Zur Bedeutung der Theologie Sören Kierkegaards für die Praxis des Glaubens
E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-374-04382-8
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Christine Axt-Piscalar In sich verstrickte Freiheit
ZUR GEGENWARTSBEDEUTUNG VON KIERKEGAARDS SÜNDENLEHRE1 1. Zwischen Anspruch und Plausibilitätsverlust Die Rede von der Sünde hat es in sich. Zum einen bildet sie eine zentrale Aussage gerade der evangelischen Anthropologie. Denn diese ist von der Überzeugung geleitet, dass, wer die Sünde in irgendeiner Weise verharmlost, das Versöhnungsgeschehen in Person und Wirken Jesu Christi herabmindert, indem, wo die Sünde nicht radikal genug gefasst wird, ein restverbliebenes Vermögen zum heilsrelevanten Guten behauptet wird. So hält es die Confessio Augustana in ihrem zweiten Artikel mit dem nötigen Nachdruck gegen die alten und neuen sowie jedwede zukünftigen Pelagianer fest.2 Zum andern gehört die theologische Lehre von der Sünde des Menschen ganz offenbar zu den am schwersten vermittelbaren Gehalten der Theologie. Kaum eine Arbeit zur Sündenlehre, die nicht mit der Reflexion auf den Sprach- und Bedeutungsverlust der Sündenlehre in der Moderne einsetzt. 2. Kierkegaards Phänomenologie der Sünde als Lebensangst und Verzweiflung Kann von der Sünde so gesprochen werden, dass der ,natürliche‘ Mensch diese Rede von der unvorgreiflichen Bestimmtheit seines Selbstvollzugs als eine Aussage über seine konkrete Existenz versteht? Kann davon so gesprochen werden, dass die Banalisierung der Rede von der Sünde ebenso wie ihre Moralisierung umgangen werden? Wie lässt sie sich gedanklich entfalten und wie an der Selbst- und Welterfahrung des Menschen bewähren?3 2.1 Die Unvertretbarkeit der Sündenerfahrung Kierkegaards Sündenlehre5 ist zunächst eine kritische Auseinandersetzung mit der traditionellen Gestalt der Erbsündenlehre. An dieser kritisiert Kierkegaard vor allem, dass der Konnex meiner je eigenen Sünde mit der Sünde Adams nicht überzeugend gedacht wird. Eine Vorstellung nämlich, welche die Verbindung meiner Sünde mit derjenigen Adams dadurch zu denken sucht, dass ich durch meine Eingebundenheit in die Geschichte des Menschengeschlechts an dessen Sündhaftigkeit partizipiere, erfasst den Schuldcharakter der Sünde und damit die Eigenverantwortlichkeit des Subjekts nicht.6 In der Sünde geht es für Kierkegaard um die individuelle Unvertretbarkeit der eigenen Schulderfahrung. „Der Sünde Ernst ist ihre Wirklichkeit in dem Einzelnen, ob du es bist oder ich.“7 2.2 Verfehlte Freiheitsbegriffe Das Charakteristische von Kierkegaards eigener Analyse endlicher Freiheit erhellt zunächst vor dem Hintergrund seiner Kritik an denjenigen Vorstellungen von Freiheit, die Kierkegaard als unterstufig und in der Sündenlehre nicht weiterführend zurückweist. Dies sind die Bestimmung der Freiheit als eines Vermögens der Wahl zwischen Gut und Böse sowie ihr Verständnis als Indifferenzfreiheit. Beide Vorstellungen, die der Wahlfreiheit und die der Indifferenzfreiheit gegenüber dem Guten, lehnt Kierkegaard mit einer seiner spitzen Formulierungen als „Gedanken-Unding“8 ab. Gegenüber dem Guten, so wendet Kierkegaard mit Recht ein, kann es im Grunde genommen keinen Zustand der Indifferenz oder der Wahlfreiheit geben, sondern nur die Entschiedenheit im Guten; alles andere ist kein guter, sondern bereits ein böser Wille.9 Das Gute als das Gute zu erkennen und es nicht gleichsam eo ipso auch zu wollen, sondern sich im Verhältnis der Indifferenz bzw. der Wahl gegenüber dem Guten zu halten, ist ein Zustand des bereits verderbten Willens; und es ist allemal kein angemessener Begriff von Freiheit.10 2.3 Die Sündhaftigkeit des strukturellen Vollzugs endlicher Freiheit Um den besagten Mängeln zu entgehen, versucht Kierkegaard die Möglichkeit der Sünde aus der Struktur endlicher Freiheit als solcher, aus der Verfasstheit endlichen Freiheitsvollzugs, zu ergründen, die allen einzelnen Vollzügen von Freiheit diese bestimmend zugrunde liegt. Darin hat seine Sündenlehre ihre eigentümliche Pointe und, wie ich meine, zugleich ihre Stärke. Kierkegaard analysiert die endliche Freiheit in ihrem Vollzug und deckt an ihm auf, was unweigerlich das Phänomen der Angst bzw. das Phänomen der Verzweiflung als die Grund-Manifestationen der Sünde mit sich führt. „Wie verhält der Geist sich zu sich selbst und seiner Bedingung? Er verhält sich als Angst. Seiner selbst ledig werden kann der Geist nicht; sich selber ergreifen kann er auch nicht, so lange er sich selbst außerhalb seiner hat; ins Vegetative versinken kann der Mensch auch nicht; denn er ist ja bestimmt als Geist; die Angst fliehen kann er nicht, denn er liebt sie; eigentlich lieben kann er sie nicht, denn er flieht sie.