Autobiografische Notizen
E-Book, Deutsch, 340 Seiten
ISBN: 978-3-944305-13-4
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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EINLEITUNG
»Verein für stilles Glück«
»Jeder erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält«, schrieb Max Frisch. Falls das zutrifft, was kann man dann von eigenen Lebensbeschreibungen halten? Immer wieder hat man mich zu Memoiren ermutigen wollen. Ich zögerte lange – eigentlich zögere ich noch immer. Habe ich die Ereignisse und Zusammenhänge meines Lebens wirklich richtig erfasst und originell verarbeitet? Ich weiß es nicht. Offensichtlich kann man sich auf die eigenen Erinnerungen nicht verlassen. Vor allem bin ich mir der Versuchung bewusst, mit heutigem Wissen Gestriges zu interpretieren. Ist unsereins nicht stets in Gefahr, spätere Einsichten zurückzudatieren? Man darf, zumal nach achtzig Lebensjahren, nicht so tun, als sei man von Kindesbeinen an ein hellsichtiger Chronist aller Ereignisse und Lebensphasen gewesen. Zeitgenossenschaft ist an das Jetzt gebunden. Sie enthält subjektiv gefärbte Summen all dessen, was man bereits erlebt, gelernt und vielleicht durchdacht hat. In diesem Sinne habe ich die neuere Geschichte Deutschlands nach 1945 immer wieder kommentiert, ein Balanceakt zwischen Erinnerung und Interpretation. Selbst über meine Ehen kann ich nichts Verlässliches behaupten. Meine erste und meine jetzige Frau sind mir auch nach einem halben Jahrhundert rätselhaft geblieben. Habe ich sie je wirklich sehen können? Obwohl ich mich für einen verträglichen, nachgiebigen, zärtlichen und treuen Ehemann halte, waren und sind meine beiden Frauen von dem nach ihrer Meinung um sich selbst drehenden, extrem autoritären Mann so enttäuscht und entnervt, dass eine das Weite suchte, um endlich jemanden zu finden, der wirklich lieb zu ihr sei; die andere sich seit knapp dreißig Jahren immer noch unverdrossen an mir abrackert. Sehe ich mich also viel zu positiv, wirklich falsch? Alles Gute nur geträumt? Wenn man eigenen Erinnerungen selbst im engsten Familienkreis keinen Glauben schenken kann, wie sollen größere Zusammenhänge verlässlich, begreifbar und glaubhaft vermittelt werden können? Besitze ich hinreichendes Wissen? Schon meiner klarsichtigen, illusionslosen Mutter war mein Vorhaben einer wissenschaftlichen Karriere nicht geheuer. Sie liebte mich, so glaube ich, sehr und hätte mich wohl, wenn das möglich gewesen wäre, meinem Vater als Partner vorgezogen. Bei aller Zuneigung ihren Kindern gegenüber war sie jedoch kritisch, lehnte alles Gerede ab, wollte immer auf den Punkt kommen. Als ich ihr nach meinem Abschied vom Journalismus in der Küche erzählte, ich sei von zwei Seiten aufgefordert worden, mich zu habilitieren, rührte sie, ohne aufzublicken, weiter in einem Topf Marmelade. »Dann willst du also Professor werden?«, fragte sie. »Ja«, bestätigte ich, »wenn alles gut geht.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber du weißt doch gar nichts.« Nach kurzem Schweigen sah sie auf, lachte und deutete mit dem Kochlöffel auf mich: »Jetzt hab ich’s – wenn schon, dann wirst du Professor für Plauderei.« In den Augen meiner Mutter blieb ich vermutlich immer ein begabter Dilettant. Damit bewahrte sie mich zeitlebens vor intellektuellem Hochmut. Wem so viel Skepsis entgegenschlägt, der hat keinen Grund zur Hybris und wenig Anlass, sich mit seiner Lebensbilanz ein Denkmal zu setzen. Während meiner Zeit als Hochschullehrer fürchtete ich mich immer davor, man könnte mich nach meinen wissenschaftstheoretischen Prämissen fragen. Um ehrlich zu sein: Es gab und gibt sie nicht. Meine Urteile entstehen aus der Anschauung. Nur Konkretes ist mir wichtig, lebendige Erfahrung, beatmet von dem, was man das pralle Leben nennt. Genauso wollte ich erinnernd schreiben: das Erlebte in knappen Notizen festhalten, Schwerpunkte beleuchten, Schlussfolgerungen verdeutlichen. Das war ein Konzept, mit dem ich mich anfreunden konnte. Als vor einiger Zeit mein neuer Verleger auf mich zukam und wieder einmal von einer Autobiografie sprach, stimmte ich deshalb nur unter einer Bedingung zu: Es sollte ein Buch entstehen ohne den Zwang, meine Lebensstationen chronologisch abzuarbeiten. Sinnvoller schien es mir, Schlüsselerlebnisse zu schildern, die erklären, aus welchen individuellen Erfahrungen sich meine Überzeugungen herleiten. Erinnern bedeutet letztlich, anderen Geschichten zu erzählen, die man für wesentlich hält. Darin war ich vermutlich – hoffentlich! – immer schon begabter als in der Kunst akademischer Debatten, bei denen ich mich stets fehl am Platze fühlte. Man denke nur an den grässlichen, absurden Historikerstreit der achtziger Jahre, bei dem linkelnde Kollegen Ernst Nolte am Zeug zu flicken versuchten. Wenn man das heute liest, schlägt man angesichts der Ignoranz, mit der die ungeheuren sowjetischen Untaten übersehen oder bagatellisiert wurden, die Hände über dem Kopf zusammen. Je länger ich mich diesem Buch widmete, desto deutlicher wurde mir allerdings, warum man von Erinnerungsarbeit spricht. Es geht um Selbstprüfung. Das Gedächtnis ist ein unzuverlässiger Gesell, es spielt einem so manchen Streich. Vieles stand mir wieder deutlich vor Augen, anderes ließ sich nur mit Mühe rekonstruieren, manches habe ich vergessen oder verdrängt, im Nachhinein vielleicht auch umgedeutet. Das ist das Risiko jedes längeren Rückblicks. Diesem Risiko wollte und konnte ich nicht ausweichen. Und warum »Der Unbequeme?