Athina Tsangari / Heinrich / Lenssen | Revolver 40 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 95 Seiten

Athina Tsangari / Heinrich / Lenssen Revolver 40

E-Book, Deutsch, 95 Seiten

ISBN: 978-3-7487-3962-3
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Widerstand ist ein großes Wort. Gerade im Film. Sind die Organisationsformen hierzulande, ist das Koproduktionseuropa nicht zu sehr auf Kompromiss gebaut, sind die Institutionen nicht verdammt dazu, sich selbst fortzusetzen, verwalteter Film, Verwaltungsfilm, Gremienkino? Ist nicht jeder Widerstand deshalb zwecklos, weil er vereinnahmt wird, bevor er auch nur einen Zuschauer gefunden hat? Die Werbung sagt 'radikal', damit es niemand sonst sein muss, und schon gar nicht der Film? Und doch: was übrig bleibt, im Kopf, nach dem Film, das ist der Blick, das Schnalzen der Zunge, der Splitter, der überschüssig, außer Kontrolle, widerständig war. Für und gegen den Zuschauer zugleich.
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Ich verstehe die Frage nach dem Vergessenen nicht als Bilanz von Defiziten, eher als Prospekt auf Filme, in die Geschichte eingeht anders als bisher. In dem Sinn, wie jeder Film Augenblicksereignisse festhält und zusammenbaut, mache ich auch keinen Unterschied zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem. Es geht um Skizzen, die gern eine Stoffsammlung werden würden und, übersetzt in Drehbücher, so signifikant bleiben sollten, wie sie sind: alltäglich und bodenlos. Die Filme danach wünsche ich mir wie Kommentare auf den schönen Satz von Rimbaud: „Es kommt darauf an, durch Verwirrung aller Sinne zum Unbekannten zu gelangen.“ Der Weg dazu wäre die Erforschung des Bekannten. Schwierig ist es mit dem Ver im Un/Verfilmten. Am besten sind Filme, also statt verzweifelt verbissen Vereinnahmtem: erfunden erreicht Erfilmtes. Vor zehn bis zwanzig Jahren hatte Kino für mich etwas mit Erwachsenwerden zu tun, heftig, heimlich und geheimnisvoll. Das Unbekannte lag nicht nur in dem, was die Filme zeigten, sondern auch in dem, was sie wegließen, übersprangen, aus den Lücken heraus erfanden, aus Lust am Zeigen an Formbewußtsein hatten. Noch zehn Jahre vorher bekam ich Fieber, nachdem ich gesehen hatte, wie sich in Schneeweißchen und Rosenrot der Bär mit Knall und Rauch in einen Prinzen verwandelte. Heute passiert es öfter, als mir lieb ist, daß ich aus dem Kino komme und weder entspannt, gestärkt und voller Appetit auf am Wege Liegendes, noch richtig wütend, irritiert und angefochten bin. Die Prinzen haben sich erledigt. Aber wie ist es mit Knall und Rauch? Das Vergessene liegt in zwei Richtungen verstreut: es liegt im Unverfilmten in den fertigen Filmen selbst und liegt im Nichtgefilmten, in der Schublade Verschwundenen, zu Billigen, zu Teuren, zu Banalen, schon Dagewesenen, Leblosen, Introvertierten, Extrovertierten, Brisanten und Unverkäuflichen. Andererseits haben wir von all dem in den produzierten Filmen genug. Das Verfilmte entsorgt das Unverfilmte.
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Es fehlen: starke Nebenfiguren * Treffende Dialoge (die den vorfilmischen Sprachverlust nicht verdoppeln oder analysieren, sondern außer Kraft setzen: mit einem Film in die Lage kommen, über ihn reden zu können, ohne sich zu bestätigen) * Deutsche Landschaften – Wolken, Wetter, Regenfronten, Hagelkörner, Überschwemmungen, Inversionen und Fühligkeiten dabei * Katastrophen * Manöver * Flurschäden * Butterfahrten * Weibliche Gauner * Böse Kinder * Pfeifende Frauen * Arbeitslose * Mörder/innen ohne Motiv * Gut getanzte Tänze * Feste oder was sich dafür hält * Saboteure * Zukunftsinvestitionen * Kriminelle Künste (handwerklich präzise, aufklärend, anleitend, schön anzusehen) * Hintergrundsdramaturgien, die die Vordergründe nicht bloß illustrieren * Verwechslungen * Ausrutscher * Tücken des Objekts * Schmutzige Autos * Geheimnisträger/innen * Warenhäuser * Stillgelegte Tankstellen * Jahresautos * Benzinpreise * Betriebsrenten * Dichtgemachte Kurkliniken * Grenzverletzungen in der Laubenkolonie * Wasserfilter * Hautausschläge und Allergien als melodramatische Versatzstücke für die Unerträglichkeit der Welt * Schmutzfinken * Weltverbesserer und Akzeptanzforscher * Erfinderinnen * Pfarrer als Kirchenräuber * Kontaktbereichsbeamte * Kurzsichtige * Auswanderer * Jähzornige Frauen * Frauen, die es sich nicht leisten können, Angst zu haben, und die es schaffen, einen Vergewaltiger von seinem Vorhaben abzubringen * Leute, die lügen, weil sie spannender finden, was sie machen wollten, als was sie gemacht haben, und wie sie aus dem Normativen eine komische Kraft des Faktischen filtern * Nachrichtenschmuggler/innen * Radfahrer/innen * Greenpeace-Aktionen * Stromausfälle in vollautomatisierten Häusern * Kabelschächte und wie man sie knackt – zum