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E-Book, Deutsch, 607 Seiten

Baberowski Verbrannte Erde

Stalins Herrschaft der Gewalt

E-Book, Deutsch, 607 Seiten

ISBN: 978-3-406-79987-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Bolschewiki wollten eine neue Gesellschaft erschaffen und träumten vom neuen Menschen. Doch reicht esaus, auf das bolschewistische Projekt der Modernisierung zu verweisen, um die stalinistischen Gewaltexzesse zu erklären? War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? Das bolschewistische Projekt, so die These des Buches, bot eine Rechtfertigung für den Massenmord. Aber es schrieb ihn nicht vor. Es war Stalin, ein Psychopath und passionierter Gewalttäter, der den Traum vom neuen Menschen im Blut der Millionen erstickte. Er war Urheber und Regisseur des Terrors, der erst mit seinem Tod aufhörte. Er errichtete eine Ordnung des Misstrauens und der Furcht, in der jedermann jederzeit zum Opfer werden konnte. Wer in dieser Weise den inneren Kitt einer Gesellschaft zerstört, der hinterlässt auch in den Seelen der Menschen verbrannte Erde.
«Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren», steht über Dantes Höllentor. Dieser Satz hätte auch an den Grenzpfählen der Sowjetunion stehen können.
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I
WAS WAR DER STALINISMUS?
Im ersten Band seines «Archipel Gulag» erzählt Alexander Solschenizyn folgende Episode aus dem Jahr 1937, dem Jahr des Großen Terrors: «Eine Bezirksparteikonferenz (im Moskauer Gebiet) … Den Vorsitz führt der neue Bezirkssekretär anstelle des sitzenden früheren. Am Ende wird ein Schreiben an Stalin angenommen, Treuebekenntnisse und so weiter. Selbstredend stehen alle auf (wie auch jedesmal sonst der Saal aufspringt, wenn sein Name fällt). Im kleinen Saal braust ‹stürmischer, in Ovationen übergehender Applaus› auf. Drei Minuten, vier Minuten, fünf Minuten – noch immer ist er stürmisch und geht noch immer in Ovationen über. Doch die Hände schmerzen bereits. Die erhobenen Arme erlahmen. Die Älteren schnappen nach Luft. Und es wird das Ganze unerträglich dumm selbst für Leute, die Stalin aufrichtig verehren. Aber: wer wagt es als erster? Aufhören könnte der erste Bezirkssekretär. Doch er ist ein Neuling, er steht hier anstelle des Sitzenden, er hat selber Angst! Denn im Saal stehen und klatschen auch NKWD-Leute, die passen schon auf, wer als erster aufgibt! … Im kleinen, unbedeutenden Saal wird geklatscht … und Väterchen kann’s gar nicht hören … 6 Minuten! 7 Minuten! 8 Minuten! … Sie sind verloren! Zugrunde gerichtet! Sie können nicht mehr aufhören, bis das Herz zerspringt! Hinten, in der Tiefe des Saales, im Gedränge, kann einer noch schwindeln, einmal aussetzen, weniger Kraft, weniger Rage hineinlegen – aber nicht im Präsidium, nicht vor aller Augen! Der Direktor der Papierfabrik, ein starker und unabhängiger Mann, steht im Präsidium, begreift die Verlogenheit, die Ausweglosigkeit der Situation – und applaudiert – 9 Minuten! 10! Er wirft sehnsüchtige Blicke auf den Sekretär, doch der wagt es nicht. Verrückt! Total verrückt! Sie schielen mit schwacher Hoffnung einer zum anderen, unentwegt Begeisterung auf den Gesichtern, sie klatschen und werden klatschen, bis sie hinfallen, bis man sie auf Tragbahren hinausbringt! Und auch dann werden die Zurückgebliebenen nicht aufgeben! … Und so setzt der Direktor in der elften Minute eine geschäftige Miene auf und läßt sich in seinen Sessel im Präsidium fallen. Und – o Wunder! – wo ist der allgemeine, ungestüme und unbeschreibliche Enthusiasmus geblieben? Wie ein Mann hören sie mitten in der Bewegung auf und plumpsen ebenfalls nieder. Sie sind gerettet! Der Bann ist gebrochen! … Allein, an solchen Taten werden unabhängige Leute erkannt. Erkannt und festgenagelt: In selbiger Nacht wird der Direktor verhaftet. Mit Leichtigkeit werden ihm aus ganz anderem Anlaß zehn Jahre verpaßt. Doch nach Unterzeichnung des abschließenden Untersuchungsprotokolls vergißt der Untersuchungsrichter nicht die Mahnung: ‹Und hören Sie in Zukunft nie als erster mit dem Klatschen auf.