Becker | Ein schönes Leben | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Becker Ein schönes Leben


1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-89480-493-0
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-89480-493-0
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein überraschendes, ungewöhnliches, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnetes Debüt eines jungen Autors

Wer nicht wegkommt aus der schäbigen Provinz, die sich Leben nennt, der bringt sich um. Und wer selbst das nicht schafft, der bekommt in Martin Beckers Erzählungen eine zweite Chance: Erzählungen, als würde Fellini einen heruntergekommenen Wanderzirkus leiten und Tom Waits dazu die Schelle schlagen.
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Das Schlimmste hier sind die ungeschriebenen Gesetze, das Allerschlimmste aber die, über die niemand spricht. Eines davon heißt: Wer dableibt, der schafft sich Hunde an. Und ein anderes: Wer es nicht schafft, wegzukommen, geht auf den Dachboden und hängt sich auf. Bei dieser Entscheidung ist Odradek angelangt, er steht unschlüssig und mit weichen Knien auf der Treppe nach oben, in der rechten Hand den Schlüssel fürs Dach, in der linken den gepackten Rucksack.
Unten, im Leben: die Mutter. Die Beine höher lagernd als den Kopf durchblättert sie zum zehnten, zum zwanzigsten Mal die Fotoalben der glücklichen Tage. Blättert, lacht auf, schläft ein, wacht auf, blättert, lacht auf. Bald kommt die Gesellschafterin, die Nacht und Tag bei der Mutter verbringen wird, Gesellschafterin nennt man das hier (und damit zum ungeschriebensten Gesetz: Spar dir die Wahrheit!).
Noch ist nichts passiert. Noch steht Odradek unschlüssig mit seinen beiden Möglichkeiten in den Händen auf den Stufen nach oben, mal macht er zwei Schritte hoch, mal zwei runter, er weiß nicht, was zu tun ist, er sagt sich leise vor, welche Möglichkeiten bleiben: Ich geh jetzt da hoch und häng mich auf. Oder: Ich geh jetzt da runter und fahr ans Meer. In diesem Moment größter Unentschiedenheit, als Odradek stehen bleibt und seine Schritte sein lässt, öffnen sich am Bahnhofdie Türen des Bummelzugs, und Heraklit von Ephesos steigt aus. Fett ist er geworden. Er trägt einen Leinenanzug, viel zu eng, ehemals schneeweiß. Behäbig trottet er von einem Ende des Bahnsteigs ans andere: Der Bürgermeister fehlt. Der Fanfarenzug fehlt. Der Männerchor fehlt. Ein dürftiger Empfang. Heraklit zieht eine dicke Zigarre aus dem Anzug und zündet sie an. Mit schweren Schritten geht er rauchend durch die Straßen. Er kommt an einem Hof vorbei, die großen Hunde wedeln ihm am Zaun entgegen. Er will ihre Schnauzen streicheln, doch den Rauch seiner Zigarre beantworten die Hunde mit lautem Bellen, und Heraklit schreckt zurück.
Odradek trifft eine Entscheidung, endlich. Ersteckt den Dachbodenschlüssel in die Hosentasche, geht runter zur Mutter, verabschiedet sich von ihr mit einem Kuss auf die alte Wange und steht vor dem Haus. Hier ist gerade Sommer und alles ist lau und hell, noch eine Stunde, bis die Sonne untergeht. Die
Gesellschafterin kommt pünktlich auf dem Fahrrad angefahren, und Odradek startet beruhigt den Motor, fährt davon und fährt und fährt und fährt.
Die einen sagen, der Herrenausstatter ist ein adretter alter Mann. Andere meinen, er sei ein Schleimer. Immer um das Wohl der Kundschaft bemüht, stets in Bewegung und kurzatmig. Gerade hat er die Kasse gemacht und die Kurzwaren reingeschoben, gerade schlüpft er zur Tür hinaus und will abschließen, als er Heraklit kommen sieht. Schon aus der Ferne winkt er ihm zu. Ein Fremder, denkt der Herrenausstatter und verschwindet flink wieder im Laden, als hätte er Heraklit gar nicht gesehen. Schon öffnet sich die Tür, und Heraklit kommt mit Zigarre zwischen den Zähnen herein. Rauchen verboten, ruft der Herrenausstatter und springt über die Theke. Geschlossen, außerdem haben wir schon geschlossen. Er zupft an Heraklits speckigem Ärmel. Heraklit streift die