Becker | Der Rest der Nacht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Becker Der Rest der Nacht

Roman

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-641-12296-6
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein junger Mann kommt zurück in die Kleinstadt seiner Kindheit, um das Haus seines verstorbenen Vaters zu verkaufen und mit seiner Vergangenheit abzurechnen. Er will seine Mission erfüllen und so schnell wie möglich wieder verschwinden. Nichts könnte ihn halten. Aber dann sieht er eine Frau und verliebt sich in ihre Augen, steinalt und traurig wie die Welt. Mit einem Mal ist er nicht mehr der Sohn, der das Gestern überwinden will. Mit einem Mal ist er nur noch ein Mann, der eine Frau liebt …
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DER FEUERWEHRMANN ES WAR MITTEN in New York City, als meine sorglose Feuerwehrmannexistenz eine Wende nahm. Damals war ich nur ein Junge in einer viel zu großen Uniform. Ich dachte, ich würde was vom Leben verstehen. Eine Szene aus meiner Kindheit konnte ich nie vergessen: Wie die Feuerwehrleute im Winter in unser Haus kamen, als der Kamin brannte. Stark ihre großen Hände, blitzend ihre mächtigen Zähne. Von diesem Tag an wollte ich auch so sein, stark meine großen Hände, blitzend meine mächtigen Zähne. Ich habe recht fleißig trainiert, schon als Kind, ich habe mich mit fettigem Essen zurückgehalten, ich habe Feuerwehrbücher gelesen und Schulmäppchen in roten Farben benutzt. Auf dem Schulweg dachte ich mir Einsätze aus, bei denen ich die ganze Familie rettete, indem ich sie auf meinem Handteller vom Dach des Hochhauses nach unten trug, bis die Menschenmasse mir applaudierte und mich stundenlang hochwarf. Hedwig wohnt in einem grauen verwitterten Haus am Ende einer schmalen Straße. Ich schaue auf die Klingelschilder – einen einzigen Namen kann man noch lesen, die anderen sind schon verblasst, und an den zerbrochenen und vernagelten Fenstern sehe ich, dass das Haus tatsächlich bis auf eine Wohnung leer ist. Hedwig wohnt im Erdgeschoss. Ich atme durch und drücke auf den Klingelknopf. Ich habe nichts bei mir, nicht mal den chinesischen Wein und erst recht nicht die Spritze – noch nicht. Nach einer Ewigkeit geht der Türsummer, ich drücke die Haustür auf und ziehe meine Uniform und meine Mütze zurecht: Die Knöpfe auf den Schultern blitzen, mit jedem Schritt klimpern die Abzeichen auf meiner Brust, ich bin ein stattlicher Feuerwehrmann. Ich betrete den Hausflur und grüße laut, aber niemand antwortet. Ich komme von der Feuerwehr, sage ich, ich sammele Spenden, aber eine Tafel Schokolade tut es auch. Nichts. Ich nehme die Stufen nach oben. Die Tür zu Hedwigs Wohnung ist angelehnt. Auch als ich anklopfe, regt sich nichts. Eine Falle, denke ich. Mission abbrechen. Aber dann schiebe ich die Tür mit meinem Fuß ein Stück weiter auf und bin in der Wohnung. Sie ist klein, sehr klein, ein Bad, eine Küche, ein Wohnzimmer. Auf der Anrichte im Flur steht kein Telefon, nur eine kleine Stoffkatze schläft dort. Ich höre das Zetern des Wellensittichs. Ich bewege mich so leise ich kann und rechne damit, jeden Augenblick eine Krücke auf den Kopf zu bekommen. Aber nichts dergleichen geschieht. Die Küchentür steht offen, und da steht sie: Hedwig. Wie klein und dünn und krumm sie ist. Eine fleckige Bluse trägt sie, dazu eine beige Stoffhose und Sandalen. Sie ist damit beschäftigt, Schnitzel zu panieren und in das siedende Fett der Bratpfanne zu legen; auf dem Tisch türmen sich die Kartoffeln, daneben die Schalen in altem Zeitungspapier. Hallo, sage ich. Sie hört mich nicht. Guten Tag, sage ich. Keine Reaktion. Also drehe ich mich um und gehe ins Wohnzimmer: alles neu. Ein schlichtes Sofa. Ein Fernseher. Keine Dekoration. Kein einziges