E-Book, Deutsch, 348 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4696-5
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit der "Geschichte von Uljana", dem zweiten Band des Amadoka-Epos, entführt uns Sofia Andruchowytsch in die 1930er-Jahre, in das galizische Städtchen Butschatsch mit seiner multiethnischen Bevölkerung. Zwischen dem ukrainischen Mädchen Uljana und dem jüdischen Jungen Pinkhas wächst eine ungestüme, jedoch heimliche Liebe. Mit der nationalsozialistischen Besatzung 1941 beginnen die Deportationen der jüdischen Bevölkerung. Uljanas Vater versucht unter Lebensgefahr zu helfen, manche im Ort allerdings beteiligen sich aktiv am Morden, und wieder andere schlagen sich auf die Seite der anrückenden Sowjets. Zu Kriegsende jedoch zieht sich eine Schlinge aus Geheimnis, Verrat und Gewalt unerbittlich zu – und weder Uljanas Liebe noch ihre Familie werden ihrem grausamen Schicksal entgehen …
Weitere Infos & Material
Fotografie: Stillleben, Rainfarn in einem Dreiliterglas
Das ist das letzte. Das letzte, auf dem man ihren Körper sieht. Was meinst du, wieso fotografiert man Tote? Wieso hebt man diese Fotos auf, in einem Stapel von Fotos, die Säuglinge, Familienfeste und Szenen des täglichen Lebens zeigen? Um den Menschen so in Erinnerung zu behalten? Um nicht zu vergessen, dass er wirklich gestorben ist, in einen Sarg gelegt wurde, seine Hände auf der Brust überkreuzt wurden, sein Kiefer mit einer Schnur zusammengebunden wurde? Dass dieser Mensch nicht spurlos verschwunden ist, sich in Luft aufgelöst hat, nein, dass mit ihm die einfachste Sache der Welt passiert ist: Seine Zeit ist abgelaufen, seine Tage sind zu Ende gegangen, und seine Liebsten haben alles entsprechend arrangiert, sich um seine Überreste gekümmert, sie an den dafür vorgesehenen, verborgenen Ort gebettet. Was meinst du? Gibt uns das ein Gefühl von Ordnung? Beruhigt es? Und was beruhigt mehr: Das Foto eines sorglosen Säuglings mit speckigen Hautfalten, der das gesamte Chaos der Welt, unzählige Entdeckungen und die gnadenlose Erkenntnis der Ausweglosigkeit des Lebens noch vor sich hat? Oder das Foto vom Ende, vom Sarg mit dem Leichnam auf einem Tisch in der Mitte des Raums, wenn klar ist, dass es schlimmer nicht werden kann, dass der Faden der Geschichte abgerissen ist, dass das Chaos keine Früchte mehr tragen und sich nicht mehr vermehren wird, dass seine Quelle versiegt ist. Denkst du wirklich, Bohdan, dass nach dem Tod eines Menschen das Durcheinander seines Lebens erschöpft ist, dass dessen Griff sich mit einem Mal lockert und dann erstarrt? Denkst du, die Geschichte reißt für immer ab? Vielleicht ist es umgekehrt? Vielleicht liegt genau darin die wahre Unsterblichkeit? Vielleicht pulsieren die Motive des Verstorbenen und die Folgen seiner Taten in jenen der Lebenden weiter, können nicht verstummen? Deine Großmutter hatte einen schwierigen Charakter. Wobei, wer hat schon einen einfachen Charakter? Wenn, dann vielleicht ich. Selbst du, Bohdan, auch ohne zu wissen, wer du bist, selbst ohne Gedächtnis bleibst du der Enkel deiner Großmutter. Das ist einer der wenigen Züge, die dir geblieben sind, die ich an dir erkenne. Hartnäckig Fragen nicht zu beantworten, nicht auf meine Worte zu reagieren, durch mich hindurchzuschauen, als