E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: zur Einführung
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-063-3
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Vorwort
Antonio Gramsci, geboren 1891 in Sardinien, kommt zum Studium nach Turin, wird Journalist, Theaterkritiker, Sozialist. Von der Russischen Revolution mitten ins Zeitgeschehen versetzt, wird er zum führenden Kopf der Turiner Rätebewegung, Mitbegründer der Kommunistischen Partei, zu ihrem Vertreter in der Internationale, zum Abgeordneten im Parlament in Rom. Am Abend des 8. November 1926 wird er in seiner Wohnung verhaftet. Lange schon hat er damit rechnen müssen, von faschistischen Schlägertrupps angegriffen oder ermordet zu werden. Gramsci macht sich keine Illusionen: Sein durch einen Buckel auf Rücken und Brust missgebildeter Körper, den er als Kind durch Gewichtheben zu kräftigen suchte, wird nicht lange standhalten. Ustica, eine Insel für Verbannte bei Sizilien: Dreimal wird Gramsci in Handschellen und zusammengekettet mit drei anderen Häftlingen auf ein Boot gebracht, dreimal müssen sie wegen rauer See umkehren, bevor die Überfahrt gelingt. Die ›Politischen‹ organisieren Schulungskurse. Gramsci kümmert sich um den historisch-literarischen Teil. In einem Brief schildert er die Verhaftung eines Schweins: Man packt es an den Hinterbeinen, und während es höllisch quietscht, wird es wie eine Schubkarre ins Gefängnis geschoben. Das Tier weidete »unerlaubterweise auf der Dorfstraße« (GB II, 74). Gramsci hat einen Sinn für komische und absurde Szenen. In Turin, als Theaterkritiker, ist er zum Entdecker Pirandellos geworden. Während des drei Wochen dauernden, kräfte- und nervenzehrenden Gefangenentransports zurück in den Norden, wo der Prozess vorbereitet wird, schreibt er: »Ich bin nicht über einen ziemlich engen Kreis hinaus bekannt, daher wird mein Name aufs Unwahrscheinlichste entstellt: Gramasci, Granusci, Gràmisci, Granísci, Gramàsci bis hin zu Garamàscon.« (GB II, 83) Hätte er sich träumen lassen, dass sein Name einst nach demjenigen Dantes zu den weltweit meistzitierten eines Italieners gehören würde, sicher hätte er noch »Gramski« in die Liste aufgenommen, auf dass sich auch unter Deutsch- und Englischsprechenden die italienische Aussprache seines Namens herumsprechen möge: »Gramschi«. – In Palermo werden die Gefangenen auf unbestimmte Zeit in einem Depot untergebracht. Kriminelle, Mafiosi, Politische stellen sich vor. Als Gramsci seinen Namen nennt, erkennt ihn doch einer: »Gramsci, Antonio?« »Ja, Antonio.« Der andere mustert ihn lange. »Kann nicht sein«, erwidert er, »denn Antonio Gramsci muss ein Riese sein und nicht so ein kleiner Mann.« (Ebd.) 20 Jahre, 4 Monate, 5 Tage. Mit dem Terrorurteil folgt der Richter dem Staatsanwalt: »Für die nächsten zwanzig Jahre müssen wir verhindern, dass dieses Gehirn funktioniert.« Nach seiner Ankunft im Gefängnis von Mailand dauert es noch fast zwei Jahre, bis Gramsci in der Zelle schreiben darf. Einige seiner kommunistischen Mitgefangenen halten Distanz, weil er mit seinem bündnispolitischen Konzept der gerade herrschenden Parteilinie in die Quere kommt. Der Kontakt zu seiner Frau, die in Moskau gegen Anfeindungen und Depressionen kämpft, droht abzureißen. »Ich entsinne mich einer kleinen skandinavischen Volkserzählung«, schreibt er ihr. »Drei Riesen leben wie die großen Berge weit voneinander entfernt [...]. Nach ein paar tausend Jahren Schweigen ruft der erste Riese den beiden anderen zu: ›Ich höre eine Kuhherde muhen!‹ Nach dreihundert Jahren meldet sich der zweite Riese: ›Ich habe auch das Muhen vernommen!‹ und nach weiteren dreihundert Jahren gebietet der dritte Riese: ›Wenn ihr weiterhin solchen Lärm macht, geh ich.‹« (GB I, 87) Heft um Heft füllt der Gefangene mit seiner sorgfältigen Handschrift. Schlaflosigkeit, körperliche Zusammenbrüche, kaum Kontakt zur Außenwelt. Ein Gefangenenaustausch mit der Sowjetunion, der vom Vatikan vermittelt werden soll, schlägt fehl. Gramsci beschleicht der Verdacht, dass er auch für die meisten seiner ›Freunde‹ als Gefangener bessere Dienste leistet als in Freiheit. Dennoch gelingen ihm besonders im Jahr 1932 Durchbrüche bei seiner intellektuellen Arbeit. Für den medizinischen Gutacher sind die sich stapelnden Hefte Aufzeichnungen eines Verrückten. Gramsci stirbt am 27. April 1937, nachdem man ihm zwei Tage zuvor die bevorstehende Freilassung angekündigt hatte. Es soll so aussehen, als habe das Regime mit seinem Tod nichts zu tun. »Im Krankenhaus Quisisana in Rom, wo er seit