Streitschrift für eine globale Sozial-Ethik
E-Book, Deutsch, 132 Seiten
ISBN: 978-3-7568-9480-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Autor, emeritierter Universitätsprofessor und Leiter anderer Forschungsinstitutionen, hat auch zum Schicksal Europas als potentieller Friedensweltmacht und zu anderen polit-philo-sophischen Themen publiziert.
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E5 John Locke‘s „state of nature“ und „natural law“ John Locke‘s Konzept von “Naturgesetz” (natural law) konnte natürlich die evolutionären Aspekte von individuellem und Gruppenverhalten nicht berücksichtigen, wenn er “argumentierte, dass die Menschen Grundrechte unabhängig von den Gesetzen irgendeiner Gesellschaft haben, wie das Recht auf Leben, Freiheit und Besitz. Locke benutzte seine Forderung nach naturgegebener Freiheit und Gleichheit als Rechtfertigung zum Verständnis einer legitimen politischen Regierung als Ergebnis eines Gesellschaftsvertrages”.* 35 Das tatsächliche Naturgesetz des frühen Menschen wird jedoch bestimmt von den in der Evolution entstandenen Eigenschaften und repräsentiert durch die Einbindung des Individuums in Sippe, Clan und die dazugehörigen Abhängigkeiten und genetisch bedingte Verhaltensautomatismen. Ein Recht im Sinne eines naturgegebenen Anspruchs existiert als Ergebnis dieser Evolution hingegen nicht. Nur das geistige Erwachen und Erkennen der tatsächlichen Gegebenheiten kann die Menschen zur Einsicht bewegen, dass sie zwecks Stabilisierung ihrer Sicherheit einen Sozialkontrakt abschließen und einander Rechte zusprechen bzw. Beschränkungen auferlegen, um asoziales Verhalten in gegenseitigem Einverständnis einzudämmen. Mit „naturgegeben“ kann auch bei Locke ohnehin nur ein moralisches Recht im Rahmen eines Sozialkontrakts gemeint sein, da ein Recht immer nur ein soziales Phänomen sein kann. Insofern besteht in dieser Argumentation eine gewisse Zirkularität, bzw. resultieren die Rechte aus dem Gesellschaftsvertrag und nicht umgekehrt. Dies zeigt sich entsprechend an Beispielen aus dem wirklichen Leben: im Kriegsfall gibt es kein Naturrecht auf Leben; desgleichen nicht angesichts von Verbrechen und Todesstrafe, noch auf Freiheit bei lebenslänglichem Gefängnis. Leben ist also eine biologische Möglichkeit, kein Naturrecht. Desgleichen ist Freiheit kein Naturrecht, sondern das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses: Freiheit entsteht, indem Menschen einander gleiche Würde, also Anspruch auf Respekt einräumen: „Freiheit“ ist dieser von Allen mit gleichem Anspruch eingeräumte und beanspruchte Raum. Es trifft in der Regel eben nicht zu dass „die Menschen im Naturzustand schließlich überein[kommen], sich politisch zu organisieren und eine Regierung zu bilden“. Stattdessen entsteht aus der in vormenschlicher Zeit entstandenen instinktiven hierarchischen Gesellschaftsordnung eine neue Ordnung zur Regelung und Beschränkung bewusst ausgelebten und ausgekosteten instinktiven Verhaltens. Insofern ist also Hobbes‘ Vorschlag der Realität eines sozialen Urzustandes näher, in dem „Recht … erst … vom absoluten Herrscher geschaffen“ wird (beide Zit.36). Locke’s Standpunkt könnte man verstehen als Reaktion auf die Forderung nach Hierarchie als Ausdruck des Gotteswillens, weil aus der Anbindung an Religion der säkulare Machtmissbrauch gerechtfertigt wird. Tatsächlich gibt es außer „gesetzmäßig“ ablaufenden körperlichen Automatismen nur das, was er als „positives Gesetz“ – positive law - bezeichnet, nämlich den Gesellschaftsvertrag. Richtig ist, dass in der Evolution sozial gewachsene Gewohnheiten Naturgesetzcharakter annehmen und Locke’s “state of nature”, “natural law”, zugeordnet werden könnten; sie betreffen jedoch insgesamt nur Verhalten, keine Rechte. Insgesamt geht aus solchen Gedanken jedoch der fundamentale Wandel hervor, der sich in den Köpfen dieser Vordenker wie Locke vollzieht: nämlich religiös fundiertes Glauben durch rationales Denken und Schlussfolgern zu ersetzen. Inkongruenzen in Texten dieser Zeit müssen teilweise auch auf Vorsicht und Überlebenswillen der Autoren zurückgeführt werden, die feststellen, dass die Naturbeobachtung und das rationale Denken zu anderen Ergebnissen führen kann, als dies der religiöse Glaube vorschreibt. Wer also leben will, muss wohl hin und wieder möglichst vage umschreiben anstatt klar zu beschreiben, um nicht der Inquisition anheimzufallen. Auch die von Kant postulierte naturgegebene Moral – als a priori - gibt es nicht: Kant schrieb: „Das Fundament der praktischen Vernunft und der ethischen Verpflichtung