Warum ich in die Kirche zurückkehre und das Schweigen breche
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-451-82677-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Teil 2
Blick in die Gegenwart
Rückkehr in die Kirche und Rückkehr der Vergangenheit
Nach allen katholischen Abgründen der katholischen Kirche, in die ich als Kind und Jugendliche habe blicken müssen, meide ich, halb bewusst, halb unbewusst, während meines gesamten Studiums alles Katholische und Kirchliche, lese nicht im Evangelium und befasse mich nicht mit christlichen Themen. Stattdessen nähere ich mich dem Judentum an, vertiefe mich immer wieder in den Tanach, die Hebräische Bibel, und widme mich mit Begeisterung meinem Studium der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte. Gretchenfrage Kurz nach Abschluss meines Studiums werde ich schwanger und wir bekommen unser erstes Kind – und auf einmal stehen mein Mann und ich vor der Frage, ob wir unseren Sohn taufen lassen wollen. Mein Mann, der zwar ein ehemaliger Oberministrant ist, sich aber inzwischen eher im Graubereich zwischen Agnostiker und Atheist befindet, hält eine Taufe für nicht notwendig, würde es aber seiner Oma zuliebe tun, und auch ich bin hin- und hergerissen: Auf der einen Seite ist die Kirche für mich zu diesem Zeitpunkt eigentlich ein rotes Tuch und ein Bereich, den ich so gut wie möglich aus meinem Leben fernzuhalten versuche. Auf der anderen Seite habe ich das unbestimmte Gefühl, dass die Taufe irgendwie dazugehört. Schließlich entscheiden wir uns, vor allem unseren Verwandten zuliebe, für eine kleine Familien-Willkommensfeier für unseren Sohn, der eben eine kurze Zeremonie in der Kirche vorausgeht. Ein alter Prälat, den ich noch aus Kinderzeiten kenne und der mit der KPE nichts zu tun hat, erklärt sich bereit, die Taufe zu übernehmen. Taufpatin wird die Schwester meines Mannes und als Ort wählen wir die Kirche im Dorf meiner Eltern. Am Tag der Tauffeier betrete ich, mit meinem drei Monate alten Sohn auf dem Arm, das erste Mal seit vielen Jahren wieder eine Kirche. Alles fühlt sich fremd und befremdlich an und ich bin erleichtert, als die kurze Taufe endlich vorbei ist und wir zu den anderen Feierlichkeiten übergehen können. Bei der Taufe unseres zweiten Sohnes, anderthalb Jahre später, überwiegt immer noch ein ungutes Gefühl. Aber je älter unsere Kinder werden, desto akuter wird für mich jedoch eine neue »Gretchenfrage«: Wollen wir unseren Kindern bewusst ein christliches und biblisches Grundwissen, religiöse Rituale und ein bestimmtes Gottesbild mit auf den Lebensweg geben und wenn ja welche(s)? Zudem kommt unser ältester Sohn – eher zufällig – in einen evangelischen Kindergarten, in dem die christliche Erziehung großgeschrieben, kirchliche Festtage begangen und regelmäßig Kindergottesdienst gefeiert wird. Wieder bin ich hin- und hergerissen: Auf der einen Seite habe ich als Kind ja ausgiebig diverse Abgründe von Religion, Glaubensleben und Gottesbildern kennenlernen müssen, welche mich letzten Endes aus der Kirche haben fliehen lassen. Deshalb schrecke ich auch davor zurück, meine Kinder »religiös gefärbt« zu erziehen. Auf der anderen Seite merke ich, dass es mir irgendwie doch wichtig ist, zumindest ein paar religiöse Grundelemente und haltgebende Rituale in unseren Familienalltag zu integrieren. Und da ist noch etwas: Ich merke, dass diese neuen Berührungspunkte mit dem Christentum etwas in mir selbst ansprechen und zum Klingen bringen, das ich noch nicht ganz begreifen kann. Sie wecken aber in mir das Bedürfnis, mich wieder etwas mehr mit religiösen Themen zu befassen. Um sowohl für mich als auch für meine Familie mehr über diesen Glauben zu erfahren, beginne ich das erste Mal seit sehr langer Zeit wieder in der Bibel zu lesen und mich zunehmend mit theologischen Büchern zu befassen, die meine Neugier wecken. Ich lese und lese und entdecke lauter Aspekte des Christentums und des Katholizismus, die ich so in meiner Kindheit und Jugend gar nicht kennenlernen durfte. Ich entdecke die Rede von einem Gott, der ein freundschaftliches Gegenüber sein will, einem Gott der Beziehung und der Freiheit und einem Gott, der auf der Seite der Ausgegrenzten und Verwundeten steht. Ich entdecke den sinnstiftenden Hintergrund von Ritualen und Traditionen und mir wird zunehmend klar, wie falsch, wie problematisch und wie toxisch all das war, was ich als Kind eingeimpft bekommen habe. Nach Hause kommen Mein neuentdecktes Christentum lebe ich zu diesem Zeitpunkt aber nur für mich und mit meiner Familie und explizit frei von jeglicher Gemeindebindung. Und dann stehe ich eines Abends, im Winter 2017, plötzlich vor der Tür einer Kirche: An diesem Gebäude bin ich sicher schon hunderte Male vorbeigegangen, aber ich habe nie wahrgenommen (oder wahrnehmen wollen), dass es sich dabei um eine Kirche handelt. Hinter mir tönt der laute Trubel