« Nach Meinung meines Verlegers hätte das Buch auch »Der Außenseiter«, »Der Streitbare« oder »Der Provokateur« heißen können. Derartige Etikettierungen begleiten mich seit Langem, obwohl ich mich nicht im Mindesten als streitbar oder gar provokativ empfinde. Was andere in mir entdecken, überrascht mich immer wieder. Meine Mutter nannte mich einen »Verein für stilles Glück«, weil ich als Kind stundenlang vergnügt ganz allein spielte. Ich war ausgeglichen, ja, ausgemacht ängstlich, diplomatisch und alles andere als rebellisch. Offen gestanden erstaunt mich, wenn ich als unbequem oder angriffslustig bezeichnet werde. Auch als Außenseiter habe ich mich nie gesehen. Ich empfand mich immer als jemanden, der aus der Mitte der Republik, aus ihrem imaginären Zentrum heraus argumentiert. Vielleicht ist diese Haltung das Erbe einer Familie, die seit der Reformation vor allem eine Pastoren- und Juristendynastie gewesen ist. Meine Bereitschaft, von der Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen, ist auch eine persönliche Reaktion auf das Zeitalter der Diktaturen. Den allgemeinen Hang zum Konformismus habe ich immer als deren schlimmstes Erbe empfunden. Deshalb beunruhigt mich die bei uns grassierende politische Korrektheit. Manchmal gestehen mir Veranstalter nach einem Vortrag, sie stimmten meinen Thesen ja zu, würden sich jedoch niemals trauen, sie öffentlich zu äußern – das werde »oben« nicht gerne gesehen. Subalterner kann man sich wohl nicht ausdrücken. Das wichtigste Grundrecht der Demokratie ist die Meinungsfreiheit. Nur wenn das Für und Wider eines Vorhabens von allen Seiten ausführlich diskutiert werden darf, kann das Ergebnis am Ende Mehrheiten überzeugen. Je wichtiger ein Problem ist, desto gründlicher muss es in öffentlichen Debatten hin und her gewendet werden. Doch die Bereitschaft zu einer selbstverständlichen Offenheit lässt in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr nach. Selbst im Parlament vermisse ich oft substanzielle Debatten. Über den Euro oder die Energiewende wird nicht einmal ansatzweise kontrovers diskutiert, ein Phänomen, das in der jungen Bundesrepublik undenkbar gewesen wäre. Themen wie Westintegration, soziale Marktwirtschaft, Ostpolitik oder Nachrüstung waren zu Recht heftig umkämpft. Vor Kurzem sprach ich mit einem Historiker, der die Parlamentsdebatten des späten Kaiserreichs ausgewertet hat. Er war verblüfft, auf welch hohem Niveau sich die Redebeiträge damals bewegten, welch beeindruckende Bildung und Artikulationsfähigkeit, Differenziertheit und Meinungsstärke die Politiker aller Parteien seinerzeit an den Tag legten. Verglichen damit sind die heutigen Parlamentsdebatten öde Pflichtveranstaltungen. Leider, denn die Kontroverse gehört elementar zur Demokratie. Wie sonst sollte denn der Prozess der Meinungsbildung angestoßen werden? Solange die politische Korrektheit herrscht, schläft die Vernunft zu unser aller Schaden. Aber Politiker sorgen sich heute mehr darum, wie sie sich medienwirksam profilieren und positionieren können, als beharrlich den Fragen nachzugehen, deren Beantwortung unsere Zukunft entscheidend prägen wird. Sie halten mit ihren Ansichten und Meinungen hinter dem Berg aus Furcht vor der Macht der Demoskopie, die jede These jenseits des allgemeinen Konsenses als Sympathieverlust widerspiegelt. Dieser Mangel an Diskursfähigkeit legt die Axt an die Wurzeln einer Demokratie, die sich gern als freiheitlich verstehen würde. Zusehen und Schweigen kamen für mich nie in Betracht. Dafür sind die Probleme, vor denen unser Land steht, zu groß, zu alarmierend. Einen Anspruch auf absolute Wahrheiten kann ich selbstverständlich nicht erheben. Doch ich nehme das Recht in Anspruch, meine Wahrnehmungen und Urteile öffentlich zu äußern. Ich war und bin ein neugieriger Mensch. Ich beobachte gern und ziehe eigene Schlüsse, auch wenn das andere als unbequem empfinden mögen. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, um den Preis, in eine undankbare Rolle zu geraten. Dann fühle ich mich wie ein Autofahrer, der auf der Autobahn in die richtige Richtung zu fahren glaubt und im Radio hört, ein Geisterfahrer sei unterwegs. Wenn ich aus dem Fenster schaue, stelle ich fest: Mir begegnen nur Geisterfahrer. Aber die anderen denken natürlich, ich sei es, der auf der falschen Spur unterwegs ist. Besonders liegen mir die Interessen Deutschlands am Herzen. Auch damit ernte...