Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-641-26740-7
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Um seiner chronischen Schlaflosigkeit zu entkommen, unternimmt Asscher gedankliche Wanderungen durch das Haus seiner Großeltern in London, in dem er als Kind seine Sommer verbrachte. Mit jeder durchwachten Nacht erinnert er sich genauer: an das von Büchern gesäumte Arbeitszimmer seines Opas, an die immer in Bewegung befindlichen Hände der Oma oder an den kratzsüßen Sirup auf dem Vanilleeis. Doch es bleiben Leerstellen, denn die Vergangenheit der Großeltern ist voller halb erzählter Geschichten. Wie haben sie den Krieg überlebt, waren sie doch in das Durchgangslager Westerbork gebracht worden? Und warum sind sie nach dem Krieg plötzlich nach England gegangen?Mit einfühlsamem Blick erinnert sich Maarten Asscher an seine jüdischen Großeltern - ein Wechselspiel zwischen liebevollen Details, schwerwiegenden Erkenntnissen und intimen Gedanken.
Maarten Asscher, geboren 1957 in Alkmaar, studierte Assyriologie und Jura, bevor er sich der Verlagsarbeit und seiner eigenen Tätigkeit als Schriftsteller zuwandte. Als Verleger trug er dazu bei, dass Autoren wie Giorgio Bassani, Marcel Möring, Carlos Fuentes, Primo Levi und Amos Oz in ihrer literarischen Bedeutung in den Niederlanden anerkannt wurden. Er selbst übertrug u.a. Gedichte von Thomas Gry, Paul Valéry und Fernando Pessoa. Von 1998 bis 2003 hatte er ein hohes Amt im niederländischen Ministerium für kulturelle Angelegenheiten inne. Danach war er Geschäftsführer von Athenaeum Boekhandel in Amsterdam, einer der größten unabhängigen Buchhandlungen der Niederlande. Maarten Asscher hat Essays, Erzählungen, Gedichte sowie Romane veröffentlicht.
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1
Es ist der 2. Juli, und das Bett steht schon bereit. In England ist wunderbares Wetter, und alles wartet nur noch auf den Besuch aus Holland, so steht es in einem Notizbuch, das Oma Roosje von der ersten bis zur letzten Seite vollgeschrieben hat. Im Rückblick betrachtet muss es der Sommer gewesen sein, in dem ich mit einer Gruppe sechzehn-, siebzehnjähriger Freiwilliger an einem archäologischen Ausgrabungscamp auf den Weiden des Alblasserwaard teilnahm. Meiner Erinnerung nach stochere ich mehrere Wochen lang mit Gleichaltrigen aus dem ganzen Land im Schlamm herum und muss in der Nacht in einem mickrigen Zelt auf dem Boden schlafen. Tagsüber gießt es mitunter so heftig, dass wir stundenlang in einem Bauwagen hocken und Karten spielen, bis der aufgeweichte Grasbuckel in dem Weideland, wo die Ausgrabung stattfindet, wenigstens wieder annähernd begehbar ist. Am Abend marschieren wir eine halbe Stunde lang durch die triefnassen Wiesen zum Dorf. Dort kann man in der Kneipe eine Flasche Vieux kaufen. Dieser Brandy schmeckt nicht besonders gut – ganz im Gegenteil –, aber ohne ein paar kräftige Züge aus der Flasche gelingt es mir einfach nicht, in einem Zelt auf dem Boden zu schlafen. Nein, dann lieber Kew, dort ist zu der Zeit das wunderbarste Sommerwetter, und das geliebte Haus mit dem großen Garten (und dem weichen englischen Bett) ist für die Ankunft des Feriengasts bestens vorbereitet. Es ist ein seltsames Gefühl, so viele Jahre später in Omas Aufzeichnungen einen Bericht über mir so vertraute englische Ferienwochen zu lesen, in denen ich aber nicht vorkomme, obwohl der beschriebene Aufenthalt in jeder Hinsicht mit der Erinnerung an meine eigenen Erlebnisse übereinstimmt. Viele Jahre lang habe ich als Kind ein bis drei Wochen der »großen Ferien« in Kew verbracht. Auch darüber muss es solche Aufzeichnungen geben, aber ob die noch erhalten sind? Wie auch immer, für mich war damit