E-Book, Deutsch, 185 Seiten
Assion / Habermeyer / Huchzermeier Innovative Therapie
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-041784-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zukunftsweisende Behandlungskonzepte in Psychiatrie, Forensischer Psychiatrie und im Justizvollzug
E-Book, Deutsch, 185 Seiten
ISBN: 978-3-17-041784-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In der aktuellen Versorgungspraxis führt der Wechsel des Behandlungssettings regelhaft zu Problemen: Informationen gehen verloren, therapeutische Angebote werden nicht fortgeführt, eine ambulante Weiterbehandlung ist schwer zu finden und oft kommt es zu erheblichen Wartezeiten. Außerdem trägt die Verankerung der Versorgungsleistungen in verschiedenen Sozialgesetzbüchern zu Gräben zwischen den Leistungserbringern bei.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie eine zukunftsweisende psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung im Sinne der Betroffenen effektiver gestaltet werden kann und wo sie stattfinden kann. Antworten geben innovative Behandlungsansätze, die gewohnte Pfade verlassen, in ungewöhnlichen Bereichen angesiedelt sind, moderne Technik nutzen und neue Lösungen finden.
Dieses multiprofessionell gestaltete Herausgeberwerk macht auf Schwachstellen der Versorgung aufmerksam und stellt Modellprojekte in der allgemeinen Psychiatrie, forensischen Psychiatrie und im Justizvollzug vor, die die verschiedenen Fachgebiete und Versorgungsbereiche integrieren. Von den Perspektiven und Lösungsansätzen können alle Beteiligten profitieren und werden ermutigt, eigenen Ideen Raum zu geben, auch wenn sie ungewöhnlich erscheinen mögen.
Autoren/Hrsg.
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1 Stationsäquivalente Behandlung: Das Spiel ist eröffnet für eine Standardbehandlung der Zukunft
Gerhard Längle und Hans-Jörg Assion 1.1 Der Blick über den Spielfeldrand: Wegbereiter im In- und Ausland
In den letzten Jahrzehnten hat sich in vielen europäischen Ländern, insbesondere mit Systemen der Staatsmedizin, ein aufsuchendes Behandlungs- und Versorgungssystem entwickelt, das Elemente der stationsäquivalenten Behandlung enthält. Die klassische Trennung zwischen stationärem und ambulantem Geschehen (und damit zwischen Krankenhausbereich und dem System der Kassenärztlichen Vereinigungen) existiert in dieser Form beispielsweise in England nicht. Verschiedene multiprofessionelle Teams behandeln und begleiten in unterschiedlicher Intensität akut oder chronisch psychisch kranke Menschen. Übertragbare Vorerfahrungen ergeben sich im Wesentlichen aus den englischen »Crisis Intervention Teams« (CIT), welche die Intensität der stationären Behandlung in die aufsuchende Behandlung zu Hause übertragen und insofern stationsersetzend tätig sind (Johnson 2013). Organisiert werden sie häufig aus den Kliniken heraus. In Deutschland gibt es verschiedene Modelle im Rahmen von Regionalbudgets, z. T. nach den Regularien der §§ 64b Abs. 3 SGB V und 140 a SGB V (Becker et al. 2008; Deister und Wilms 2014). Dabei sind die Modelle der integrierten Versorgung, bei denen ein Krankenhaus für eine bestimmte Patientengruppe eine Pauschalfinanzierung für die Gesamtheit der Krankenhausleistungen (psychiatrische Institutsambulanz, Tageskliniken, stationäre Behandlung) erhält, meist beschränkt auf einzelne Krankenkassen, in einem Einschreibemodell für die Versicherten. Sie sind zu trennen von sog. Regionalbudgets, wie sie seit vielen Jahren in