Auf den Spuren der Humanisten
E-Book, Deutsch, 497 Seiten
ISBN: 978-3-406-80551-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vor 700 Jahren kam die unverschämte Idee auf, dass der Mensch im Kern gut und frei ist und dass er auf der Suche nach Glück allein mit dem Kompass der Vernunft durch stürmische Zeiten steuern kann. Sarah Bakewell macht mit den italienischen Humanisten bekannt, die diese Idee in die Welt setzten, und beschreibt, wie inspirierend deren Neugierde, Forschergeist und Optimismus bis in die Gegenwart gewirkt haben, trotz aller Anfeindungen durch Theologen, Tyrannen und Ideologen. Sie erzählt von den mutigen Lebenswegen und überraschenden Entdeckungen der Humanisten und geht so deren großer Frage nach, wie man Mensch wird. Denn wir werden zwar als Menschen geboren, aber erst in einer Welt voller Beziehungen, Geschichten, Wissen, Liedern oder Bildern können wir wirklich Mensch werden: aufgeschlossen, neugierig, frei und glücklich im Hier und Jetzt.
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Only connect! Eine Einleitung
Was ist Humanismus?» Diese Frage wird in David Nobbs’ 1983 erschienenem humoristischen Roman Second from Last in the Sack Race bei der Eröffnungssitzung der Bisexual Humanist Society des Gymnasiums von Thurmarsh gestellt – «bisexual», weil sowohl Jungen als auch Mädchen teilnehmen können. Sofort geht alles wild durcheinander. Ein Mädchen sagt, Humanismus sei der Versuch der Renaissance, das Mittelalter hinter sich zu lassen. Sie meint die literarische und kulturelle Erneuerung, die im 14. und 15. Jahrhundert von entschlossenen, unkonventionellen Intellektuellen in italienischen Städten wie Florenz ausging. Falsch, widerspricht eine andere. Humanismus bedeute, «freundlich zu sein und nett zu Tieren und sowas, Wohltätigkeit zu üben und ältere Leute und so zu besuchen». Ein drittes Mitglied lässt das nicht gelten; damit verwechsle man Humanismus mit Humanitarismus. Und ein viertes Mitglied beschwert sich, sie verschwendeten doch nur ihre Zeit. Die Menschenfreundin reagiert gereizt: «Nennst du es Zeitverschwendung, wenn man verletzte Tiere bandagiert und sich um ältere Leute und so kümmert?» Ihre Kritikerin schlägt eine andere Definition vor. Humanismus sei «eine Philosophie, die das Übernatürliche ablehnt, den Menschen als ein natürliches Wesen betrachtet und seine grundlegende Würde, seinen Wert und seine Fähigkeit zur Selbstverwirklichung durch den Gebrauch der Vernunft und der wissenschaftlichen Methode verteidigt». Das kommt gut an, bis einer der Diskutanten ein Problem anspricht: Manche Leute glauben an Gott, bezeichnen sich aber dennoch als Humanisten. Am Ende der Sitzung sind alle verwirrter als am Anfang.[1] Doch die Thurmarshianer hätten sich keine Sorgen machen müssen: Sie waren alle auf der richtigen Spur. Jede ihrer Beschreibungen – und vieles andere – trägt zu einem umfassenden und facettenreichen Bild dessen bei, was Humanismus bedeutet und was Humanisten im Laufe der Jahrhunderte getan, untersucht und geglaubt haben. Eine Schülerin hatte von einer nicht übernatürlichen Sicht auf das Leben gesprochen, und tatsächlich ziehen es viele moderne Humanisten vor, ohne religiöse Überzeugung zu leben und ihre moralischen Entscheidungen auf der Basis von Empathie, Vernunft und dem Gefühl der Verantwortung gegenüber anderen Lebewesen zu treffen. Ihre Weltsicht wurde von dem Schriftsteller Kurt Vonnegut auf den Punkt gebracht, als er schrieb: «Ich bin Humanist, was unter anderem bedeutet, dass ich versuche, mich anständig zu verhalten, ohne Belohnung oder Strafe nach dem Tod zu erwarten.»[2] Aber auch der Thurmarshianer hatte Recht, der sagte, dass es Humanisten mit religiösen Überzeugungen gebe. Diese könnten trotzdem als Humanisten bezeichnet werden, insofern für sie das Leben und die Erfahrungen der Menschen hier auf der Erde im Vordergrund stehen, nicht Institutionen, Doktrinen oder eine Theologie des Jenseits. Andere Bedeutungen von «Humanismus» haben mit religiösen Fragen überhaupt nichts zu tun. Ein humanistischer Philosoph zum Beispiel ist einer, der die ganze lebendige Person in den Mittelpunkt stellt, statt sie in Systeme aus Worten, Zeichen oder abstrakten Prinzipien zu zerlegen. Ein humanistischer Architekt entwirft Gebäude nach menschlichem Maß, damit die Menschen, die darin wohnen müssen, sich nicht davon erdrückt oder überwältigt fühlen. Genauso kann es eine humanistische Medizin, Politik oder Bildung geben. Humanismus gibt es auch in Literatur, Fotografie und Film. In jedem Fall steht das Individuum an erster Stelle und wird keinem alles überwölbenden Konzept oder Ideal untergeordnet. Das kommt dem nahe, was die «humanitäre» Schülerin meinte. Aber was ist mit den Gelehrten im Italien des 14. und 15. Jahrhunderts und späterer