E-Book, Deutsch, Band 11, 192 Seiten
Reihe: Anaconda Kinderbuchklassiker
Vollständige, ungekürzte Ausgabe
E-Book, Deutsch, Band 11, 192 Seiten
Reihe: Anaconda Kinderbuchklassiker
ISBN: 978-3-7306-9059-8
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
KAPITEL 1
Peter taucht auf
Alle Kinder, außer einem, werden groß. Sie wissen sehr früh, dass sie groß werden, und genauso war es auch bei Wendy. Eines Tages, sie war zwei Jahre alt, spielte sie im Garten, und sie pflückte eine Blume und rannte damit zu ihrer Mutter. Ich glaube, sie sah wunderbar aus, denn Mrs Darling legte sich die Hand ans Herz und rief: »Ach, warum kannst du nicht immer so bleiben!« Das war alles, was zu diesem Thema gesagt wurde, doch fortan wusste Wendy, dass sie groß werden musste. Man weiß es immer, sobald man zwei ist. Zwei ist der Anfang vom Ende. Natürlich lebten sie in Nr. 14, und bis Wendy kam, war ihre Mutter die Hauptbewohnerin. Sie war eine reizende Dame mit einem romantischen Herz und so einem süßen, spöttischen Mund. Ihr romantischer Kopf war wie diese kleinen Schachteln, eine in der anderen, die aus dem rätselhaften Osten stammen. Egal wie viele man öffnet, es gibt immer noch eine mehr. Und auf ihrem süßen, spöttischen Mund lag ein Kuss, den Wendy nie bekam, obwohl er doch da war, deutlich sichtbar im rechten Mundwinkel. Mr Darling hat sie folgenderweise erobert: Die zahlreichen Herren, die Jungs waren, als sie ein Mädchen war, entdeckten alle zur selben Zeit, dass sie sie liebten, und allesamt rannten sie zu ihrem Haus, um ihr einen Antrag zu machen, außer Mr Darling, der nahm eine Droschke und sauste als Erster hinein und bekam sie. Er bekam alles von ihr, außer der innersten Schachtel und dem Kuss. Von der Schachtel hat er nie gewusst, und den Versuch, an den Kuss zu gelangen, gab er mit der Zeit auf. Wendy dachte, dass Napoleon ihn hätte bekommen können, aber ich kann mir vorstellen, wie er es versucht und dann wutentbrannt davonläuft und die Türen hinter sich zuschlägt. Mr Darling prahlte vor Wendy häufig damit, dass ihre Mutter ihn nicht nur liebte, sondern auch respektierte. Er war einer von diesen schlauen Köpfen, die etwas von Aktien und Kapitalanlagen verstehen. Natürlich versteht niemand wirklich etwas davon, aber er schien zumindest ein bisschen zu verstehen. Und er sagte oft, dass es um das Kapital gut stehe und die Aktien im Keller seien, und zwar so, dass jede Frau vor ihm Respekt gehabt hätte. Mrs Darling heiratete in Weiß, und am Anfang führte sie die Bücher vorbildlich, fast heiter, als wäre es ein Spiel, kein noch so kleiner Rosenkohl fehlte. Doch nach und nach gingen ganze Blumenkohlköpfe verloren, und statt ihrer standen dort Bilder von Babys ohne Gesichter. Sie malte sie, wenn sie eigentlich Summen hätte bilden sollen. Sie waren Mrs Darlings Schätzungen. Zuerst kam Wendy, dann John, dann Michael. Noch ein, zwei Wochen nach Wendys Geburt war ungewiss, ob sie in der Lage sein würden, sie bei sich zu behalten, denn sie war ein weiterer Mund, der gefüttert werden musste. Mr Darling war fürchterlich stolz auf sie, aber er war auch sehr anständig. Also saß er auf Mrs Darlings Bettkante, hielt ihre Hand und berechnete die Ausgaben, während sie flehentlich zu ihm hinaufsah. Sie wollte das Wagnis eingehen, komme was wolle, doch das war nicht seine Art. Zu seiner Art gehörten Stift und Papier, und wenn sie ihn mit irgendwelchen Äußerungen verwirrte, musste er von vorn beginnen. »Jetzt unterbrich mich nicht«, bat er. »Ich habe ein Pfund siebzehn Schillinge hier und im Kontor noch zwei Pfund sechs. Den Kaffee im Kontor kann ich streichen, sagen wir zehn Schillinge, macht zwei Pfund, neun Schillinge, sechs Pence, mit deinen achtzehn und drei macht drei neun sieben, mit fünf null null in meinem Scheckbuch macht zusammen acht neun sieben – wer bewegt sich denn da? – acht neun sieben, Komma und sieben rüber – sprich nicht, mein Herz – plus das Pfund, das du dem Mann an der Tür geliehen hast – still doch, Kind – Komma und Kind rüber – na also, du hast es geschafft – habe ich neun neun sieben gesagt? Ja, ich habe neun neun sieben gesagt. Die Frage ist, können wir es ein Jahr lang mit neun neun sieben versuchen?