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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Anet Ariane

Liebe am Nachmittag

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-03820-978-2
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ariane ist Abiturientin, intelligent, voller moderner Ideen, auch zur Emanzipation und zur Liebe. Da ihr die Männer zu Füßen liegen, gibt sie sich besonders cool. Und will mit ihnen so spielen, wie Männer es mit Frauen tun. Als sie dem älteren Konstantin begegnet, achten beide darauf, sich bloß nicht ineinander zu verlieben. Doch es kommt anders.Eine Liebesgeschichte, die bei ihrem Erscheinen 1920 Wellen schlug. So lesen gleich zwei von Vladimir Nabokovs weiblichen Figuren in Der Späher diesen Roman Anets.»Konstantin musste immerzu an Arianes Lüge denken. Blitzschnell hatte sie erfasst, dass es jetzt nicht anders ging, und hatte sich sogleich in schwindelnde Höhen aufgeschwungen. Wenn er sie da oben schweben sah, empfand er die Angst, die einen befällt, wenn man mit den Blicken einem Akrobaten folgt, der in der Kuppel des Zirkuszelts ein Kunststück vollbringt, bei dem er ums Leben kommen könnte.«

Claude Anet, eigentlich Jean Schopfer, geboren 1868 in Morges (Schweiz). Er studierte an der Sorbonne und an der École du Louvre und arbeitete als Reporter u. a. für Le Temps und Le Petit Parisien. 1892 wurde er französischer Tennismeister. Als Korrespondent des Journal wurde er 1917 Augenzeuge der Russischen Revolution in Sankt Petersburg. Neben Reiseliteratur und Theaterstücken veröffentlichte Anet mehrere Romane, darunter Ariane, jeune fille russe (1920), der für den Prix Goncourt nominiert und u. a. von Billy Wilder mit Audrey Hepburn verfilmt wurde. Claude Anet starb 1931 in Paris.
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I Vom Hotel London zum Znamenski-Gymnasium Ein Himmel von geradezu morgenländischer Klarheit, ein schöner heller, leuchtender Himmel lag blau wie persischer Türkis über den Häusern und Gärten der Stadt, die noch schlief. In der Stille des Morgengrauens war nur das Pfeifen der Spatzen zu vernehmen, die in wilder Jagd über die Dächer und über die Zweige der Akazien hinwegflogen, das lustvolle Gurren einer Turteltaube hoch in einem Baumwipfel, und in der Ferne das gelegentliche Rumpeln der Achsen eines Bauernkarrens, der nur langsam vorankam auf dem unebenen Pflaster der Sadowaja, der eleganten Hauptstraße der Stadt. Am menschenleeren Domplatz, einer ausgedehnten Sandfläche, lag hinter einer hölzernen Wand der Wirtschaftshof des Hotel London mit seinen drei Stockwerken, dessen eintönige, langgezogene Vorderfront aus grauem Steinmauerwerk entlang der Sadowajastraße lag, trostlos, ohne Balkone, ohne Pfeiler, ohne Säulen, ohne jeden Zierrat. Das Hotel London, das erste Haus am Platze, war für seine gute Küche bekannt. Junge Leute aus wohlhabendem Hause, Offiziere, Unternehmer und Adel waren die Klientel seines berühmten Restaurants, wo ein Ensemble aus drei abgemagerten Juden und zwei Ukrainern nachmittags, abends und bis tief in die Nacht mittelprächtige Potpourris aus Eugen Onegin und Pique Dame, schwermütige Volkslieder und Zigeunerweisen in stampfenden Rhythmen spielte. Was für herrliche Vergnügungen hatte es in diesem angesagten Restaurant gegeben, was für glanzvolle Abendessen, was für ›Orgien‹ – um den Ausdruck zu verwenden, der damals bei uns im Schwange war, wenn die Rede auf die Feste im Hotel London kam! Das Restaurant des Hotels bestand aus zwei unterschiedlich großen Sälen. Aber es gab keine Nebenräume. Wer abseits der Menge speisen wollte, nahm deshalb im ersten Stock eine Suite aus Salon und Schlafzimmer, die Leo Davidowitsch, der Hotelportier, stets für seine Stammgäste freihielt. Dieser Leo, ein Jude mit engstehenden, glanzlosen Augen, war der Alleinherrscher im Haus und eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt. Die Honoratioren der Gegend suchten seine Freundschaft und verweilten stets kurz im Foyer, um ein paar freundliche Worte mit ihm zu wechseln. Leo war verschwiegen – und Verschwiegenheit und Anstand kann man beim Portier eines so angesehenen Hotels gar nicht hoch genug schätzen. Wie viele rosa Scheine, ja selbst Fünfundzwanzigrubelnoten mochte er stumm angenommen haben, ohne die geringste Regung in seinem blassen Gesicht, Geldscheine, die ihm die fiebrige Hand eines Mannes zusteckte, der aufgewühlt war von der Vorstellung, hier Unterschlupf für ein Liebesabenteuer zu finden. Die Anzahl von Männern, die das Geheimnis ihrer Glückseligkeit sicher verwahrt sehen wollten, scheint nicht gering gewesen zu sein, denn Leo Davidowitsch besaß immerhin drei Häuser. Daran ist zu erkennen, wie hier das Geld floss, mühelos verdient und freudig mit vollen Händen ausgegeben, und dass das Leben in unserer Stadt feurig war wie die glühenden ländlichen Sommertage in diesem südlichen Regierungsbezirk, dessen Hauptstadt sie war. Wer es in dieser Provinz zu Geld brachte, ob in Bergbau, Industrie oder Landwirtschaft, dachte sehnsüchtig an die unvergesslichen Feste des Hotel London und an die französischen Weine, die er dort noch in Gesellschaft liebenswürdiger Frauen trinken würde. Eines der drei Häuser von Leo Davidowitsch stand an einer abgelegenen Straße in der Vorstadt, nicht weit von der Landstraße, über die in der Abenddämmerung und nachts schöne Traber, eine Zierde unserer Gegend, im Einspänner Pärchen hinter sich herzogen, die darauf aus waren, in Windeseile über die glatte und gut gepflegte Straße zu huschen. Leo dachte daran, später einmal das Erdgeschoss dieses Hauses zu beziehen. Doch zunächst hatte er