der Region Itzehoe und neuerdings in Rheinland-Pfalz realisiert werden. Sowohl die z.?T. noch laufenden Modellprojekte als auch die Regionalbudgets konnten sich, aus verschiedenen Gründen, bislang in Deutschland nicht durchsetzen. Die Erfahrungen mit einer aufsuchenden Behandlung, auch in schweren Krankheitsphasen und/oder krisenhaften Zuspitzungen, sind jedoch weitgehend positiv, sowohl aus Sicht der Patient:innen, als auch aus Sicht von Angehörigen und Behandelnden. Die StäB-Behandlung von Kinder- und Jugendlichen und deren nationale und internationale Vorläufer soll in diesem Beitrag nicht gesondert betrachtet werden, hierfür wird verwiesen auf den ausführlichen Beitrag hierzu im Handbuch zur Stationsäquivalenten Behandlung von Längle et al. (2022). 1.2 Stationsäquivalente Behandlung: ein neues Spielfeld der Krankenhauspsychiatrie – das gesetzliche Regelwerk
Per Bundesgesetz (PsychVVG, Drucksache 18/9528 in Kraft getreten am 01.?01.?2017) wurde die stationsäquivalente Behandlung durch Veränderung der § 39 und 115d SGB V als neue Form der Akutbehandlung psychisch Kranker gleichrangig neben die teilstationäre und stationäre Behandlung gestellt. Durchgeführt werden darf sie im Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie durch Krankenhäuser/Abteilungen mit Versorgungsverpflichtung. Für die Durchführung der stationsäquivalenten Behandlung werden relativ enge (und viel diskutierte) Grenzen gesetzt: Kernvoraussetzung ist die stationäre Behandlungsbedürftigkeit der Patient:innen. Nur so lange diese gegeben ist und die Voraussetzungen für eine Einweisung in die Klinik bestehen, kann alternativ dazu die aufsuchende, stationsäquivalente Behandlung zu Hause durchgeführt und abgerechnet werden. Weitere Festlegungen wie die Zusammensetzung des multiprofessionellen Teams, der tägliche Behandlungskontakt u.?a.m. sind bereits im Gesetz niedergelegt und finden sich sowohl in der Bundesrahmenvereinbarung als auch in der OPS 9?–?701 wieder (Deutsche Krankenhausgesellschaft et al. 2017; Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) 2021). Mit der Regelung der Details wurde, mit hohem Zeitdruck angesichts der drohenden automatischen Schiedsstellenbeteiligung, die Selbstverwaltung beauftragt, um das Gesetz zum 01.?01.?2018 in die Umsetzung zu bringen. 1.3 Die Ausformung des Regelwerkes durch die Selbstverwaltung – Regeln, Regelverstöße und ihre Folgen
In einem umfassenden Verfahren wurden die formalen Regeln zur Durchführung von StäB zwischen den Bundesverbänden der Krankenkassen und der Krankenhäuser verhandelt. Viele Detailfragen, die bei dieser ganz andersartigen Behandlungsform neu zu bedenken waren, wurden intensiv diskutiert und, letztlich geeint, in der Bundesrahmenvereinbarung StäB niedergelegt (Deutsche Krankenhausgesellschaft 2017). Die wesentlichen Elemente fanden im Anschluss daran Eingang in die OPS-Definition 9?–?701 und legen fest, dass vor Behandlungsaufnahme neben der grundsätzlichen stationären Behandlungsbedürftigkeit auch die Eignung des häuslichen Umfeldes nach verschiedenen Kriterien geprüft werden muss. Außerdem werden die Zusammensetzung des Behandlungsteams (mindestens drei Berufsgruppen) des Behandlungsablaufes (täglicher Kontakt, in der Regel vor Ort zu Hause, einmal wöchentliche ärztliche Visite, wöchentliche multiprofessionelle Fallkonferenz u.?