E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-446-25967-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Lass sie in Ruhe, du Mistkerl
Natürlich hatte ich in dem Augenblick, als ich die Tür öffnete, keine Ahnung, dass die Person da draußen die Nervensäge war. Für mich war er einfach ein Typ, mit dem Mum ins Kino ging. Ein Typ, den wir, so die Erfahrung nach Mums letzten Verabredungen, beide zum Glück bald nie wiedersehen würden. Deshalb schenkte ich ihm eigentlich gar nicht viel Aufmerksamkeit. Abgesehen von den Basics, die ich natürlich registrierte. Und die Basics waren: Ein bisschen größer als der Durchschnitt Ein bisschen dicker als der Durchschnitt – um den Bauch spannte das T-Shirt ein wenig Körperbau – wie ein Bär Gesicht – nicht gerade wow!, aber okay Alter – schätzungsweise zwischen Ende dreißig und fünfzig Augen – grün (wahrscheinlich das »beste« Merkmal, auch wenn die Konkurrenz nicht gerade groß war) Zähne – alle da, von annehmbarer Farbe und Stellung Haare – viele und ziemlich freestyle-mäßig frisiert. Bin kein Fan von Bärten, aber wenigstens war dieser Bart kurz, und er sah nicht allzu sehr wie ein Straßenräuber aus. Lächeln – irgendwie hinterlistig Kleidung – funktional, aber nichts, was über die Catwalks in Mailand laufen würde Eindruck insgesamt – na ja Möglicherweise habe ich länger gebraucht, als ich dachte, um diese Basics zu registrieren, denn Mums Date sagte: »Hallo.« Allerdings irgendwie langsam, und seine Stimme hob sich am Ende, als würde er testen, ob ich ihn verstehe. Dann fügte er hinzu: »Ich bin Danny.« Ich beobachtete, wie seine Augen zu meinen Haaren wanderten. Zuerst dachte ich, er würde vielleicht die kleine Narbe an meinem Haaransatz betrachten, aber dann erinnerte ich mich an Taarsheebahs Handwerkskunst und nahm an, dass er sich wahrscheinlich fragte, ob ich einen schrecklichen Unfall auf einem Trampolin unter einem an der Decke hängenden Hochleistungsventilator gehabt hatte. Ich beschloss, ihn am besten im Unklaren zu lassen und stattdessen auf seine Begrüßung zu reagieren. »Ah ja. Hi. Ich bin Maggie. Ähm, Mums Tochter.« Siehst du. Was hab ich dir gesagt? Obwohl ich das arglose Opfer von Taarsheebah, der verrückten Haar-Mörderin war und zudem noch mindestens drei andere, ausgezeichnete Gründe hatte, ausgesprochen muffelig zu sein, verhielt ich mich unglaublich freundlich und verständig. Ja, ich weiß. Der Zusatz, dass ich »Mums Tochter« bin, war natürlich total schwachsinnig, also übergehen wir ihn einfach und fahren fort, einverstanden? Egal, ich wollte gerade sagen »Ich hol Mum«, als er etwas total VERRÜCKTES und NERVIGES tat. ER FING AN ZU SINGEN! Ich weiß! Singen? Verrückt und nervig, ja? Um es noch schlimmer zu machen, sang er darüber, wie ich »aufwachen sollte«, weil er mir etwas sagen wolle. Außerdem sang er mit einer oberpeinlichen, knurrenden, kratzenden Stimme und verzog dabei sein Gesicht, als würde er versuchen, Rasierklingen zu verschlucken! Im Ernst: Wer begegnet einem vollkommen Fremden und fängt dann an zu singen? Als er fertig war, zeigte er mit beiden Zeigefingern auf mich, als würde er eine Waffe auf mich richten. Ich starrte ihn nur an. Echt. Denn ich versuchte verzweifelt, Antworten auf die Fragen zu finden, die in meinem Kopf brodelten. Fragen wie: Erwartet er, dass ich ihm applaudiere? Gibt es vielleicht eine Form des Tourette-Syndroms mit Gesang, von der ich noch nichts wusste? Hatte jemand mein Leben in ein Musical verwandelt, ohne es mir zu sagen? Sollte ich die hiesige Irrenanstalt informieren, dass einer ihrer gefährlichsten Insassen frei herumlief? Ich betrachtete prüfend sein Gesicht. Er schien keinen Schaum vor dem Mund zu haben. Das nahm ich als gutes Zeichen. Aber dann fing er an zu sprechen, und die Worte, die aus seinem Mund kamen, hätten auch Schaum sein können, denn sie ergaben für mich überhaupt keinen Sinn. »Rod Stewart.« »Hä? Bitte was?« »Rod Stewart.« »Aber … Ich dachte, Sie hätten gesagt, Ihr Name wäre … Danny.« »Nein, nicht mein Name. Dieses Lied … ein Song von Rod Stewart.« Ich nickte. Keine Ahnung, warum. Ich hatte nämlich keinen Schimmer, wovon er sprach. Das bremste ihn allerdings nicht. Oooooooooh nein. »Aus den Siebzigerjahren. Lange vor deiner Zeit. Aber ein großartiger Song. Ich spiele in einer Coverband, und wir arrangieren die verschiedensten Songs. Eine Art Hobby.