nur das obere Stockwerk möbliert und dort eine mürrische alte Frau untergebracht. Zahlreiche Leute hatten angeklopft, ob hier zu vermieten sei, denn Wohnungen waren knapp in der Stadt, die in den vergangenen Jahren außerordentlich rasch gewachsen war. Die Antwort der alten Hexe war stets die gleiche gewesen: Die Wohnung sei reserviert. Doch es kam kein Mieter, und manches schlichte Gemüt fragte sich, warum Leo auf eine vorteilhafte Mieteinnahme verzichtete. Andere zuckten die Achseln. Oft sah man allerdings eine Kutsche vor der Tür des kleinen Hauses anhalten, und obwohl die Gardinen sorgfältig zugezogen waren, fiel noch spät in der Nacht Licht durch die Fenster. In der frühen Morgenstunde, da diese Erzählung beginnt, in der ersten Dämmerung eines warmen Tages Ende Mai, war das große Tor des Hotel London geschlossen, das elektrische Licht in Foyer und Restaurant seit langem abgeschaltet. Knarrend öffnete sich die kleine Tür in der Holzwand zum Wirtschaftshof. Ein junges Mädchen trat auf die Schwelle und blieb einen Augenblick zögernd stehen. Sie trug die Uniform des bekanntesten Gymnasiums der Stadt, ein schlichtes braunes Kleid mit schwarzglänzender Schürze. Diese Strenge hatte sie abgemildert durch einen weißen Spitzenkragen, der ein wenig zerknittert wirkte, und das Kleid war entgegen der Vorschrift leicht ausgeschnitten und zeigte die dezente Anmut eines schlanken Halses; darauf wiegte sich in sanfter Bewegung ein kleiner Kopf, auf dem sie einen weißen Strohhut mit breiter Seitenkrempe trug, die von einem unter dem Kinn geknoteten schwarzen Band hochgehalten wurde. Das Mädchen wandte den Kopf nach allen Seiten, um die menschenleere Straße zu begutachten. Nach diesem kurzen Innehalten ging sie den Bürgersteig hinab. Hinter ihr erschien ein zweites Mädchen, ein paar Jahre älter, blond, etwas rundlich und schwerfällig im Gang, einen schwarzen Seidenrock und eine Batistbluse unter einem leichten Übergangsmantel. Das Mädchen in Gymnasiastinnenuniform streckte sich, hob das Gesicht zum Himmel, sog die frische Luft tief ein wie ein Glas kühles Wasser und sagte lachend: »Was für eine Schande, Olga, es ist schon taghell!« »Ich wollte schon längst heimgehen«, sagte sie mürrisch, »ich weiß nicht, warum du so spät dran bist … Wobei, eigentlich weiß ich es doch. Und ich muss um zehn im Büro sein! Petrow, der alte Tyrann, wird mich ausschimpfen. Und ich hab viel zu viel Champagner getrunken …« Die Gymnasiastin sah sie mitleidig an, zuckte, wie sie es gern tat, mit der linken Schulter und blieb eine Antwort schuldig. Sie ging mit schnellen Schritten, ließ beschwingt und fröhlich die allzu hohen Absätze ihrer offenen Schuhe klacken, blickte mit freien Sinnen um sich und genoss es, nach einem verrauchten Raum nun die unerwartete Frische des Frühlingsmorgens um sich zu haben. Zusammen überquerten die beiden den großen Domplatz und gingen dann ihrer Wege, nicht ohne sich für den nächsten Abend verabredet zu haben. Die Gymnasiastin wollte gerade in eine Straße links vom Dom einbiegen, da hörte sie eilende Schritte hinter sich und drehte sich um. Ein hochgewachsener Schüler in Uniform, Pickel und Hacke mit Goldfaden ins Mützenband gestickt, kam hinter ihr hergelaufen. Sie blieb stehen. Ihr Gesicht nahm einen harten Ausdruck an, ihre langen Augenbrauen runzelten sich, so dass der Schüler, der sie unverwandt angesehen hatte, unsicher wurde. Voller Nervosität sagte er: »Vergeben Sie mir, Ariane Nikolajewna … ich habe gewartet, bis Sie allein waren … Ich konnte Sie doch nicht so verlassen … Nach allem, was geschehen ist …« Mit schneidender Stimme unterbrach sie ihn: »Was bitte soll geschehen sein?« Die Verunsicherung des jungen Mannes wurde noch größer. »Ich weiß nicht …«, stammelte er, »ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll … Ich dachte … Sie nehmen es mir übel? Ich bin verzweifelt … Ich möchte es lieber gleich wissen …« Und, völlig aus der Fassung, schloss er: »So kann man doch nicht weiterleben.« »Gar nichts nehme ich Ihnen übel«, erwiderte Ariane Nikolajewna geradeheraus, »merken Sie sich das ein für alle Mal: Ich bereue nie, was ich getan habe. Aber denken Sie auch daran, dass ich Ihnen verboten habe, mich auf der Straße anzusprechen … Oder haben Sie das schon vergessen?« Nach einem kurzen Zögern unter den kalten Blicken des Mädchens machte er auf dem Absatz kehrt und ging wortlos weg. Ein paar Minuten später stand Ariane Nikolajewna vor einem großen Holzhaus. Im Erdgeschoss befanden sich Geschäfte. Sie stieg ins obere Stockwerk, nahm einen Schlüssel aus der Handtasche und schloss die Tür vorsichtig auf. Es war still in der Wohnung, nur das Ticken einer großen Wanduhr im Esszimmer war zu hören. Auf Zehenspitzen durchquerte das Mädchen einen langen Flur und stieß die Tür zu einer Kammer auf, wo auf dem schmalen Bett eine junge Frau schlief, mit offenem Mund, halb angekleidet. »Pascha, Pascha«, sagte sie. Die Bedienstete schrak aus dem Schlaf hoch und wollte aufstehen. »Weck mich um neun«, sagte Ariane und drückte sie zurück aufs Bett, »um neun, verstanden? Am Vormittag habe ich eine Prüfung.« »Schon gut, Ariane Nikolajewna, ich werde es nicht vergessen … Aber es ist ja schon hell. Dass Sie so spät heimkommen! Um Gottes willen, passen Sie auf sich auf. Warten Sie, ich komme und entkleide Sie«, setzte sie hinzu und machte noch einen Versuch, aufzustehen. »Nein, Pascha, mach dir keine Mühe. Schlaf noch ein wenig. Gott sei Dank kann ich mich selber an- und ausziehen. Bei dem Leben, das ich führe, geht das auch gar nicht anders.« Sie musste lachen. Wenig später war alles still in dem großen Haus an der...