jedenfalls 1974 Schluss, und nun war mein jüngerer Bruder an der Reihe, dort verwöhnt wie ein König Ferien machen zu dürfen. Die täglichen, mit Omas Füllfederhalter in weit ausholender königsblauer Schrift niedergeschriebenen Berichte, die jede Seite bis zum Rand füllen, lassen alles wie von Zauberhand wiederauferstehen. In Gedanken sehe ich sie im Erker ihres Zimmers im oberen Stockwerk am Schreibtisch sitzen, wie sie nach dem Abendbrot das eigens für diesen Zweck erworbene Ferientagebuch aufschlägt und nach ihrem dicken grünen Füller greift. Am nächsten Tag kommt Erik um halb zwei in der heiß geliebten Adresse 34 Pensford Avenue an, nachdem Oa ihn mit dem Rover am Flughafen Heathrow abgeholt hat. Als Erstes setzen sich die drei zum warmen lunch an den Tisch. Beim Essen erzählt Oa alles Mögliche über das, was Oma Roosje »fotografische Technik« nennt. Am Nachmittag machen sie einen Spaziergang in den Gardens, am Abend gibt es zum supper etwas, das der Bericht begeistert als »köstlichen Leckerbissen« beschreibt, nämlich Matjes, die mein kleiner Bruder in Silberpapier eingewickelt mitgebracht hat. Für Oma, die in den Vorkriegsjahren in Scheveningen nur wenige Schritte vom Meer entfernt wohnte, ist das ein ihr besonders teures Souvenir, eine holländische Delikatesse, die in England nirgendwo aufzutreiben ist. In den darauffolgenden Sommerwochen geht es ins Freibad von Richmond, im Garten werden Äpfel und Pflaumen aufgelesen, Himbeeren gepflückt und tagtäglich sind die Vögel aus den Obstbäumen zu verjagen, sonst gibt es nichts zu ernten. Das Ferientagebuch erzählt von verschiedenen Verwandtenbesuchen, und wenn es regnet, werden alte Urlaubsfilme vorgeführt. Damit die Stunden an einem grauen Tag angenehm vergehen, gibt es im Fernsehen immer einen Jacques-Cousteau-Unterwasserfilm zu sehen oder ein Sportturnier, obwohl die Wimbledon-Finale in diesem Jahr schon vorbei sind. Mit Oa geht Erik ins Science Museum und in den Lensbury Club, er bekommt Zeichenunterricht, und mit Oma gibt es die regelmäßigen Spaziergänge in den weitläufigen botanischen Parkanlagen von Kew zu den bekannten Highlights: dem Seerosenteich, der Orangerie, dem Bambusgarten, den Steingärten, der Pagode und dem buddhistischen Tempel, dem Rhododendrontal und den Gewächshäusern. Im Sommer fällt im Garten viel Arbeit an, bei der Erik mithelfen darf, und so steht auch er damals – genau wie ich – mit beiden Beinen in der Erde, er allerdings angenehm von der englischen Sommersonne beschienen. Zu dritt machen sie einen Tagesausflug nach Windsor Castle und Eton, um dort spazieren zu gehen und sich umzusehen. Mein kleiner Bruder bekommt einen Kassettenrekorder geschenkt (obwohl er zu der Zeit gar nicht Geburtstag hat), mit dem er sich bestens amüsiert. Beim Musikhören in Oas Arbeitszimmer kann er jetzt auch selbst Tonaufnahmen machen. »Es war gut, dass wir heute nicht zum Tower gegangen sind«, schreibt Oma am 17. Juli, »denn es gab dort einen Bombenanschlag mit vielen Verletzten, lauter Touristen. Wir werden von nun an alle public places meiden.« Stattdessen geht sie mit Erik zu einem Familiengeburtstag, wozu Großvater natürlich absolut keine Lust hat, deshalb wird in dem Ferienbericht sehr diplomatisch festgehalten, dass Oa »mit dem Außenanstrich weitermacht«. Eines Tages gibt es laut Omas Aufzeichnungen am Küchentisch eine Diskussion zwischen den Großeltern über den Bedeutungsunterschied der niederländischen Wörter zoel und zwoel. Im Geiste höre ich, wie die Worte wohlvertraut hin- und herfliegen, wobei Oa bei jeder Runde seinen Standpunkt noch ein wenig lauter wiederholt. »Es heißt zwoel, nicht zoel.« »O nein, man sagt zoel. Zwoel ist was ganz anderes.« »Zwoel.