der Stuttgarter Shoppingmeile. Ich bin eigentlich in der Innenstadt, weil unsere kleine Tochter ein paar Kleidungsstücke benötigt, aber auch, weil ich gerade froh um jede Minute Pause von meinem strapaziösen Alltag mit drei kleinen Kindern bin. Aus irgendeinem Grund gehe ich nicht weiter, es zieht mich in das Kirchengebäude. Hinter mir schließt sich die schwere Eisentür. Das laute Lärmen der Großstadt verstummt schlagartig. Ich stehe in der Stille. Es ist eine schöne, schlichte, helle Kirche mit einem großen Mosaik hinter dem Altar. Ich setze mich in eine der Bänke und plötzlich befällt mich das unbestimmte Gefühl des Nach-Hause-Kommens. Es ist einfach da, ich kann es mir selbst nicht erklären. Ich bleibe sitzen und langsam füllen sich die Bänke um mich herum, ein Abendgottesdienst beginnt. Der Pfarrer wirkt sehr sympathisch, offen. Er hält eine sehr gute, rhetorisch ausgefeilte und mitreißende Predigt über einen zugewandten, Beziehung suchenden Gott, der genau das will: einen Menschen in Freiheit. Es ist das erste Mal seit langem, dass ich den Worten eines Priesters lausche – und mich davon angesprochen fühle. Es ist derselbe Priester, dem ich eineinhalb Jahre später von meinem Missbrauchsfall berichten werde. Ich komme jetzt öfter zum Gottesdienst. Mein Gefühl des Nach-Hause-Kommens verstärkt sich, der Pfarrer wirkt wie ein aufrichtiger, integrer Mann und auch die Gemeindemitglieder sind sehr sympathisch. Es sind schöne Wochen, getragen von einem unbestimmten Gefühl des Endlich-Angekommenseins und des Sich-am-richtigen-Ort-Fühlens. Dann kommen aus dem Nichts auf einmal diese verstörenden Albträume. Immer wieder: von einer düsteren, nur spärlich beleuchteten Kirche, die wie ein unterirdischer Stollen tief in die Erde gehauen ist. Die Wände sind schwarz und die Decken so niedrig, dass man stellenweise nur gebückt laufen kann. Die Luft ist stickig, ich kann nur schlecht atmen. Dann wache ich auf, mein Puls rast und ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich muss aufstehen und das Fenster öffnen. Erst nachdem ich ein paar Züge der kalten Nachtluft eingeatmet habe, löst sich meine Beklemmung. Neben den Kirchen-Albträumen, die mich neuerdings verfolgen, habe ich noch etwas anderes Seltsames festgestellt: Jedes Mal, wenn ich mit einem Priester mit schwarzem Hemd und Kollar ins Gespräch komme, steigt etwas in mir hoch, das ich nicht zuordnen kann. Ein schwer zu definierendes und schwer zu kontrollierendes Angstgefühl. Ich weiß nicht, was das ist, und es irritiert mich zutiefst. Aber ich versuche, diese Vorkommnisse einfach zu ignorieren und zu verdrängen (in der Hoffnung, dass sie irgendwann einfach von selbst verschwinden) und mich weiter auf die positiven Erfahrungen zu konzentrieren: auf meine nette und offene Heimatgemeinde, auf die Predigten, die nicht verängstigen, sondern von einem Gott der Freiheit erzählen, auf den bereichernden theologischen Austausch mit unserem Gemeindepfarrer (den seltsamen Ängsten zum Trotz), auf die Gruppe engagierter und feministischer Katholikinnen sowie auf die Kulturveranstaltungen in meiner Gemeinde. Und mit den zunehmend guten Erfahrungen verändern sich auch langsam meine Kirchen-Albträume. Die dunkle, beengende Kirche unter Tage wandert langsam an die Oberfläche, wird heller und offener. Parallel dazu beschäftige ich mich zunehmend und intensiver mit der Bibel sowie mit kirchlichen und theologischen Themen und entdecke immer mehr Aspekte, die mich sehr ansprechen und begeistern. Es sind Gedanken, die ich in meiner Kindheit und Jugend nie kennenlernen durfte und die durch die toxischen Glaubenslehren verdrängt, überdeckt und kontaminiert worden waren. Ich verschlinge Berge von theologischen Büchern, denn ich will unbedingt mehr wissen von diesen neuen, mich ansprechenden Seiten des Glaubens, die mir so lange versperrt waren und die ich mir jetzt Schritt für Schritt zurückerobere. Im Zuge dessen kommt bei mir immer stärker ein Wunsch auf: Ich möchte katholische Theologie studieren – nicht, weil ich zu diesem Zeitpunkt einen konkreten kirchlichen Beruf einschlagen möchte, sondern aus ganz persönlichen Gründen. Ich will eintauchen in Exegese, Liturgie, Kirchengeschichte und noch viel mehr und so auch die Wissenslücken, die meine Kirchen-Vermeidungs-Zeit hinterlassen haben, auffüllen. Und da ist noch ein weiterer Beweggrund: Ich will genau wissen und genau prüfen, womit ich es bei diesem Glauben und bei dieser Religion zu tun habe, bevor ich mich – nach allen Erfahrungen in meiner Kindheit und Jugend – noch einmal ganz auf das Wagnis Glauben einlasse, bevor ich noch einmal meine Seele »hergebe«. Da ein richtiges Universitätsstudium mit drei kleinen Kindern schwer zu vereinbaren ist, entscheide ich mich für katholische Theologie im Fernkurs in der Domschule Würzburg, was mir ein Maximum an zeitlicher und räumlicher, aber auch...