Wachinger, Kristian
Kristian Wachinger, geboren 1956, gelernter Buchhändler, studierte Germanistik und Romanistik in München, Nantes und Hamburg und arbeitete drei Jahrzehnte als Verlagslektor. Er übersetzte Werke u. a. von Giacomo Casanova, Prosper Mérimée, Georges Simenon und Laurent Binet.

Anet, Claude
Claude Anet, eigentlich Jean Schopfer, geboren 1868 in Morges (Schweiz). Er studierte an der Sorbonne und an der École du Louvre und arbeitete als Reporter u. a. für Le Temps und Le Petit Parisien. 1892 wurde er französischer Tennismeister. Als Korrespondent des Journal wurde er 1917 Augenzeuge der Russischen Revolution in Sankt Petersburg. Neben Reiseliteratur und Theaterstücken veröffentlichte Anet mehrere Romane, darunter Ariane, jeune fille russe (1920), der für den Prix Goncourt nominiert und u. a. von Billy Wilder mit Audrey Hepburn verfilmt wurde. Claude Anet starb 1931 in Paris.

CLAUDE ANET, eigentlich Jean Schopfer, geboren 1868 in Morges (Schweiz). Er studierte an der Sorbonne und an der École du Louvre und arbeitete als Reporter u. a. für Le Temps und Le Petit Parisien. 1892 wurde er französischer Tennismeister. Als Korrespondent des Journal wurde er 1917 Augenzeuge der Russischen Revolution in Sankt Petersburg. Neben Reiseliteratur und Theaterstücken veröffentlichte Anet mehrere Romane, darunter Ariane, jeune fille russe (1920), der für den Prix Goncourt nominiert und u. a. von Billy Wilder mit Audrey Hepburn verfilmt wurde. Claude Anet starb 1931 in Paris.KRISTIAN WACHINGER, geboren 1956, gelernter Buchhändler, studierte Germanistik und Romanistik in München, Nantes und Hamburg und arbeitete drei Jahrzehnte als Verlagslektor. Er übersetzte Werke u. a. von Giacomo Casanova, Prosper Mérimée, Georges Simenon und Laurent Binet.


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