Eine kontroverse Debatte
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-85371-888-9
Verlag: Promedia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses Buch dokumentiert die zentralen Debatten über die Einbindung kapitalistischer Praktiken in den sozialistischen Alltag. Man diskutierte die Einführung von Marktelementen, die Liberalisierung von Preisen, Dezentralisierung der Planung und die Autonomie für Betriebe. Eine wichtige Rolle spielten die Reformversuche des jugoslawischen Modells unter Tito, das "Neue System der Planung und Lenkung" in der DDR sowie die "sozialistische Marktwirtschaft" der Volksrepublik China.
In der historischen Debatte um "Marktsozialismus" wurden viele Fragen aufgeworfen, die auch im 21.Jahrhundert noch von zentraler Bedeutung sind – nicht zuletzt für zukünftige Experimente einer nichtkapitalistischen Gesellschaft.
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Felix Wemheuer: Kann der Markt den Sozialismus retten? (Einleitung)
„Der Versuch, heute dieses künftige Ergebnis des vollkommen entwickelten, vollkommen gefestigten und herausgebildeten, vollkommen entfalteten und reifen Kommunismus praktisch vorwegzunehmen, wäre gleichbedeutend damit, einem vierjährigen Kind höhere Mathematik beibringen zu wollen.“ Lenin (1920)1 „Ob wir etwas mehr Plan oder Markt haben, ist kein grundlegender Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Planwirtschaft ist nicht gleichbedeutend mit Sozialismus. Im Kapitalismus gibt es auch Planung. Marktwirtschaft ist nicht gleichbedeutend mit Kapitalismus, denn im Sozialismus gibt es auch Märkte. Plan und Markt sind beides wirtschaftliche Instrumente.“ Deng Xiaoping (1992)2 Welche Bereiche der Gesellschaft sollen über den Markt geregelt und damit bestimmt von Profit, Gewinn und Verlust werden? Das ist eine der zentralen Fragen der Gegenwart. In der Hochphase des Neoliberalismus der 1990er-Jahre privatisierten Regierungen (im unterschiedlichen Ausmaß) auf allen Kontinenten öffentliche Betriebe und Wohnungen. Auch Bildung, Gesundheit, öffentliche Infrastruktur, Sicherheit, Altenpflege, Bahnen oder Post wurden teilprivatisiert und kommerzialisiert. Regierungen versprachen mehr wirtschaftliche Effizienz, besseren Service und Entlastung für den „Steuerzahler“. Spätestens seit der globalen Finanzkrise von 2008 scheint diese neoliberale Utopie gescheitert zu sein. Selbst der politische Mainstream tritt in vielen Ländern wieder für eine Stärkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft und seiner Aufgaben in der öffentlichen Daseinsfürsorge ein. Vor über 100 Jahren begann eine gegensätzliche Debatte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde nach orthodoxer Auffassung des sowjetischen Marxismus-Leninismus der Sozialismus mit Planwirtschaft gleichgesetzt und Märkte mit Kapitalismus. Nach der russischen Oktoberrevolution von 1917 glaubten zum Beispiel linke Bolschewiki in der Phase des „Kriegskommunismus“ nicht nur Märkte, sondern auch den durch Geld vermittelten Warenaustausch sofort abschaffen zu können. Allerdings musste die Führung um Lenin vor dem Hintergrund von urbaner Hungersnot und Aufständen schon 1921 die „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP) einführen, die den Austausch mit dem Land über den Markt regelte. Dieses Buch führt in die Geschichte der Debatten zum „Marktsozialismus“ von den 1920er- bis zu den 1980er-Jahren ein. In ihnen ging es nicht nur darum, ob die Einführung von Marktmechanismen in die Planwirtschaft zu mehr wirtschaftlicher Effizienz führt, sondern auch um die Frage, ob der Sozialismus durch Wirtschaftsreformen gerettet werden könne. Die zentralen Fragen lauteten: Welche Elemente der „alten“ Gesellschaft braucht man noch in der „neuen“? Wenn Bereiche der Gesellschaft Marktmechanismen unterworfen werden sollen, dann welche? Kann man auf Gleichheit bei der Verteilung zugunsten ökonomischer Effizienz vorerst verzichten? Ist es unter den Bedingungen eines kapitalistischen Weltmarktes und globalen ökonomischen Verflechtungen überhaupt möglich, eine Gesellschaft aufzubauen, die nach ganz anderen Kriterien funktioniert? Linke KritikerInnen des „Marktsozialismus“ warnten schon früh vor der Zunahme sozialer und regionaler Ungleichheiten oder sogar der Entstehung einer „neuen Bourgeoisie“. Während Reformen in Richtung „Marktsozialismus“ in Osteuropa die „Regimewechsel“ 1989 nicht verhindern konnten, hält sich die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) bis heute an der Macht. Das Land steigt gegenwärtig zur globalen Wirtschaftsmacht auf. Die KPCh bezeichnet offiziell ihr System als „Sozialismus mit chinesischer Besonderheit“ bzw. „sozialistische Marktwirtschaft“. Einige westliche WissenschafterInnen sprechen hingegen von „Staatskapitalismus“ oder „staatlich durchdrungenem Kapitalismus“.3 Die Einkommensunterschiede in China sind im globalen Vergleich sehr groß.4 Auch im Kontext dieser gegenwärtigen Entwicklung ist die Debatte um „Marktsozialismus“ im 20. Jahrhundert sehr lehrreich. Von Marx zum „Marktsozialismus“
Kommunismus als Negation des Kapitalismus bei Marx und Engels