wäre ich Luft. Sich an jedem Wort festzubeißen. Alles ins Lächerliche zu ziehen, selbst wenn es um die wichtigsten Dinge geht. Nicht zu sagen, was du wirklich denkst. Und dann, wenn man es am wenigsten erwartet, die ungemütliche Wahrheit zu verkünden und von Liebe und Ehrlichkeit zu sprechen. Kalt und emotionslos zu sein, auf ein Lächeln nicht zu reagieren, mich nicht zu umarmen, wenn ich weine. Jeder meiner Aussagen zu widersprechen, den alleinigen Anspruch auf die Wahrheit zu erheben. Mich mit Ignoranz zu strafen, nie die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Nach einer Phase der Nähe ohne Vorwarnung auf Distanz zu gehen. Meine Entscheidung, alles auf mich zu nehmen, als gegeben zu sehen: Schuld, Schwäche, Zärtlichkeit. Ich könnte noch viel mehr aufzählen. Ich kenne dich doch. Manchmal, wenn ich zu zweifeln beginne, ob du es wirklich bist, wenn mich der Gedanke quält, ob ich nicht einen Fremden aufgelesen habe, wenn ich die Form deiner Augen und deiner Nase nicht mehr erkenne, deine Schuh- und genaue Körpergröße vergesse, retten mich nur die kleinen Besonderheiten deines verdammten Charakters. Ich habe sogar den Eindruck, dass sich dein Geruch und deine Stimme ein wenig verändert haben. Aber deine Übellaunigkeit ist dieselbe geblieben. Früher dachte ich, sie würde uns entzweien. Nun verbindet sie uns. Denn oft erkenne ich dich allein an ihr. Über deine Eltern kann ich dir nur wenig erzählen, außer dass sie in deiner Kindheit selten an deiner Seite waren, denn dein Vater ist plastischer Chirurg und deine Mutter Musiklehrerin und Sängerin. Dafür weiß ich viel über deine Großmutter und ihre Schwestern. Hier sieht man einen Teil des Zimmers deiner Kindheit. Das Haus steht auf einem Hang, inmitten von Apfelbäumen, Pflaumenbäumen, Kirschbäumen und Flieder. Die Obstgärten erstrecken sich bis an den Fuß des Hügels, da und dort umgeben sie die Häuser, nachts sieht man einzelne trübe Lampen zwischen den Zweigen hervorleuchten. Direkt hinter dem Haus führt die Torhowa-Straße vorbei, der Hügel heißt Torhowyzja. Die Straße kommt vom Busbahnhof, sie wölbt sich den Hügel hinauf, führt auf der rechten Seite am jüdischen Friedhof vorbei. Die weißen Mazewas inmitten des wuchernden Grüns haben sich in verschiedene Richtungen geneigt, wie schief stehende Zähne. Der Straßenrand ist mit weißen Steinen ausgelegt, mit Bruchstücken von Grabplatten. Sie waren von Leuten hierhergebracht worden, die sie im Fundament ihrer Häuser oder auf Wegen gefunden hatten. Dorthin waren die jüdischen Grabsteine während der deutschen Besatzung geraten. Der Friedhof zieht sich über eine weite Strecke entlang der Straße und tief in die Vegetation hinein. Wo er zu Ende ist, tauchen die ersten Wohnhäuser mit Obst- und Gemüsegärten auf. Dort steht auch das Haus deiner Großmutter. Von dem Fenster, das auf dem Foto wegen des Begräbnisses schwarz verhängt ist, hat man einen schönen Blick auf die Dächer der Stadt, die Türme und Ruinen des Schlosses. Man überblickt beinahe das ganze Städtchen, das in einer gemütlichen Senke zwischen sanften Hügeln liegt. Ihre langgestreckten Rücken gehen in Felder über, die sich unter dem geblähten Schirm des Himmels weit in die Ferne hinziehen. In der Stadt ist alles dichter: Turmspitzen, Türme, schiefe