Hinsehen genau * Anarchistisch umfunktionierte Live-Sendungen und wie das hinter der Kamera aussieht – in Coproduktion mit dem österreichischen Fernsehen * Schweine ohne Schweinsgalopp, aber mit der siebten Rippe * Rotlichtferkel, hospitalisierte Kälber mit Musik * Monokultur und Maul- und Klauenseuchen, bestochene Amtstierärzte, Hypotheken und Fleischüberproduktion, Lobbyisten in Brüssel, die ihr Gut sanieren und Pleiten im Familienbetrieb, Brandstiftung – Landwirtschaft und Kriminalität * Obstvernichtung und Traktordemonstrationen * Schattenökonomie * Schwarzarbeit * Hausmänner, die durchdrehen * Weibliche Stagehands, die aus Rache einen Auftritt platzen lassen (können), – nur sie wissen, wie die Anlage funktioniert * Beziehungsclinch auf der Transitstrecke ohne die Chance zum Aussteigen * Bustourismus älterer Herrschaften, und eine Frau sagt: „Ich habe den Star und bin schon 85, aber soviel seh’ ich, Ihr Kleid ist schön.“ Antwortet die andere Frau: „So alt möcht ich nicht werden.“ Wie spinnt sich trotzdem etwas an zwischen ihnen? * Eine Rentnerin, die die TAZ aus dem Müllkasten auf der Straße stibitzt * Ein cooler Kriminalfilm über verschwundene Waffen aus Polizei- und Bundeswehrdepots * Politische Mütter, die eine Gebärstreikkampagne organisieren und ihre kinderlosen Freundinnen, die ihn leben und wissen, worauf sie verzichten * Sex und die Gretchen-Frage nach der Verhütung (mittendrin, wieder leicht peinlich, schockierend, Verhältnisse klärend) * Tötung auf Verlangen als letzter Akt von Unterwerfung einer guten Ehefrau, ein Kapitel über Ehe und Masochismus * Groteske Sittenfilme über anachronistische Leute, liebenswert und abgründig: z. B. stur Monogame, Scheckkartenverächter, Schuldenvermeider, Arbeiter als Freizeitmusiker ohne Verstärkeranlage * Die Reise einer Frau, die abtreiben muss, aus einem CDU-Land nach… * Die Türkenfamilie, die bei einem Abtreibungsarzt auftaucht, damit er der 14-jährigen Tochter das Hymen wieder zusammennäht, weil eine Hochzeit bevorsteht, sein Geschäft, das Fest und eine Geschichte danach * Der Lebensrhythmus eines gestandenen Menschen, der 3 Mal pro Woche an einen Dialyseapparat angeschlossen wird – eine Reportage mit melodramatischen Zügen * Die Erfindung eines Nierensteinzerstörers ohne chirurgischen Eingriff als Abfallprodukt militärischer Forschungen einer Flugzeugfabrik – konspirativ recherchiert wie ein Mafiafilm * Die BRD und ihre alliierten Staaten im Staat – fortgeschrittene Kapazitäten elektronischer Abhörsysteme, Kooperation und Konkurrenz zwischen ihren und deutschen Exekutivinstitutionen * Die typisch deutschen Findebücher: Meldeformalitäten, selbstverständlich gewordene Kopieraktionen von Pässen, an der Grenze und am Flughafen – was passiert mit denen, die sich dagegen wehren? Ein Skandalfilm * Putativnotwehr * Ein Check im einzigen Atombunker einer Großstadt kurz vor dem Eintreffen einer UNO-Kommission und nichts funktioniert – ein Studiofilm * Ein Film über Deutschland und seine Geräusche, die Unmöglichkeit von Stille und ein Kapitel nach Berichten aus dem Hochsicherheitstrakt * Filme über pathetische deutsche Landschaften und ihre Starkstromleitungen, Flurbereinigungen, Freizeitparks, Naherholungszentren, Ausbaustrecken (die an der Gemarkungsgrenze enden), Bonzenhügel am Kleinstadtrand mit Alarmanlagen * Ein gemütlicher Familienfilm über die Kunst des Ablebens: mitspielen das Bestattungsunternehmen Himml in Bayreuth, heimliche nächtliche Leichentransporte aus einem angesehenen Sanatorium, Grabsteinverordnungen, Kranzbindereien, Umbettungsformalitäten (ein verunglückter Kult-Film) * Ein Zombie-Film mit Hilde Knef, als Low-Budget-Remake von Billy Wilders „Fedora“ vielleicht.
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Der deutsche Film ist zu nett und zu tief. Es fehlen: schwarze Parodien auf die hermetische Melancholie, auf die protestantische Unerbittlichkeit der relevanten Problemfilme. Auf die Wim-Thoelke- und Robert-Lembke-Freundlichkeit.
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Es fehlen: herzkranke Polizeipräsidenten mit Söhnen in der Hausbesetzerszene, brotzeitfassende Landwirtschaftsminister auf der Alm, handstandgeübte Grüne in Sondierungsgesprächen mit SPD-Linken in Maßanzügen plus jeweilige Parteibasis-Kämpfe um Mandate und Rotationsprinzipien (Zentralismus und Phantasie) * Politik und Kitsch * Die Revolverblättle-Katharsis der Deutschen in ihrer Liebe zum Adel * Die 14 schlaflosen Nächte der FDP-Frauen.

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Es fehlen: Luftfahrtingenieurinnen in der Mittelstandsparteizentrale, nach einem Hearing mit autonomen Feministinnen im Antragsclinch mit einbeinigen Parteigrafen (Karriere und Weitsicht) * Die deutsche Schlagertränendrüse...


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