langem behandelt wurde, starb der ehemalige kommunistische Abgeordnete Antonio Gramsci«, heißt es in den Zeitungen. Kein Wort darüber, dass dieser Tote schon seit vielen Jahren in den Gefängnissen des italienischen Staates lebendig begraben war. Vom Ministerium kommt die Anweisung, niemand dürfe die Leiche sehen; der Bruder Carlo muss protestieren, um zugelassen zu werden. Nur er und Gramscis Schwägerin Tanja Schucht, die ein Jahrzehnt lang hingebungsvoll den Kontakt gehalten und dem Gefangenen beigestanden hat, sind bei der Einäscherung zugegen, »abgesehen von einer großen Zahl von immer gegenwärtigen Beamten«, wie sie berichtet. Nachleben eins: Nach dem Krieg erscheinen zuerst die Briefe. Sie sind das bewegende Zeugnis eines Menschen, der standhaft seine Würde gegen den Faschismus verteidigt hat und dessen Menschenkenntnis, Erzählkunst und analytischer Verstand die Leserinnen und Leser berühren. Der Band erhält einen Literaturpreis, und der berühmte Benedetto Croce, der noch nicht wissen kann, dass Gramsci sich in seinen Heften eingehend kritisch mit ihm auseinandergesetzt hat, schreibt eine würdigende Kritik.1 Italien entdeckt, dass es einen neuen Schriftsteller hat. Nachleben zwei: 33 Schulhefte, die nach Moskau geschmuggelt und dort von der Partei in Gewahrsam genommen werden. Der kommunistische Generalsekretär Palmiro Togliatti lässt sie nach dem Krieg in Italien in rascher Folge erscheinen, thematisch gegliedert, in Teilen ›bearbeitet‹ und gekürzt, weniger aus Gründen politischer Zensur, sondern weil es nicht leicht ist, den Zusammenhang dieser Notizen und die Spezifik dieses Denkens zu erkennen. Der Pionier der westdeutschen Gramsci-Ausgaben, Christian Riechers, legt 1967 einen Auswahlband unter dem Titel Philosophie der Praxis vor. Eine englische Auswahlübersetzung erscheint 1971. Nachleben drei: Die Hochkonjunktur marxistischen Denkens vom Ende der 1960er Jahre ist bereits abgeflaut, als 1975 die erste vollständige italienische Edition der Gefängnishefte, herausgegeben von Valentino Gerratana, erscheint. Indem sie die chronologische Abfolge der Entstehung der Notizen wahrt, kann sie Gramscis Denkstil und intellektuelle Produktionsweise sichtbar machen – vorausgesetzt, man bringt die Geduld auf und lässt sich auf den langen Weg durch das Material mitnehmen. Eine Zeit lang bleibt Gramsci noch in aller Munde, »Hegemonie« ist ein Lieblingsbegriff im linken Jargon. Aber im Grunde ist er, wie Michel Foucault 1984 feststellt, ein Autor, der öfter zitiert als wirklich gelesen wird. Und die großen Intellektuellen lassen sich von ihm inspirieren, ohne ihn zu zitieren. Gramsci wird zu einer Art musician’s musician: Inspiration für die Musik, die in der Welt spielt, aber von anderen gespielt wird. So könnte man von den Gefängnisheften sagen, was Kurt Tucholsky 1927 zum Ulysses von James Joyce schrieb: »Liebigs Fleischextrakt. Man kann es nicht essen. Aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden.« Nachleben vier: Die britischen Cultural Studies erhalten ihr Profil als kritische Analyse des kapitalistischen Medien- und Massenkonsums maßgeblich durch die Auseinandersetzung mit Gramsci. Mit ihnen wird er an die großen Universitäten der Welt exportiert. Gramscis Art, die Geschichte von den Rändern her zu schreiben und die Subalternen dabei ins Zentrum zu rücken, wird zum entscheidenden Impuls für die Subaltern Studies in Asien und Lateinamerika. Auch die innovative Analyse neoliberaler Globalisierung unter dem Namen »Internationale Politische Ökonomie« beginnt mit einer Neulektüre Gramscis. Kein Zweifel: Seit den 1990er Jahren ist aus dem musician’s musician ein globalisierter Klassiker geworden. Wenige Autoren schreiben so klar wie Gramsci. Es macht Spaß, ihn zu lesen. Auf Schritt und Tritt wird der Leser mit überraschenden Einsichten belohnt. Die vorliegende Einführung arbeitet intensiv mit Gramscis Material. Es wird nicht nacherzählt, sondern zitiert. Man soll seine Stimme hören. Wer dann mehr wissen will, kann leicht zu den Originaltexten wechseln. Wer die Zeit für die zweitausend Seiten der Gesamtausgabe nicht hat, kann sich mit Auswahlbänden behelfen.2 Die Exkurse in jedem Kapitel sind Brücken zu wissenschaftlichen Feldern, auf denen Gramscis Denken Fortsetzungen in der Gegenwart gefunden hat. Man muss sie nicht unbedingt betreten. Der Mitgefangene, der Gramsci damals erkannte, war enttäuscht von dessen kleiner Statur. Den Riesen, den er erwartet hat, haben wir heute vor Augen. Mit den Füßen steht er im 20. Jahrhundert, wo er – aus der...