›»[1] Was Alexander Solschenizyn beschrieb, war Realität für Hunderttausende Menschen in der Sowjetunion des Jahres 1937: ein kollektives Irrenhaus, in dem Menschen sich verhielten, als hätten sie jeden Bezug zur Normalität verloren und alle sozialen Beziehungen aufgegeben. Jedermann konnte jederzeit Opfer des staatlich organisierten Terrors werden: als Mitglied einer stigmatisierten sozialen oder ethnischen Gruppe, durch Denunziation oder Zufall, oder weil es dem Diktator gefiel, Menschen zu töten und in Angst und Schrecken zu versetzen. Im Ausnahmezustand wurde das Denkbare zum Machbaren, der Terror grenzenlos, und die Gewalt löste sich von den Anlässen, die sie einst ausgelöst hatten. Sie wurde zur Normalität, für die Machthaber ebenso wie für die Untertanen. Im Ausnahmezustand, den der Diktator über das Land verhängt hatte, zerfielen alle sozialen Sicherungssysteme, die es Menschen unter friedlichen Umständen ermöglichen, sich vor Gewalt und willkürlicher Verfolgung zu schützen. Für Kommunisten, die vom Anbruch einer neuen Zeit träumten, war die Gewalt ein unverzichtbares Instrument der Disziplinierung und Umerziehung unzivilisierter Bauernmassen. Für viele Opfer war sie das Ende von allem, weil sie Erwartungssicherheit, Rechtssicherheit und Vertrauen zerstörte, ohne die es ein Leben in der Gesellschaft nicht geben kann. Eine «Religion des Hasses, des Neids, der Feindschaft zwischen den Menschen» sei der Bolschewismus, schrieben Bauern aus dem Gebiet Kalinin, dem ehemaligen Twer, die sich im Jahr 1930 über ihre Erfahrungen mit den bewaffneten Organen des Sowjetstaates beklagten.[2] Sie sprachen aus, was Millionen täglich als Wirklichkeit erlebten. In der Sowjetunion Stalins konnten Menschen nach Belieben stigmatisiert, in Angst und Schrecken versetzt oder getötet werden, wenn die Schergen des Regimes danach verlangten. Die Zerstörungswut des Stalinismus kannte keine Grenzen, nicht einmal die Partei war am Ende noch ein Ort der Zuflucht. Sie zerstörte sich selbst, als die Säuberungen der dreißiger Jahre sich zu blutigem Terror potenzierten. Und es war Stalin, der die Destruktion unablässig ins Werk setzen ließ, weil er sich davon eine Totalisierung seiner eigenen Macht versprach. Nicht einmal nach dem Ende des Großen Terrors kam die sowjetische Gesellschaft zur Ruhe. Denn auch in den Jahren des Zweiten Weltkrieges bekämpfte das Regime seine vermeintlichen Feinde mit exzessiver Gewalt: kriegsmüde Soldaten, Deserteure, Flüchtlinge und nationale Minoritäten, die es verdächtigte, mit dem deutschen Aggressor zu paktieren. Nach allem, was Stalin und seine Helfer ihren Untertanen schon angetan hatten, hatten sie Grund genug, mißtrauisch zu sein. Sie kultivierten den Terror als Herrschaftsstil, weil sie sich keine Ordnung vorstellen konnten, die Gehorsam ohne Androhung und Anwendung von Gewalt erzwang. Während des Krieges wuchs der Terror über die Grenzen des sowjetischen Imperiums hinaus. Er verwüstete aber nicht nur die von der Roten Armee besetzten Nachbarländer. Auch im Inneren der Sowjetunion feierte die Gewalt ungeahnte Triumphe: Das Regime sperrte aus deutscher Gefangenschaft zurückkehrende Soldaten und Zwangsarbeiter in Konzentrationslager, es nahm den Krieg gegen Bauern und ethnische Minderheiten wieder auf und zerstörte alle Hoffnungen, das Ende des Krieges werde auch das Ende der Gewalt sein. «Wir alle waren wie Kaninchen», erinnerte sich der Drehbuchautor Waleri Frid, «die das Recht der Schlange, uns zu verschlingen, akzeptierten.»