Appignanesi | In der Stille des Winters | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 412 Seiten

Appignanesi In der Stille des Winters

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8412-1753-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 412 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1753-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als die Schauspielerin Madeleine Blais erhängt in der Scheune ihres Anwesens aufgefunden wird, deutet alles auf Selbstmord hin. Madeleine war in einer Krise, ihre Karriere offenbar am Ende. Einzig ihre Großmutter ist überzeugt, dass es Mord war. Sie bittet Pierre Rousseau, einen engen Freund der Familie, nach einem mysteriösen Anhalter zu suchen, den Madeleine in der Nacht ihres Todes mit auf ihr Zimmer genommen hat. Pierre weiß, dass er sich auf ein gefährliches Spiel einlässt: Er hat Madeleine einst geliebt - aber seine Liebe hat ihn zu einem einsamen, verlorenen Menschen gemacht. Der Versuch das Rätsel ihres Todes zu lösen bedeutet für ihn, die Schatten zu vertreiben, die über seiner eigenen Vergangenheit liegen ...

Raffnierter Psychothriller und poetische Liebesgeschichte. 

',In der Stille des Winters' ist literarisch, psychologisch dicht und aller Spannung zum Trotz eine wunderschöne Liebesgeschichte.' Hamburger Abendblatt.



Lisa Appignanesi wurde in Polen geboren, wuchs aber in Frankreich und Kanada auf. Sie war stellvertretende Direktorin am Londoner Institute of Contemporary Arts, bevor sie freie Autorin wurde. Neben Romanen und Kriminalromanen hat sie u.a. Bücher über Marcel Proust, Simone de Beauvoir und die Frauen Sigmund Freuds geschrieben.
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Teil 1


1


In jener Nacht riefen die Glocken der Kirche St.Anna mit überschwenglichem Jubel zur Mitternachtsmesse.

In meinem Halbschlaf verwandelten sich die Klänge in riesige Vögel, die durch die Dunkelheit des Dezembers schwebten. Aus den Fensterbögen des Glockenturms geworfen, glitten sie auf den Luftströmen über die Dächer der Stadt, streiften die Bäume im Tal und landeten hier in dem Haus auf dem Berg, um mich mit ihren Schwingen zu bedecken. Ich ließ mich von ihnen einhüllen. Ich wollte schlafen. Ich war so gespannt auf den Morgen.

Als neben meinem Bett misstönend ein schrilleres Läuten einsetzte, glaubte ich, es seien wieder die Glocken. Es dauerte eine Weile, bis ich die Hand nach dem Telefon ausstreckte, doch auf mein ›Allo‹ antwortete nur noch Schweigen, gefolgt von einem Klicken und einem Signal.

Madeleine. Sie musste es gewesen sein. Wer sonst würde es wagen, so spät noch anzurufen? Ich war nahe daran, die Nummer ihrer Großmutter zu wählen, um zurückzurufen, aber eine Mischung aus Taktgefühl und Ängstlichkeit hielt mich davon ab. Ich konnte mich irren. Und Madeleine würde es nicht schaden, wenn sie merkte, dass es Zeiten gab, zu denen ich nicht erreichbar war.

Die roten Ziffern des Radioweckers zeigten 1.18 an. Ich schüttelte den Ärger ab, der mit unterbrochenem Schlaf verbunden ist. Schließlich musste ich nicht vor der Morgendämmerung aufstehen. Es warteten keine Termine auf mich – keine greise Mme. Groulx, die verlangte, ihr immer wieder umgeschriebenes Testament erneut zu ändern; keine im gegenseitigen Hass erstarrten Scheidungswilligen, die um die Vermögensklauseln in den überholten Versprechungen eines Ehevertrags feilschten.

Am ersten Weihnachtstag und in der darauffolgenden Woche ist die Kanzlei von Pierre Rousseau, Notaire, geschlossen, nimmt der Anrufbeantworter keine Gespräche auf. Meine Erfahrung hat gezeigt, dass diese Woche sein muss. Man muss den Ausbrüchen von Gereiztheit, die Weihnachten im Familienkreis auslöst, Zeit lassen, sich zu setzen, bevor man zu neuen Taten schreitet. Und ich habe meine Klienten gern. Viele kenne ich seit Jahren. Mitunter halte ich sie lieber fern von jenen teuren verbindlichen Klauseln und eigensinnigen Regeln, die den offiziellen Teil meiner Arbeit ausmachen. Denn gegenüber den Erschütterungen individueller Empfindungen ist das Gesetz blind.