Bild an der Wand. Doch, eine einzelne Fotografie: Hedwig selbst, links und rechts gestützt von einem Mann und einer Frau in der Kleidung von Pflegern. Alle lachen. Hinten in der Ecke steht ein schmales Bett, so schmal, als wäre es für ein Kind gedacht. Über dem Bett hängt ein Regal mit einigen Aktenordnern und Papieren. Ich lese. Medikamentenplan. Einteilung der Pfleger und Haushaltshilfen. Montag bis Freitag. Badetage, Kochtage, Putztage. So schnell wie möglich verschaffe ich mir einen Überblick: Es wird nicht schwierig sein. Sie ist viel allein. Ich war kein guter Schüler, und nur mit Müh und Not schaffte ich meinen Abschluss. Ich übte an den Gartenschläuchen, wie andere Leute Klavier übten. Jeden Tag zielte ich auf Blumen oder selbst errichtetes Astwerk, das ich mir als brennendes Hochhaus vorstellte, anstatt über den Büchern zu brüten, anstatt mir ein kleines Moped zu leisten und die ersten Abende in den Kneipen zu verbringen. Natürlich konnten sie mich nicht ablehnen, wo ich doch schon die Nacht vor der Feuerwache verbracht hatte, um den Tag meiner Vorstellung nicht zu verschlafen: Ich wurde tatsächlich ein Feuerwehrmann und lernte den Umgang mit der Technik, mit den richtigen Schläuchen, mit den heißen und den kalten Gerätschaften. Sogar die Haare ließ ich mir feuerrot färben, um die Zähne zu fletschen, um zu beweisen, dass ich mich nicht vor unserem ärgsten Gegner fürchtete, dass ich ihn immer bei mir trug. Rasch wurde ich befördert, obwohl ich noch ein Junge war. Als ich wieder in der Küchentür stehe, hat Hedwig sich an den Tisch gesetzt: Sie schneidet das halbgare Fleisch und isst. Nur der Wellensittich schlägt Alarm, aber Hedwig bekommt nichts davon mit. Hallo, sage ich. Guten Tag. Ich tippe sie vorsichtig an der Schulter an. Ich bin von der Feuerwehr, rufe ich. Um Gottes willen, sagt Hedwig, fährt herum und sieht mich durch ihre große Brille hindurch aus ihren graublauen Augen erschrocken an, wo brennt es. Beruhigen Sie sich, sage ich, nichts brennt. Wie sind Sie denn überhaupt reingekommen, sagt sie. Die Tür war offen, sage ich. Offen, sagt Hedwig. Ich möchte gern mit Ihnen reden, sage ich. Mit mir, sagt Hedwig. Was wollen Sie denn von mir, wenn es nicht brennt. Ich sammele Spenden, sage ich. Ich hab nichts, sagt Hedwig. Wir sammeln doch jedes Jahr für die Arbeit mit dem Nachwuchs und für unser Blasorchester, über eine Tafel Schokolade freuen wir uns auch, sage ich. Sie mustert mich misstrauisch. Setzen Sie sich hin, sagt Hedwig, wollen Sie mit mir essen. Das darf ich leider nicht, sage ich. Aber einen Kaffee trinken Sie, sagt Hedwig und steht auf, das dürfen Sie doch wohl. Das darf ich, sage ich. Man muss ja auch mal Pause machen, sagt Hedwig. Was wollen Sie doch gleich. Eine kleine Spende für die Feuerwehr, sage ich. Sie haben sich aber rausgeputzt, sagt sie, schlimmer als die Papageien im Zoo. Dann konnte ich durch die großzügige Unterstützung der Zigarettenpapierfabrik nach Amerika. Die amerikanischen Kollegen unterstützten die Werksfeuerwehr, ich wurde einer großen Wache mitten in Brooklyn zugeteilt. Stellen Sie sich das vor, ein Junge wie ich in Amerika. Die meiste Zeit fürchtete ich mich, weil die Feuer dort anders waren, anderen Gesetzen gehorchten, gelernt hatten, sich im Hinterhalt neu zu formieren. Ja, ich träumte sogar manchmal, dass das Feuer eine andere Sprache spricht. Und dann, bei einem großen Brand, rettete ich mit meinen feuerroten Haaren ein kleines feuerrotes Kätzchen, und die Kameraden schimpften mich aus und ich musste ab dieser Nacht niedere Putzdienste verrichten, denn nur Sekunden nach dem Kätzchen und mir brach das Haus in sich zusammen. Da verstand ich: Ich bin nur ein Junge in einer viel zu großen Uniform. Während Hedwig an der Kaffeemaschine