« »Glaub mir, es ist zoel. Zoel bedeutet lind, zwoel bedeutet schwül. Das sind zwei Paar Schuhe.« »Zwoel!« »Echt, du verwechselst die zwei Wörter.« »ZWOEL.« »Zoel – st-st-st-hèh!« »ZWOEL!« Der Streit wird mithilfe eines aus der oberen Etage geholten Wörterbuchs geschlichtet, aber im Tagebucheintrag wird nicht festgehalten, wer recht hatte. Ich habe so einen Verdacht. Die Nachrichten geben Oma mitunter Anlass zu düsteren Gedanken: »Die Türken marschieren in Zypern auf, und das Wort invasion macht mir immer Angst, egal wo es fällt.« Ihre eigenen Erinnerungen an die Besatzungsjahre in den Niederlanden klingen in dem nach, was sie über die Gefechte um die zypriotische Hauptstadt Nikosia schreibt. Und dann sind da die troubles at home. Nach zwei Bombenanschlägen der IRA in Heathrow, mit beträchtlichen materiellen Schäden, seufzt sie: »Ich begreife wirklich nicht, warum sie die Iren nicht gehen lassen.« Im Großen und Ganzen klingt das alles nach den üblichen unbeschwerten Ferien, mit gelegentlichen Ausflügen und Spaziergängen und immer wieder ein paar schönen Stunden in den eigenen vier Wänden. »So vergehen die Tage wie im Flug«, schreibt Oma, oder: »Außerdem ein paarmal Bombenalarm, ansonsten ein wunderbarer Tag.« Darin merkt man einen Hauch der keep calm & carry on-Mentalität, für die die Engländer seit Ewigkeiten berühmt sind. »Mittags um halb eins Lunch«, heißt es einige Tage später in dem Bericht. Sie erwähnt »Bavaroise mit Sahne« als Nachtisch. Anschließend bekommt Erik Matheunterricht von Oa. »Es ist so schön für Oa, jemanden zu haben, der sich für Mathematik interessiert«, schreibt Oma Roosje. »Was das angeht, hätte er es mit mir nicht schlechter treffen können. Ich hatte schon Probleme mit dem ersten Axiom und war der Meinung, dass durch zwei Punkte viel mehr als nur eine Linie gehen könnte. Einfach alle übereinander weg. Der Lehrer sagte: ›Aber dann sieht man doch nur eine einzige?‹ Worauf ich antwortete, dass ich das auch nicht ändern könne.« Der Schalk in ihren Augen, mit denen sie diese Art von Ignoranz vorspielt, verrät ihre Überzeugung, dass Mathematiker und Ingenieure noch so klug sein können, sie aber, wenn sie ehrlich ist, den ganzen Formelkram gar nicht braucht. Am letzten Tag der dreiwöchigen Ferien in Kew machen Oma Roosje und Erik noch einmal einen sonnigen Morgenspaziergang in den Royal Botanic Gardens. »Wir haben es beide genossen, auf der kleinen Bank am Seerosenteich zu sitzen«, schreibt sie an diesem Abend auf der letzten Seite des Notizhefts, »wo ich nächste Woche wieder allein sitzen werde. Für einen Penny gehe ich oft dorthin, um ein bisschen zu verschnaufen, away from it all.« Auf dem Rückweg kaufen sie Scones zum Nachmittagstee, wie immer mit homemade Marmelade von Himbeeren oder Pflaumen aus dem eigenen Garten. Während ich das alles, dank meines Bruders, der mir dieses vollgeschriebene Ferienbuch geliehen hat, lese, kann ich einen Anflug von Eifersucht nicht verkneifen. Dass Erik dort drei Wochen lang allein im Paradies sein durfte! Ich weiß: Mein Neid ist lächerlich, vor allem nach so langer Zeit. Damals hatte ich schon an die fünfzehn dieser langen Sommerferien in Kew hinter mir – oft allein, manchmal zu zweit –, und es hat mir an nichts gefehlt. Außerdem erlebte ich während ebenjenes Sommers die schönste Zeit meines Lebens, dort im archäologischen Morast des holländischen Ackerlands, wo wir Scherben der mehr als viertausend Jahre alten Glockenbecherkultur aus dem Erdreich gruben und dabei den Kiefer eines prähistorischen Elchs im Schlamm fanden, mit nächtlichen Trinkgelagen und flüchtigen Techtelmechteln in den Zelten oder in der großen Bauernscheune auf dem Gelände. Wie niedergeschlagen war unsere...