Als ich die Kanzlei übernahm, hatte ich keine Ahnung, dass ich einmal so denken würde. Widerstrebend hatte ich mich vom Bürgermeister bei dem Trauerempfang, den er zu Ehren meines Vaters gab, überrumpeln lassen. Die fette Hand auf dem dicken Bauch bedachte M. Desforges mich mit seinem eitlen Lächeln, blickte mit den kleinen schlauen Augen zu mir auf und sagte: »Genug vom Reisen jetzt, wie? Zeit, nach Hause zu kommen. Wann fangen Sie an?«

Er hatte es nicht nur für sich entschieden, sondern war auch bereits davon überzeugt, dass ich gewissermaßen in die auf Hochglanz polierten Schuhe meines Vaters schlüpfen würde: Es würde eine dritte Generation von Rousseaus geben, die als Notare in Ste-Anne wirkten. Vielleicht glaubte Desforges, ich würde seine Angelegenheiten, seine Immobiliengeschäfte und die Verträge, die er für Ste-Anne abschloss, genauso reibungslos und verschwiegen regeln, wie mein Vater es getan hatte.

Es vergingen Wochen, aber schließlich entschied ich mich. Desforges hatte mit der Erwähnung des Skandals um den Mirabel Airport meinen Gerechtigkeitssinn wach gekitzelt. Die Bundesregierung hatte das Land mehrerer Familien enteignet, als der gigantische Flughafen geplant wurde, und nun, dreizehn Jahre später, als nur 5000 der 97000 Acres besten Ackerlands verwendet worden waren, wurde es ernst mit den Rückgabeansprüchen.

Um die Wahrheit zu sagen, war ich auch auf einem Tiefpunkt meines Lebens angelangt, ein Stück Treibgut, auf den Strand meines heimatlichen Québec zurückgeworfen. Ich hatte kein Verlangen, mit dem Journalismus weiterzumachen, der mich nach Frankreich, nach Nordafrika und dann in das Büro von Le Devoir in Ottawa geführt hatte. Meine Überzeugungen hatten mich im Stich gelassen. Vielleicht hatte die lange Zeit im Ausland meinen Patriotismus als Québecois untergraben.

Ich vermochte nicht mehr als verbale Entrüstung über die Ungerechtigkeiten aufzubieten, die eine von Großbritannien entlehnte und an Ottawa übertragene Verfassung für meine französischsprachige Provinz schaffen würde. Und ich hatte das unangenehme Gefühl, dass die einst ersehnten Sprachgesetze, die den Gebrauch der französischen Sprache und ein französisches Bildungswesen durchsetzten, Mauern engstirniger Intoleranz um uns herum errichteten.

In diesem Zustand persönlicher Ungewissheit nahm die trockene Exaktheit des bürgerlichen Gesetzbuches, dem ich mein Studium gewidmet hatte, allen Charme eines Sirenenrufs an.

Ich zog in das Büro meines Vaters ein, das einen Steinwurf vom Rathaus entfernt lag. Außerdem richtete ich mich in dem geerbten Haus ein. Sogar das Auto meines Vaters übernahm ich. Mit der Sicherheit eines Schlafwandlers schlüpfte ich in die Amtsroutine eines Kleinstadtnotars – gegen meine jugendlichen Ideale, die mich gelehrt hatten, diesen Beruf als korrupte Bastion traditioneller Macht zu verabscheuen.

Ich brauchte einige Jahre, bis ich aufwachte. Dann allerdings merkte ich, dass die Arbeit ganz anders war, als ich mir vorgestellt hatte. Vielleicht war ich nicht korrupt genug oder nicht so sehr an Geld interessiert. Auf jeden Fall kam mir der Gedanke, dass meine Tätigkeit in Wirklichkeit irgendwo zwischen der eines Priesters und der eines Psychotherapeuten einzuordnen war. Ich war der Hüter und Chronist der Geheimnisse der Stadt. Vertrauliche Mitteilungen können gefährlich sein. Und einsam machen. Zum Glück habe ich heute Erfahrung mit dem Alleinsein.