Hand des Herrenausstatters ab und räuspert sich: Mein Name ist Heraklit von Ephesos, ich bin ein Gelehrter. Ungeheuerlich, sagt der Herrenausstatter, ein Gelehrter. Heraklits Ton imponiert ihm. Er wittert ein Geschäft. Ich brauche einen neuen Anzug, und zwar dalli, sagt Heraklit. Donnerwetter, ein Mann der Tat, sagt der Herrenausstatter. Aber wir haben geschlossen, es geht erst morgen. Heraklits Miene versteinert. Der Herrenausstatter tänzelt ein wenig hilflos vor ihm herum, zupft Heraklit die Falten aus dem Anzug. Er ist nicht auf Widerspruch gefasst. Jeder weiß, dass der Herrenausstatter zu den angesehensten Männern im Ort gehört, immer hat er die beste pürierte Leber vorrätig. Die Männer hier haben eine Schwäche für pürierte Leber. Morgens, mittags, abends ein Stück Leber, dann bleibt das Herz gesund für immer: ein geschriebenes Gesetz, endlich. Heraklit weiß das auch, baut sich vor dem Herrenausstatter auf und sagt: Nein, ich brauche den Anzug heute. Und ich suche eine Bleibe für die Nacht, aber es muss morgens, mittags und abends gute Leber geben, nein, keine gute, die beste pürierte Leber am Ort, sagt Heraklit, kneift die Augen zusammen und zieht genüsslich an seiner Zigarre. Was für eine Gelegenheit, denkt der Herrenausstatter und sieht sich schon im Gewand des Bürgermeisters, der die Weisheit in den Ort gebracht hat. Gut, sagt er, also gut. Sie sollen Ihren Anzug haben, und die beste Leber noch dazu. Schon hüpft der Herrenausstatter mit dem Maßband um Heraklit herum, murmelt Konfektionsgrößen, verschwindet in der einen Sekunde in der Tiefe des Ladens, um in der anderen mit einem Stoß weißer Anzüge wieder um Heraklit herumzuscharwenzeln. Den teuersten, sagt Heraklit. Her damit. Donnerwetter, ruft der Herrenausstatter, eine gute Wahl, eine gute Wahl! Ich werde Ihnen Unterkunft gewähren, mit der besten Leber weit und breit. Da Heraklit nun edleren Schnitt trägt, entsorgt er seine alten Kleider schon beim Rauskommen aus dem Laden in einem Papierkorb. Die Müllabfuhr kommt, ein Müllabfuhrmann leert den Papierkorb aus, er ist nicht aus dem Ort, sprich: Er ist gewissenhaft, also nimmt er den Leinenanzug und legt ihn zurück vor die Tür des Herrenausstatters. Nur fünf Minuten später marschiert ein Penner mit großer Spitznase und langem schwarzen Bart auf dem Weg vom einen Nachbarort in den anderen vorbei und sammelt den Leinenanzug auf. Hustend und unter großem Aufwand schüttelt er Hose und Jacke aus auf der Suche nach Geld oder Essbarem. Wütend wirft er die leeren Kleider auf den Boden und tritt darauf herum; und als er sie nicht kaputtkriegen kann, setzt er sich in das nahe gelegene Buswartehäuschen des regionalen Busverkehrs und legt den Anzug neben sich. Er wartet, bis sich die Gardinen der Häuserfront wieder geschlossen haben und geht eilig und ohne Anzug davon. Heraklit liegt mittlerweile, und zwar auf einem bequemen Bett im bequemen Zimmer des Herrenausstatters, der bereits am Telefon hängt und mit flüsternder Stimme die Kunde vom edlen Gast weiterträgt. Er ruft den Bäcker an und erzählt, ein Gelehrter namens Heraklit sei gekommen, und er hätte ihn aufgenommen, denn das verheiße eine große Zukunft.


Becker, Martin
Martin Becker wurde 1982 geboren und wuchs in der sauerländischen Kleinstadt Plettenberg auf. Er kommt aus einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet, sein Vater war Bergmann und seine Mutter Schneiderin. Er ist freier Autor für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und berichtet in Features und Reportagen unter anderem aus Tschechien, Frankreich, Kanada und Brasilien. 2007 erschien sein mehrfach ausgezeichneter Erzählband »Ein schönes Leben«, 2014 sein Roman »Der Rest der Nacht«, 2017 sein Roman »Marschmusik« und 2021 »Kleinstadtfarben«. 2024 wurde Martin Becker mit dem Margarete-Schrader-Preises für Literatur ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Halle (Saale).



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