“14 Aus dieser Beschreibung erhellt noch einmal eindrücklich, was wir oben so ausgedrückt haben, dass wir uns nicht nicht zu der Bestimmung unseres Lebens, uns aufgegeben zu sein, verhalten können, dass sie uns jedoch – wie Kierkegaard sagen kann – in „sympathetisch-antipathetischer“15 Weise anzieht und zugleich ängstet. Ihrer ledig zu werden vermögen wir indes nicht. 2.4 Der faktische und latente Widerspruch zur Verdanktheit endlicher Freiheit Warum Angst und Verzweiflung darin gründen, dass die Freiheit als Vollzug selbstmächtiger Selbstbestimmung sich vollzieht, verstehen wir, wenn wir einsehen, was in diesem Vollzug faktisch negiert wird: Das ist die Verdanktheit unserer Freiheit, die in Gott gründet und die das bleibende Vorzeichen unserer endlichen Freiheit ist. Die Verdanktheit ihrer selbst spiegelt sich im selbstmächtigen Selbstvollzug der Freiheit – indem er ihr widerspricht – in den Grundformen der Verzweiflung wider, die ihn unweigerlich begleiten. So gibt Kierkegaard zu bedenken: „Hätte des Menschen Selbst sich selber gesetzt, so könnte nur von einer Form die Rede sein, von der, nicht man selbst sein zu wollen, sich selbst los werden zu wollen, aber es könnte nicht davon die Rede sein, daß man verzweifelt man selbst sein will. Letztere Formel ist nämlich der Ausdruck für die Abhängigkeit des ganzen Verhältnisses (des Selbsts), der Ausdruck dafür, daß das Selbst durch sich selber nicht zu Gleichgewicht und Ruhe gelangen oder darinnen sein kann, sondern allein dadurch, daß es, indem es sich zu sich selbst verhält, zu demjenigen sich verhält, welches das ganze Verhältnis gesetzt hat“18 – das heißt zu Gott. Der selbstmächtige, von sich selbst anfangende Vollzug von Freiheit widerspricht ipso facto der Verdanktheit endlicher Freiheit, indem er sich so vollzieht, wie er sich vollzieht und wie wir ihn immer schon vollzogen haben. Die endliche Freiheit des natürlichen Menschen widerspricht, indem sie von sich selbst anfängt, ihrem geschöpflichen Charakter, ihrer Bestimmtheit „durch ein Andres (i. e. durch Gott, C. A.-P.) gesetzt“19 zu sein; genauer, die Freiheit hat immer schon ihrem geschöpflichen Charakter widersprochen, kommt von diesem Widerspruch her und perenniert ihn. Dieser Widerspruch der von sich selbst anfangenden Freiheit zu ihrem geschöpflichen Charakter und damit zu Gott scheint wider in der Angst und der Verzweiflung. „recht gut, und eigentlich nur um so besser, in der Zeitlichkeit dahinleben, dem Anschein nach Mensch sein, von andern gepriesen werden, Ehre und Ansehen haben, mit allen Vorhaben der Zeitlichkeit beschäftigt. Ja eben das was man die Weltlichkeit nennt, besteht aus lauter solchen Menschen, welche sich, wenn man so sagen darf, der Welt verschreiben. Sie brauchen ihre Fähigkeiten, sammeln Geld und Gut, treiben weltliche Geschäfte, rechnen klug, usw. usw., werden vielleicht genannt in der Geschichte, aber sie selbst sind sie nicht, sie haben, geistig verstanden, kein Selbst, kein Selbst um des willen sie alles wagen würden, kein Selbst vor Gott – wie selbstisch sie auch im übrigen sein mögen.“23 Kierkegaard mahnt daher: „Daraus, daß ein Mensch nicht in intensiverem Sinne verzweifelt ist, daraus würde ja nicht folgen, daß er nicht verzweifelt wäre.“24 Denn die Verzweiflung und die mit ihr verknüpfte Verantwortung sind „da, wie viel der Verzweifelte gleich, und wie sinnreich sich selbst und andere täuschend“25, auch agiert. 3. Zur Bedeutung von Kierkegaards Sündenlehre Mit seiner Phänomenologie der Sünde in den Grundmanifestationen von Lebensangst und Verzweiflung nimmt Kierkegaard etwas wahr, was zum Anspruch jeder Sündenlehre gehört und zum Zuge zu bringen ist: dass sie die Existenz des natürlichen Menschen erhellt und aufdeckt. Indem Kierkegaard die Sünde mit dem Vollzug endlicher Freiheit in der beschriebenen Weise verbindet, vermag er die Aussageintention der reformatorischen Lehre vom peccatum originale einzuholen, nämlich die Unvorgreiflichkeit der Sünde im Vollzug der Freiheit, die all unserem Selbst- und Weltvollzug...