hantiert, sehe ich sie mir genauer an: die Narben am Kopf. Man hat ihr den Schädel geöffnet, mehr als einmal. Die Falten im Gesicht. Wie viel sie geraucht haben muss. Die grauen, trübe gewordenen Augen. Holen Sie die Tassen und die Tellerchen, sagt Hedwig, ich bin so schlecht zu Fuß. Warum vertraut sie mir, vielleicht ist sie gewarnt worden, vielleicht ist das eine Falle. Und zwei Gabeln und Löffel, es gibt Kuchen. In dem Schrank, frage ich. Wo denn sonst, sagt Hedwig. Meine klimpernde Uniform erhebt sich und geht zum Küchenschrank. Verstohlen sehe ich mich um, und als ich meiner Sache sicher bin, wühle ich in dem kleinen Stapel mit den Briefen: In einem Umschlag entdecke ich einen Krankenbericht, ich greife danach, als Hedwig sich umdreht, stopfe ich das Blatt schnell in meine Tasche. Sie hat nichts gesehen, sagt in unwirschem Ton: Wird das bald mal was. Ich finde keine Tassen, sage ich. Setzen Sie sich hin, sagt Hedwig, setzen Sie sich hin, das ist ja nicht auszuhalten, Donnerwetter. Energisch hinkt Hedwig zum Schrank, greift nach den Tassen, greift nach den Tellern und trägt sie zum Tisch. Wir trinken Kaffee und essen Kuchen. Es ist, als hätte Hedwig schon lange mit mir gerechnet. Es ist, als würde sie mich kennen. In manchen Augenblicken habe ich Lust, meine klimpernde Uniformjacke an den Nagel zu hängen, manchmal habe ich Lust, ihr tief in die Augen zu sehen und zu sagen: Da bin ich. Du weißt es vielleicht nicht mehr, aber wir kennen uns gut, so gut, wie man sich selten kennt. Aber ich werde nicht schwach. Ich stelle ihr Fragen, auf die sie keine Antworten weiß: Nicht, wie lange sie den Wellensittich schon hat, wohl aber, dass er früher an Heiligabend auf ihrer Schulter saß und sie sich die Weihnachtsgans geteilt haben. Nicht, wo ihre Kinder sind, wohl aber, dass sie welche hatte, mindestens eins. Nicht, warum sie in die Wohnung gebracht wurde, wohl aber, dass sie früher woanders gewohnt hat, da, wo alles größer und schöner war. Ja, sie sei manchmal einsam, aber der Wellensittich, ach ja, und in die Metzgerei würde sie allein gehen; jeden Dienstag gehe ich allein in die Metzgerei, dann gibt es warme Fleischwurst und Cola, und im Fernsehen laufen spannende Krimis und gute Serien, und irgendwann mache ich wieder einen Urlaub an der Nordsee, und irgendwann gehe ich wieder ein Eis essen, ganz allein. Und Sie, fragt Hedwig plötzlich und sieht mich scharf an, was machen Sie denn im Leben. Das ist eine lange Geschichte, sage ich und lache. Erzählen Sie schon, das ist ja furchtbar mit Ihnen, sagt Hedwig. Und ich erzähle ihr mein Leben als Feuerwehrmann, von Anfang an. Zurück in der Stadt, ließ ich mich in den Innendienst versetzen, und auch da wurde ich rasch befördert, es gelang mir, neben der Arbeit große Forschungsarbeiten für die Feuerwehrgeschichte zu leisten, und so wurde ich zum schnellsten und klügsten Mann in der Einsatzzentrale, ein gefragter und gern gesehener Gast bei Vorträgen über...


Becker, Martin
Martin Becker wurde 1982 geboren und wuchs in der sauerländischen Kleinstadt Plettenberg auf. Er kommt aus einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet, sein Vater war Bergmann und seine Mutter Schneiderin. Er ist freier Autor für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und berichtet in Features und Reportagen unter anderem aus Tschechien, Frankreich, Kanada und Brasilien. 2007 erschien sein mehrfach ausgezeichneter Erzählband »Ein schönes Leben«, 2014 sein Roman »Der Rest der Nacht«, 2017 sein Roman »Marschmusik« und 2021 »Kleinstadtfarben«. 2024 wurde Martin Becker mit dem Margarete-Schrader-Preises für Literatur ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Halle (Saale).


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