ä.) festgeschrieben. Die im Haushalt lebenden erwachsenen Mitbewohner:innen müssen einverstanden sein und eine potenzielle Gefährdung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Diese formalen Kriterien wurden und werden vom medizinischen Dienst im Auftrag der Krankenkassen in den verschiedenen Regionen intensiv überprüft. Ansonsten gilt, wie im stationären Setting, die Verantwortlichkeit für die Patient:innen an 24 Stunden über sieben Tage die Woche hinweg, verbleibt beim aufnehmenden Krankenhaus. Neu auftretende Erkrankungen sind im Behandlungskontext abzuklären und zu behandeln, alle bestehenden Erkrankungen sind, wie im Krankenhaus, mit zu behandeln. Eine ärztliche Eingriffsmöglichkeit muss jederzeit gegeben sein, ebenso die Aufnahmefähigkeit in einer im häuslichen Umfeld nicht zu bewältigenden Krisensituation. Insgesamt können die Regularien als angemessen betrachtet werden angesichts der Zielgruppe der akut psychisch erkrankten Patient:innen. Leider nicht vorgesehen ist aber eine nach Ende der stationären Behandlungsbedürftigkeit ggf. hilfreiche Überleitungsbehandlung hin zum ambulanten Versorgungssystem durch eine Reduktion der täglichen oder wöchentlichen Kontaktfrequenz. Der Bruch in der Behandlungsintensität bleibt damit leider dem der stationären Behandlung vergleichbar. Bei Verstößen gegen die Regularien greifen die aus dem stationären Kontext vertrauten Zahlungsabzüge der Krankenkassen für einzelne Behandlungstage oder den gesamten Behandlungsverlauf. 1.4 Das Budget – Möglichkeiten der Finanzierung des Spielbetriebs
Jedes psychiatrische Krankenhaus mit Versorgungsverpflichtung ist grundsätzlich berechtigt, StäB durchzuführen und abzurechnen. Aktuell steht dafür, wie für andere noch unbewertete PEPPs, eine pauschalierte Vergütung von 200,– Euro für die hilfsweise Abrechnung zur Verfügung. In der Regel wird aber vor Aufnahme der Tätigkeit oder zumindest im Startjahr im Rahmen der regulären Budgetverhandlungen ein Budget auch für diese Behandlungsform vereinbart. Die Regularien zur Budgetfindung sind grundsätzlich dieselben wie für den stationären und teilstationären Bereich, jedoch ohne die Rückgriffmöglichkeit auf klassische Psych-PV-Regularien. Sofern bereits StäB-Plätze krankenhausplanerisch zugewiesen wurden, erleichtert dies die Verhandlung. Die Verhandlungsinhalte sind entsprechend schiedsstellenfähig. In Deutschland haben sich bislang zwei Modelle der Finanzierung von StäB durchgesetzt: Zum einen die Vergütung mit festgelegten täglichen Vergütungssätzen. Dieses Modell wird bislang in allen Bundesländern außerhalb Baden-Württembergs favorisiert. In Baden-Württemberg, dem Bundesland mit den bei weitem meisten Kliniken, die StäB 2021 bereits umgesetzt haben, wurde ein Vergütungsmodell vereinbart, das sich zum einen Teil aus einer Tagespauschale zusammensetzt, die alle Leistungen der Verwaltung, die Sachkosten und die Zeiten therapeutischen Personals ohne direkten Kontakt zu Patient:innen abdecken. Dieses 2018 erstmalig in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen verhandelte und dann landesweit übernommene Modell wurde 2021 minimal modifiziert. Der zweite Teil der täglichen Vergütung ergibt sich aus der nach Fachleistungszeiten abgerechneten tatsächlichen Leistung an den Patient:innen durch die Berufsgruppen: Ärzt:innen, Psycholog:innen, Spezialtherapeut:innen und Pflegekräfte. Fahrzeiten werden pauschal mit 40 Minuten pro aufsuchendem Kontakt vergütet. Diese Kombination aus festem Pauschalbetrag und leistungsabhängiger Vergütung bildet, nach der Überzeugung der in Baden-Württemberg Tätigen, die wechselnde Intensität der...