Ebenen, die sich eine über die andere legen, mittelalterliche Steine und sowjetischer Beton, Kopfsteinpflaster, löchriger Asphalt, ein Markt mit Buden aus Gipskarton am Platz der zerstörten Synagoge und der Jeschiwa, eine Kirche, in deren Keller ein paar Hundert Leichen gefunden wurden, mit Kalk bestreut und einzementiert, der mäandernde Fluss zwischen dem Weidengehölz, die Türme des Klosters auf dem Berg, die elegante Silhouette des halb zerstörten, ständig eingerüsteten Rathauses. Die Gässchen liegen übereinander an den Hängen, eine über der anderen, auf verschiedenen Ebenen geschichtet, in steilen Winkeln. In deinem Städtchen kann man in einem Augenblick hunderte Ereignisse zugleich beobachten, man muss nur einen günstigen Aussichtsspunkt finden. Wenn du die Stadt von Großmutters Haus aus betrachtet hast, erinnerte sie dich an den Querschnitt eines Ameisenhaufens. Als Kind hast du am liebsten Ameisenhaufen erforscht. Vorsichtig hast du ein Segment entfernt, du hattest dir mit der Zeit dafür Werkzeuge zugelegt, die du immer bei dir getragen hast: eine gute Schaufel, ein Küchenmesser mit breiter Klinge, ein paar angespitzte Stöcke unterschiedlicher Stärke. Du hast alles in ein altes Geschirrtuch mit Waffelmuster eingeschlagen, es mit der Schnur, die von einem Bündel dünner Kirchenkerzen aus gelbem Wachs stammte, zusammengebunden und das Päckchen in deinem Schulranzen aufbewahrt. Im Dickicht des jüdischen Friedhofs wölbten sich viele stattliche Ameisenhaufen. Du konntest dich mit deinen Ausgrabungen beschäftigen, ohne dich allzu weit von zu Hause zu entfernen, wie zum Beispiel zu den Ruinen des Schlosses auf dem Berg Fedir. Dort gab es auch Ameisenhaufen, aber der Boden war nicht so nachgiebig, oft hart, von Lehm und Wurzeln verdichtet; diese Expeditionen dauerten viele Stunden und nährten den großmütterlichen Zorn. Wenn du besonders viel Glück hattest, ging das Messer so leicht durch den Ameisenhaufen, als wäre er ein großer Honigkuchen. Das schmale, längs abgetrennte Stück legte sich zur Seite wie auf einen Festtagsteller. Und deinem Blick eröffnete sich das geheime Königreich der Ameisen. In deinem Bauch wurde es wohlig warm. Du hast dich hinuntergebeugt und deine Beobachtungen begonnen: Trotz der Panik und des erhöhten Tempos bewegten sich die Insekten geordnet und zielstrebig. Die meisten schalteten augenblicklich vom Alltagsmodus in einen an die außergewöhnliche Situation angepassten Reaktionsmodus um: Kolonnen von Arbeiterinnen strömten durch die schmalen Gänge, eilten zu den Kammern mit Eiern und Larven, die entgegenkommenden Ameisenkolonnen schleppten den Nachwuchs ins Freie. Soldatinnen mit glänzenden Bäuchen umringten ihre langbeinige Königin – ihr majestätisches, zeugendes Ungetüm – von allen Seiten, geleiteten sie durch spezielle Gänge und drängten dabei das einfache Fußvolk unbarmherzig zur Seite. Ein Teil der Ameisen rettete die Nahrungsreserven: Stücke anderer Insekten, Samen und Körner. In den Seen, die sich durch die Zerstörung plötzlich in den unteren Höhlen gebildet hatten, ließen andere Ameisen demütig ihr Leben, zuckten dabei schwach mit den dünnen Beinchen und streckten sich noch nach ein paar halbersoffenen Eiern. Ein anderer Teil der Arbeiterinnen verschloss systematisch Durchgänge,...