Bekanntlich lag der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Forschungen von Karl Marx und Friedrich Engels darin, eine Theorie der Kritik der kapitalistischen Produktionsweise zu entwickeln. Sie machten nur knappe Aussagen darüber, wie eine zukünftige sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaft aussehen könnte. Das lag nicht zuletzt daran, dass sie im Gegensatz zum „utopischen Sozialismus“ die neue Gesellschaft nicht im Detail entwerfen wollten. Erst die Entwicklung der Industrie und damit auch des modernen Proletariats durch den Kapitalismus würden die materiellen Grundlagen und das Potenzial für eine zukünftige Gesellschaft schaffen, die nicht mehr von Not und Mangel bestimmt sei. Marx und Engels definierten den Kommunismus als Bewegung, die den Zustand der bisherigen Gesellschaft aufhebe.5 Klar war zumindest, dass die „Anarchie des Marktes“ durch eine bewusste planmäßige Organisation der Produktion der Gesellschaft ersetzt werden sollte.6 Kapitalistische Konkurrenz sei nicht nur die Triebkraft von technologischer Innovation, sondern führe auch zu regelmäßig wiederkehrenden Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Armut und Zerstörung der ökologischen Grundlagen der Erde.7 Die Vorstellungen einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft waren bei Marx und Engels in erster Linie von einer Negation der Grundkategorien des Kapitalismus geprägt. Produktion von Gütern und Dienstleistungen als Waren für den Markt, Lohnarbeit und Privateigentum an Produktionsmitteln sowie Grund und Boden sollten aufgehoben werden. Dadurch würde auch das Geld als Mittel der Zirkulation und Akkumulation überflüssig. Eine gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Hand- und Kopfarbeit, Stadt und Land und die damit verbundenen sozialen Hierarchien sollten abgeschafft werden. Wenn nach einer Übergangsphase die Produktivkräfte weit genug entwickelt seien, könnten im Kommunismus Tätigkeiten, Leben und Verteilung getreu der Devise „jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen“ verwirklicht werden. Auch der Staat als Instrument von Klassenherrschaft würde im Kommunismus unnötig und absterben, da die klassenlose Gesellschaft ihre Belange selbst verwalten könne. Um dieses Endziel zu erreichen, sei aber eine Übergangsphase notwendig, in der noch nach der jeweiligen Arbeitsleistung entlohnt werde. Erst nachdem die Produktivkräfte und das Bewusstsein der Menschen weit genug entwickelt seien, könne die Gesellschaft zu kommunistischen Verteilungsprinzipien übergehen.8 Die Vorstellungen von Marx und Engels prägten auch die Kommunistischen Parteien in den Ländern des Staatssozialismus. Allerdings gab es dort ganz andere gesellschaftliche Voraussetzungen, als die „Klassiker“ als Grundlage für den Kommunismus entwickelt hatten. Von der Oktoberrevolution zum klassischen Modell in der Sowjetunion
Nach der russischen Oktoberrevolution im Jahr 1917 übernahmen die Bolschewiki in einem Land die Macht, in dem über 80 Prozent der Bevölkerung außerhalb der Städte lebte. Die Vorstellungen, wie in einem rückständigen Agrarland Sozialismus aussehen könnte, waren umstritten und vage. Zunächst setzte die Sowjetregierung ein moderates ökonomisches Programm um – in Form einer Bodenreform und der Einführung von „Arbeiterkontrolle“ in Fabriken. Im Bürgerkrieg (1918-1920) entstand jedoch der sogenannte „Kriegskommunismus“, bei dem in den Städten der Staat die Wirtschaft übernahm und eine rationierte Verteilung einführte. Um die Rote Armee und Städte zu versorgen, ließ die Sowjetregierung auf den Dörfern zwangsweise Getreide requirieren, ohne den BäuerInnen dafür eine angemessene Gegenleistung bieten zu können. Geld wurde durch die hohe Inflation nahezu wertlos. Nach dem Sieg der Roten Armee über die konterrevolutionären Weißen brachen BäuerInnenaufstände los und die Flotte revoltierte in Kronstadt. Vor diesem Hintergrund setzte vor allem Lenin 1921 die sogenannte Neue Ökonomische Politik (NÖP) durch: Der Austausch mit den BäuerInnen sollte anhand dieser neuen ökonomischen Leitlinie nun über den Markt regelt werden. Tatsächlich stellte die neue Politik auch eine Legalisierung der schon existierenden städtischen und ländlichen Schwarzmärkte dar. In der Partei gab es Diskussionen darüber, ob ein hybrides Wirtschaftssystem mit staatlicher und kollektiver Industrie, privatem Handel und bäuerlicher Kleinproduktion ein langfristig angelegtes Modell für den Aufbau des Sozialismus sei oder nur ein kurzzeitiger taktischer Rückzug. In den 1980er-Jahren bezogen sich Reformkräfte innerhalb kommunistischer Parteien auf die NÖP als Urform und Vorbild eines „Marktsozialismus“. Allerdings führte die NÖP nach einigen Jahren zu großen Problemen. 1928 kam es zu einer städtischen Versorgungskrise, da die BäuerInnen ihr Getreide nicht zu den festgelegten Preisen verkaufen wollten. In den Städten standen hohe Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit und der zur Schau gestellte Reichtum der HändlerInnen für viele ArbeiterInnen im Widerspruch zu den Idealen der Oktoberrevolution. In der Partei setzte Stalin eine radikale...