannst sie nicht hinunterschlingen wie ein Sparmenü von McDonald’s, das kannst du nicht lernen. Du hast gelernt, andere zum Trauern zu bringen, du hast gelernt, ihnen das abzunehmen, nur für dich selbst siehst du schwarz. Probier es ruhig mit der Allmacht des Sättigungsgefühls, verbieten können wir es dir nicht. Pinscher atmet ein letztes Mal durch, jetzt wirft er die Kippe weg, diesmal rechtzeitig, jetzt stemmt er seinen massigen und unsportlichen Körper vom Geländer ab und gerät ins Straucheln, er schiebt sich sein Hemd in die Hose, richtet die Lederjacke, fährt sich durchs Haar, steckt sich den verbrannten Zeigefinger erneut in den Mund, als würde das Kühlung bringen. Der Sommer wird endgültig geschluckt, als er die Treppe nimmt und das Foyer betritt. Er meldet sich an der Pforte wie vorgeschrieben an und starrt betreten auf den Boden. Die sachliche Innenbeleuchtung der Krankenhäuser. Die Einsamkeit der Stuhlreihen mit den vom Sorgenschweiß angegriffenen Kunstlederarmlehnen. Pinscher wünscht sich die passende Musik aus den Kliniklautsprechern, sagen wir, das Vorspiel zu »Tristan und Isolde«, warum nicht Wagner, warum nicht dieser vernichtende Akkord, und da ist sie auch schon im Ohr: Er schreitet jetzt förmlich mitten hinein in die Katastrophe, geht durch das Foyer des Krankenhauses, der beißende Geruch von Desinfektionsmittel rückt ihm auf die Pelle, er greift schon wieder nach einer Zigarette, zieht sie in der Jacke aus der Schachtel, aber dann zerdrückt, zerreibt er sie mit dem gewaltigen Forte der Musik in seinem Ohr in der Jackentasche. Vor den Aufzügen bleibt er abrupt stehen. Musik aus. Der neue Getränke- und Snackautomat. Sie haben ihn letzte Woche erst aufgestellt. Eine Attraktion, über die sogar die Lokalzeitung groß berichtet hat. Mit warmen und kalten Gerichten 24/7. Mit einer Produktpalette, wie sie nur an großen internationalen Bahnhöfen wie in Antwerpen zu finden ist. Ein traumhaftes Alleinstellungsmerkmal für ein Krankenhaus dieser Größe. Pinscher fingert nach Kleingeld, das Frühstück ist noch gar nicht lange her, aber der Weg hier hoch war ermüdend und überhaupt, tröste dich, wo du nur kannst, immerhin das hast du gelernt. Er wirft ein Zwei-Euro-Stück in den Schlitz und wählt einen erwärmten Brownie mit flüssigem Schokokern aus. Nichts passiert. Pinscher drückt erneut, keine Reaktion des Geräts. Er presst den Knopf fester, der Kuchen samt flüssigem Schokokern bleibt drin, Pinscher hingegen lässt alles raus, er explodiert ohne Vorankündigung, er flucht und hämmert auf den Automaten ein, der Schweiß steht ihm auf der Stirn, die fußfaule Empfangsdame macht einen langen Hals und aus dem Wartezimmer der Notfallambulanz haben ein verstauchter Knöchel und eine vermeintliche Lungenentzündung nichts Besseres zu tun, als um die Ecke zu glotzen. Zeigt mich doch an, sagt Pinscher ganz ruhig und sieht den alarmierten Patienten ins Gesicht, zeigt mich doch ganz einfach an. 2 Leichenbuden
Einige Wochen früher sind die Mündendorfer Mütter noch weit weg. Alles hat seinen Rhythmus. Einmal im Monat besucht Pinscher seine Mama im Altersheim. Er begrüßt sie mit einem Lächeln, verfrachtet sie mit geschulten...