[3] Stalins Terror verwandelte Millionen Menschen in seelische Krüppel, weil er sie zwang, sich in einer Ordnung des Mißtrauens und der Furcht einzurichten. Die soziale Ordnung des Stalinismus war eine Ordnung dauerhafter Gewalt. In ihr konnte nur überleben, wer die Regeln und Überlebenstechniken beherrschte, auf denen diese Ordnung beruhte. Erst als der Despot im März 1953 starb, konnten seine Nachfolger das Spiel mit der Gewalt beenden. Dieses Buch spricht von den gewalttätigen Exzessen des Stalinismus und der Kultur, die sie ermöglichte. Deshalb wird in ihm auch keine Geschichte der Sowjetunion, sondern eine Geschichte des Stalinismus erzählt.[4] Vieles, was in einer Geschichte der Sowjetunion unverzichtbar gewesen wäre, hat in einer Geschichte der Gewalt keinen Platz. Auch über den Kommunismus als Ideologie hat dieses Buch nur wenig mitzuteilen. Denn der stalinistische Terror wurde zwar im Namen kommunistischer Ideen und Vorstellungen begründet und gerechtfertigt, aber nicht motiviert. Für Kommunisten haben sich im 20. Jahrhundert viele Machthaber gehalten, ohne daß es ihnen in den Sinn gekommen wäre, aus solchem Bekenntnis eine Lizenz zum Massenmord abzuleiten. Manche terroristischen Regime haben sich auf den Kommunismus berufen, aber nicht alle kommunistischen Regime waren terroristisch, wie zuletzt Stéphane Courtois im Vorwort zum «Schwarzbuch des Kommunismus» suggerierte.[5] Die stalinistische Ordnung wurde von der Allgegenwart des Terrors beherrscht. Aber wie ist dieser Terror zu verstehen? Woher kam die Gewalt, mit der die Machthaber die Gesellschaften des sowjetischen Vielvölkerimperiums überzogen? Und welche Verheerungen richtete sie an? Darauf möchte dieses Buch eine Antwort geben.[6] Die Gewalttaten des Stalinismus wurden nicht aus Texten oder Ideen hervorgebracht. Sie entstanden an historischen Orten, die ihre epidemische Ausbreitung überhaupt erst ermöglichten. Deshalb waren die kommunistischen Regime verschieden. Und dennoch haben alle bisherigen Versuche, die Essenz des Stalinismus zu bestimmen, von den gesellschaftlichen und kulturellen Umständen abgesehen, unter denen die Gewaltexzesse ihre Form gewannen. Immerhin hatten die Vordenker der Totalitarismustheorie, Hannah Arendt und Carl J. Friedrich, die Beobachtung gemacht, daß sich die faschistischen und kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts von allen anderen Formen autoritärer und autokratischer Herrschaft unterschieden. «Die totalitäre Diktatur ist eine neuartige Entwicklung, noch nie hat es etwas ihr wirklich Entsprechendes in der Vergangenheit gegeben», schrieb Friedrich in seinem unmittelbar nach Stalins Tod erschienenen Buch über die Diktatur neuen Typs.[7] Friedrich war ein Zeitgenosse jener Diktaturen, deren Eigenschaften er zu beschreiben versuchte. Als das Buch über die totalitäre Diktatur erschien, hatte die Entstalinisierung in der Sowjetunion noch nicht begonnen. Friedrich hatte also kein Wissen vom Ende jenes Stalinismus, den er als Diktatur totalitären Typs beschrieb. Deshalb sei, wie er im Vorwort zur deutschen Ausgabe schrieb, nicht zu erkennen, «daß sich in der Sowjetunion oder im totalitären System etwas Entscheidendes geändert hat».[8] Wir wissen es natürlich besser, aber wir können dieses...


Jörg Baberowski, geb. 1961, ist Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor zahlreicher Studien zur russischen und sowjetischen Geschichte.


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