« »Aha.« »Over Dub.« »Hä?« »So heißt die Band. In der ich spiele.« »Toll …« »Im Sinne von Spuren überschneiden, Tonspuren, verstehst du?« Ich nickte immer noch. Nicht, dass ich irgendwas verstanden hätte. Ich hatte nur einfach eine Art Rhythmus gefunden und konnte irgendwie nicht aufhören. »Maggie May.« Warum warf dieser merkwürdige Mensch dauernd mit irgendwelchen Namen um sich? Hielt er einen imaginären Appell ab? Sah er tote Menschen? »Was?« Ich hörte auf zu nicken. »Das ist der Titel dieses alten Rod-Stewart-Stücks. Das ich gesungen habe. Es heißt Maggie May.« Ich nickte nicht mehr und starrte ihn verständnislos an. »Maggie May?«, sagte er noch einmal. »Du weißt schon … Maggie? Wie dein Name.« Und endlich ging mir im Schneckentempo ein Licht auf. »Oh, oh, ja! Jetzt kapier ich. Richtig. Ja. Maggie. Mein Name.« Das sagte ich, aber ich dachte: Oh, oh, ja! Jetzt kapier ich. Richtig. Du bist total verrückt, genau, ein verrückter Sänger! Ich warf einen Blick in den Flur und hoffte, dass Mum auftauchte, um mich zu retten. Leider hatte ich kein Glück. Ich saß in der Falle. »Äh, würden Sie gern … äh … reinkommen … und drinnen warten?« Siehst du. Immer noch unglaublich freundlich und verständig – sogar angesichts eines verrückten Sängers. Geradezu unfassbar, wie freundlich und verständig ich war! Er schenkte mir noch ein hinterlistiges Lächeln, das mich verwirrte. »Drinnen? Na ja, ich habe den Grundkurs ›Stubenrein‹ noch nicht ganz abgeschlossen, aber, hey, lass es uns riskieren.« »Hä? Bitte was?« »Nichts. Sehr gerne. Nach dir.« Er lächelte mich immer noch an. Das machte mich ein bisschen wahnsinnig. Ich führte ihn direkt ins Wohnzimmer, damit ich ihn dort absetzen und flüchten konnte. »Mum kommt bestimmt gleich. Keine Ahnung, wo sie bleibt. Ich geh schnell und schau nach.« Er nickte, und ich stürmte in die Freiheit. Endlich! Aber dann sah ich mich auf dem Weg hinaus im Wohnzimmerspiegel. Nur dass ich es eigentlich gar nicht war. Ich konnte es nicht sein! Es war jemand, der wie ich aussah, aber aus irgendeinem Grund einen Waschbär auf dem Kopf trug. Einen Waschbär, der von Taarsheebah, der Haar-Mörderin, traktiert worden war! Das scheußliche Spiegelbild sorgte dafür, dass ich stehen blieb. Dass ich den verrückten Sänger im Zimmer hinter mir vergaß. Dass ich näher an den Spiegel trat und laut aufstöhnte. Dass ich an störrischen Haarsträhnen und -büscheln zog und sie niederdrückte und laut Scheiße! Scheiße! Scheiiiiiiißeeeee! sagte. Bis hinter mir eine Stimme ertönte. »Probleme?« Ich wirbelte herum. SCHEIßE! Da stand ein fremder Mann in unserem Wohnzimmer! Nein, stop. Das war nur der verrückte Sänger. »Etwas nicht in Ordnung?«, fragte er. »Nicht in Ordnung? Nur das«, sagte ich und wedelte mit den Händen in Richtung meines Kopfes. Er sah verwirrt aus. »Stimmt irgendwas nicht … mit dem Raum um deinen Kopf?« Jetzt war es offensichtlich für mich, dass er nicht nur verrückt und blind war, sondern auch dumm wie Brot! Ich musste wohl deutlicher werden. »Meine Frisur! Die ist nicht in Ordnung.« Er legte den Kopf schräg und kaute ein bisschen auf dem Rand seiner Unterlippe. »Und … das Problem … ist …« Mein Gott. Ich musste es ihm nicht nur sagen. Ich musste es ihm buchstabieren – jeden einzelnen Buchstaben! »Das Problem? Alles! Das ist das Problem! Die Länge. Der Schnitt. Die Form. Der Style. Der Look. Die Farbe. Es ist eine einzige Katastrophe. Die Klassenfotos stehen an, und ich sehe … grässlich aus! Ich hätte bei meiner alten Frisur bleiben sollen. Ich wusste es. Sie war so viel besser.« Jetzt runzelte der verrückte Sänger die Stirn. »Hmmm. Fällt mir ein bisschen schwer, das zu beurteilen«, sagte er, »weil ich nicht genau weiß, welche Frisur du vorher hattest.« Und dann machte ich einen großen Fehler. Und ich meine einen wirklich GROSSEN FEHLER. Ohne nachzudenken, zeigte ich auf das gerahmte Foto auf dem kleinen Tisch hinter ihm. Er drehte sich um und nahm es in die Hand. Es war ein Bild von mir mit meinem alten Haarschnitt, das vor ein paar Monaten aufgenommen worden war. Ein Porträt. Ich sehe okay aus. Muss irgendwie mit dem Licht zusammenhängen. Der verrückte Sänger betrachtete das Foto eine Weile und...