In der Wärme des Federbetts beschleichen mich wieder Gedanken an Madeleine. Ich muss sie sehen. Ich habe etwas zu erklären. Ja, ich muss es erklären. Die Versuchung, mich sofort auf den Weg zu machen, droht mich schier zu überwältigen. Ich schalte die Nachttischlampe an. Die plötzliche Helligkeit blendet. Mit fast geschlossenen Augen taste ich nach meinen Sachen und gehe zur Haustür. Als ich den Schutz der Veranda verlasse, umfängt mich eine eisige Bö.

Das ist verrückt. Welchen Sinn sollte es eigentlich haben, durch die kalte Dunkelheit zu laufen? Ich treffe Madeleine später am Tag im Haus ihrer Großmutter Mme. Tremblay – zum weihnachtlichen Abendessen, wie sie es ausdrückt, obwohl es schon am Nachmittag beginnt. Es ist merkwürdig, dass ich sie Mme. Tremblay nenne, gerade so wie ich es als Junge tat; merkwürdiger noch, weil sie wieder meine nächste Nachbarin ist, nur einen Garten und ein Wäldchen entfernt auf dem Südhang des Berges – was in der Unermesslichkeit dieser Landschaft nicht allzu weit ist. Wir treffen uns regelmäßig sonntags zum Tee.

Mme. Tremblay hält sich trotz der Jahre, die verstrichen sind, an die Bräuche ihrer Kindheit in Schottland, obgleich sie mit mir französisch spricht, ein Französisch, das klar und korrekt ist und ebenso hartnäckig nicht Québecois wie ihre karierten Wollröcke und Strickjacken in gedeckten Farben.

Das einzige, was Madeleine von ihr annahm, war jenes Französisch. In Paris tat es ihr gute Dienste.

Madeleine in Paris.

Als nächstes merke ich, dass ich wieder im Bett liege, und heitere Bilder an jene frühen Tage in Paris lullen mich ebenso sicher ein wie oft erzählte Märchen aus der Kindheit.

Als die kalte graue Dämmerung zögernd durch mein Fenster kriecht, sind die Bilder meiner Erinnerung dunkler geworden. Ich möchte nicht an diese Dinge denken. Nicht heute, wo ich Madeleine auf ganz alltägliche Weise treffen werde – falls man sagen kann, dass irgend etwas bei meinen Begegnungen mit Madeleine jemals ganz alltäglich war.

Die Lampen im Bad sind irritierend grell. Ich erinnere mich daran, dass dies zu den Dingen gehört, die ich verändern möchte in dem Haus, das in meinen Gedanken noch immer das Haus meines Vaters ist.

Als ich Madeleine vor etwa zwei Wochen in Montréal zum letztenmal besuchte, war sie nicht lebhaft wie gewohnt. Sie trug alte Jeans und einen dunklen Pullover, der ihre Figur verbarg. Ihre Haare waren zerzaust, die Augen rot unterlaufen von zu wenig Schlaf. In der Woche davor war sie zum erstenmal in einem neuen Stück am Théâtre du Nouveau Monde aufgetreten, ihr erstes Erscheinen auf einer Bühne in Montréal seit langer Zeit, und die Kritiker hatten ihre Darstellung gnadenlos verrissen – die französische Presse mehr noch als die englische. Eine Stadt, die sich groß sehen möchte, aber klein weiß, legte einem Star seine ganze Gehässigkeit zu Füßen, der den fundamentalen Fehler begangen hatte, nach Hause zurückzukehren.

Der Premierentermin lag unglücklich. Nur zwei Tage davor hatte ein geistesgestörter Mann vierzehn Studentinnen der École Polytechnique, der technischen Fakultät der Université de Montréal, niedergeschossen. Wie ein Aufseher eines Konzentrationslagers hatte er Männern und Frauen befohlen, sich in getrennten Reihen aufzustellen. Dann hatte er mit seiner halbautomatischen Pistole nur auf die Frauen geschossen. »Ihr seid alle ein Haufen Feministinnen«, hatte er geschrien. »Ich hasse Feministinnen.«

Es war der letzte Tag des Semesters. Zuerst in der Cafeteria, dann im Seminarraum hatten die Studenten den jungen Mann mit der Baseballkappe für einen Witzbold gehalten. Er hatte gelächelt. Aber das Blut, das floss, war entsetzlich echt...



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