Epochen, von denen die erste Thurmarshianerin spricht? Sie waren Humanisten eines anderen Typs: Sie übersetzten und edierten Bücher und unterrichteten Schüler, sie korrespondierten mit klugen Freunden, diskutierten über verschiedene Textauslegungen, förderten das geistige Leben und schrieben und redeten überhaupt viel. Sie waren Spezialisten der studia humanitatis oder humanistischen Studien, also der Geisteswissenschaften, die im Englischen humanities genannt werden. Ausgehend vom lateinischen Begriff wurden sie als umanisti bekannt, auch sie sind also Humanisten. Viele teilten die ethischen Anliegen von Humanisten anderen Typs und waren überzeugt, dass das Erlernen und Lehren der studia humanitatis zu einem tugendhafteren und zivilisierteren Leben befähige. Dozentinnen und Dozenten humanistischer und geisteswissenschaftlicher Fächer allgemein halten, wenn auch in modernisierter Form, oft immer noch an dieser Überzeugung fest. Sie versuchen, die Studenten mit literarischen und kulturellen Erfahrungen und mit den Instrumenten der kritischen Analyse vertraut zu machen, um ihre Sensibilität für die Perspektiven anderer zu schärfen, ihr Verständnis für politische und historische Ereignisse zu verfeinern und eine differenziertere und reflektiertere Sicht des Lebens allgemein zu vermitteln. Sie möchten die humanitas pflegen, was im Lateinischen Menschsein oder Menschlichkeit bedeutet und Nuancen von kultiviert, kenntnisreich, wortgewandt, wohlwollend und gesittet enthält.[3] Was also verbindet religiöse, nichtreligiöse, philosophische, praktische und Geisteswissenschaften lehrende Humanisten, falls sie überhaupt etwas gemeinsam haben? Die Antwort steckt schon im Namen: Sie alle haben die menschliche Dimension des Lebens im Blick. Was ist das für eine Dimension? Das lässt sich schwer definieren, aber sie liegt wohl irgendwo zwischen dem physischen Reich der Materie und einer wie auch immer vorstellbaren rein spirituellen oder göttlichen Sphäre. Natürlich bestehen wir Menschen aus Materie, wie alles um uns herum. Am anderen Ende dieses Spektrums können wir, wie manche glauben, auf irgendeine Weise mit dem Numinosen in Verbindung treten, während wir uns gleichzeitig in einem Wirklichkeitsraum befinden, der weder rein physisch noch rein spirituell ist. Hier üben wir kulturelle, geistige, moralische, rituelle und künstlerische Tätigkeiten aus, wie sie, wenn auch nicht ausschließlich, für unsere Spezies charakteristisch sind. In diese Tätigkeiten investieren wir einen Großteil unserer Zeit und Energie: indem wir reden, Geschichten erzählen, Bilder oder Modelle anfertigen, ethische Urteile fällen und darum ringen, das Richtige zu tun; indem wir soziale Vereinbarungen aushandeln, in Tempeln, Kirchen oder heiligen Hainen beten, Erinnerungen weitergeben, unterrichten, musizieren, Witze erzählen und zur Belustigung anderer herumalbern; indem wir versuchen, Dinge zu ergründen oder einfach nur die Art von Lebewesen zu sein, die wir sind. Das ist die Sphäre, die Humanisten jeder Couleur in den Mittelpunkt ihres Interesses stellen. Während Naturwissenschaftler die physische und Theologen die göttliche Welt studieren, befassen sich Humanisten der geisteswissenschaftlichen Tradition mit der menschlichen Welt der Kunst, Geschichte und Kultur. Nichtreligiöse Humanisten treffen ihre moralischen Entscheidungen auf der Grundlage des menschlichen Wohlergehens, nicht einer göttlichen Weisung. Religiöse Humanisten konzentrieren sich zwar gleichfalls auf das menschliche Wohlergehen, aber sie tun es im Rahmen ihres Glaubens. Philosophische und andere Humanisten gleichen ihre Ideen permanent mit der realen menschlichen Erfahrungswelt ab. In diesem Ansatz, der den Menschen in den Mittelpunkt rückt, klingt eine Bemerkung des griechischen Philosophen Protagoras an, der vor zweieinhalbtausend Jahren schrieb: «Der Mensch ist das Maß aller Dinge.»[4] Das mag arrogant klingen, bedeutet aber nicht, dass sich das gesamte Universum unseren Vorstellungen anpassen muss, und noch weniger, dass wir das Recht haben, uns gegenüber anderen Lebensformen als Herrscher aufzuspielen. Wir können es so verstehen, dass wir als Menschen unsere Wirklichkeit auf eine menschlich geprägte Weise erleben. Wir sind mit menschlichen Angelegenheiten vertraut und beschäftigen uns mit ihnen. Sie sind uns wichtig, nehmen wir sie also ernst. Zugegeben, nach dieser Definition ist fast alles, was wir tun, in gewisser Weise humanistisch. Andere Definitionsvorschläge sind sogar noch umfassender. E. M. Forster – ein zutiefst «humaner» Schriftsteller und zahlendes Mitglied humanistischer Organisationen – antwortete auf die Frage, was Humanismus für ihn bedeute: Der Humanismus könnte angemessener gewürdigt werden, wenn man all die Dinge auflistete, die man...