« »Natürlich können wir, George«, rief sie. Aber sie war befangen zu Wendys Gunsten, und er war in der Tat die stärkere Persönlichkeit. »Denk an den Mumps«, warnte er sie fast drohend, und dann ging es wieder los. »Mumps ein Pfund, das habe ich jedenfalls hier aufgeschrieben, doch ich vermute, es werden eher dreißig Schillinge – nicht reden – Masern eins fünf, Röteln eine halbe Guinee, macht zwei fünfzehn sechs – nun wedel nicht so mit dem Finger – Keuchhusten, sagen wir fünfzehn Schillinge« – und so ging es weiter, und jedes Mal kam eine andere Summe heraus. Doch schließlich kam Wendy knapp davon, mit Mumps gesenkt auf zwölf sechs und die beiden Maserarten wie eine behandelt. Die gleiche Aufregung gab es bei John, und noch viel geringer war Michaels Chance. Doch beide blieben, und bald schon hättet ihr beobachten können, wie sie zu dritt in einer Reihe, begleitet von ihrer Kinderfrau, in Miss Fulsoms Vorschule gingen. Mrs Darling liebte es alles genau so, und Mr Darling war leidenschaftlich gerne ganz genau wie seine Nachbarn. Also hatten sie natürlich eine Kinderfrau. Da sie arm waren, was an der großen Menge Milch lag, die die Kinder tranken, war diese Kinderfrau eine brave Neufundländerin, die Nana hieß und niemandem gehört hatte, bis die Darlings sie in ihren Dienst nahmen. Kinder waren ihr allerdings immer schon wichtig gewesen, und die Darlings hatten sie kennengelernt im Kensington-Park, wo sie die meiste Zeit damit verbracht hatte, ihre Nase in fremde Kinderwagen zu stecken, und wo sie von nachlässigen Kindermädchen sehr gehasst wurde, denen sie nach Hause folgte, um sich bei der Hausherrin über sie zu beschweren. Als Kinderfrau erwies sie sich als wahre Perle. Wie aufmerksam sie beim Baden war! Und nachts jederzeit zur Stelle, wenn einer ihrer Schützlinge ins kleinste Weinen ausbrach. Natürlich stand ihr Hundekorb im Kinderzimmer. Und sie wusste genau, wann mit einem Husten nicht zu spaßen war und wann es einen Halswickel brauchte. Sie glaubte bis zu ihrem Tod an so altmodische Heilmittel wie Rhabarberblätter und hatte für dieses närrische Gerede über Bakterien und so weiter nur ein verächtliches Schnauben übrig. Es war eine Lektion in guten Manieren, zu beobachten, wie sie die Kinder zur Schule begleitete. Ruhig ging sie an ihrer Seite, wenn sie sich ordentlich benahmen, doch wenn eins von ihnen davonlief, stieß sie es zurück. An Johns Fußballtagen vergaß sie kein einziges Mal seinen Pullover, und meistens trug sie einen Regenschirm im Maul, falls es regnen sollte. Im Keller von Miss Fulsoms Schule gab es einen Raum, in dem die Kindermädchen warteten. Dort saßen sie auf Bänken, während Nana auf dem Boden lag. Das war der einzige Unterschied. Sie gaben vor, sie nicht zu beachten, weil sie von niederer Herkunft war als sie selbst, und Nana verachtete ihr seichtes Geschwätz. Sie mochte es nicht, wenn Mrs Darlings Freundinnen das Kinderzimmer betraten, aber wenn sie dann doch kamen, nahm sie zuerst rasch Michael das Schürzchen ab und steckte ihn in das andere mit der blauen Bordüre, dann strich sie Wendys Kleider glatt und stürzte sich schließlich noch einmal kurz auf Johns Haare. Keiner hätte auf ein Kinderzimmer je besser aufpassen können, und Mr Darling wusste es. Dennoch fragte er sich manchmal besorgt, ob die Nachbarn wohl redeten. Er musste schließlich an seine Stellung in der Stadt denken. Nana erfüllte ihn auch noch aus einem anderen Grund mit Sorge. Er hatte manchmal das Gefühl, dass sie ihn nicht bewunderte. »Ich weiß, dass sie dich ganz fürchterlich bewundert, George«, versicherte Mrs Darling ihn und machte den Kindern ein Zeichen, besonders nett zu Vater zu sein. Dann folgten wunderschöne Tänze, und manchmal gestattete man der einzigen anderen Bediensteten, Liza, sich einzureihen. So klein sah sie in ihrem langen Kleid und ihrer Dienstmädchenhaube aus, obwohl sie geschworen hatte, als man sie einstellte, nie wieder für zehn gehalten zu werden. Wie fröhlich diese Balgereien waren! Und am fröhlichsten von allen war Mrs Darling, die so wild pirouettierte, dass alles, was man von ihr sah, der Kuss war, und wäre man jetzt zu ihr gestürmt, hätte man ihn vielleicht bekommen. Eine genügsamere, glücklichere Familie hat es nie gegeben – bis zur Ankunft Peter Pans. Mrs Darling hörte von Peter Pan zum ersten Mal, als sie die Köpfe ihrer Kinder aufräumte. Jede gute Mutter hat die nächtliche Gewohnheit, in den Köpfen ihrer Kinder herumzukramen, sobald sie eingeschlafen sind, und die Dinge für den nächsten Morgen wieder gerade zu rücken und die vielen Gegenstände, die sich im Laufe des Tages verirrt haben, an ihren richtigen Ort zurückzulegen. Wenn du wach bleiben könntest (was natürlich nicht geht), würdest du sehen, wie deine eigene Mutter das tut, und du würdest es sehr interessant finden, sie dabei zu beobachten. Es ist genau wie Schubladen aufräumen. Ich denke, du würdest sie auf Knien sehen,...