ist aber das Faktum der Vernunft und das moralische Gesetz „in mir“.37 Auch dieses Gesetz in mir ist lediglich das Ergebnis des evolutionären Prozesses, teilweise auch bereits der kulturellen Evolution. „Tötung“ als Mord zu bezeichnen ist ein Beispiel: es gibt eine tief in der Evolution verwurzelte Tötungshemmung innerhalb einer Spezies, Kultur oder Sippe (s. hierzu auch A331); ebenso gibt es aber den legalisierten Mord als Ergebnis eines Sozialkontrakts, wie im Krieg, im Gesetz, unter Kannibalen, als religiös-rituelle Tötung. Einige Verhaltensweisen früher Völker stechen besonders hervor, wie die Grausamkeiten der mongolischen „Goldenen Horde“, oder zeitgeschichtliche Greueltaten, die allesamt keinen Hinweis auf die Existenz eines moralischen a priori erkennen lassen. Die Tötungshemmung ist jedoch eine äußerst starke und tief verwurzelte Kraft - möglicherweise eine jener Kräfte, auf die sich Kant mit seinem vermeintlichen a priori beruft: Sigmund Freud bezieht sich in seinem Werk „Totem und Tabu“ auf frühe völkerkundliche Forschung bei damals noch in vielen Regionen anzutreffenden Naturvölkern; er beschreibt Schuldgefühle bei Stammeskriegern nach Tötung von Feinden, und Riten, mit deren Hilfe sie vom Fluch aus dem Tabubruch befreit wurden, den sie durch die Überwindung ihrer Tötungshemmung begangen hatten.38 Gesetze sind Verhaltensregeln oder ihr Negativabdruck, die Verbote, nach denen wir zu leben haben. Was wir einander zubilligen ist unsere Freiheit, kein Naturgesetz. Locke’s “state of nature” entspricht dem archaischen Sozialverhalten und der daraus resultierenden Sozialordnung. Dies bedeutet, dass auch wir heute mit unserem spontanen Sozialverhalten in diesem „Naturzustand“ leben, während wir gleichzeitig – parallel – im Rechtsstaat leben, den Locke mit „positive law“ benennt. Letzterer entspricht den Erwartungen an uns im Sinne unseres Status als „Soll-Mensch“,39, 40 bewacht vom Rechtsstaat. Ein Sozialkontrakt schränkt durch seine Regeln die individuelle Freiheit ein, als Moral bezeichnet. Dieser Vertrag baut aber bereits manches spontane Sozialverhalten als Regel mit ein. Diese Moral wird jedoch sodann von manchen Philosophen irrigerweise als „Naturgesetz“ bezeichnet; irrigerweise deshalb, weil ja die Moral nur durch die Vertragsinhalte beschrieben, nicht jedoch durch ein Naturgesetz repräsentiert wird (es sei denn, man wollte einen in der Evolution entwickelten Verhaltensmechanismus als Naturgesetz bezeichnen). Die „naturgegebenen“ Anteile sind eben nicht Moral, sondern evolutionsbasiertes Spontanverhalten. Der Vertrag bezeichnet manches Spontanverhalten als moralisch (z.B. Altruismus, Inzesthemmung oder Tötungshemmung), anderes hingegen als kriminell (z.B. Tötung); in einer dritten Kategorie wird situationsbedingt unterschieden (im Krieg ist Töten nicht kriminell, sondern Heldentum). Töten allgemein als Delikt zu bezeichnen wäre beispielsweise in einer Gesellschaft von Kannibalen unsinnig. Außer den evolutionär entwickelten Verhaltensweisen gibt es also kein “Naturgesetz“, kein a priori, wie es Kant sah. Nur sehr fundamentale Hirnfunktionen, entstanden in der Evolution, könnten als „naturgesetzlich“ bezeichnet werden, ähnlich wie man in der Physik Naturgesetze beschreibt – wobei letztere tatsächlich ein a priori darstellen, ohne das die Welt nicht existieren könnte (ohne Zusammenhalt der Atome durch Kernkräfte und elektromagnetische Kraft sowie ohne Gravitation). Beschränkt man sich auf Sozialverhalten, dann kann man sagen, dass es nur „positive law“ im Sinne Locke‘s gibt. Auch Gottesgesetze zählen in diese Kategorie, denn sie handeln von moralischem Verhalten, dessen Definition aus älteren Büchern, Traditionen oder Offenbarungen entnommen wird. Es besteht also Grund zur Annahme, dass einige Ungereimtheiten in Locke’s Text auf seinem Bemühen beruhen, seinen eigenen Standpunkt zu verschleiern. “Hobbes sah die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft als die einzige Garantie für individuelle Sicherheit an ... Die Sicherheit besteht nur in dieser “gemeinschaftlichen Macht“, sagte Hobbes, und nannte sie ‘Leviathan‘. Seine Autorität entspringt aus der Übereinkunft aller Mitglieder der Gesellschaft, seine unbeschränkte Macht über sie anzuerkennen. ... Obwohl der Souverän über dem Gesetz steht und nicht anfechtbar ist, gibt es dabei dennoch eine Beschränkung ... sie besteht nämlich darin, die Sicherheit der Untertanen zu gewährleisten“.* 41 Auch hier ist also die Macht des Souveräns nicht absolut, denn man könnte über die Bedeutung von „Sicherheit“...