Das Amadoka-Epos 1
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4695-8
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sofia Andruchowytsch, geboren 1982 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine. Sie lebt in Kiew als Schriftstellerin, Übersetzerin und Essayistin. Sie ist die Tochter des Autors Jurij Andruchowytsch und hat seit 2002 mehrere Prosabände veröffentlicht. 2014 gelang ihr der literarische Durchbruch mit dem Roman 'Der Papierjunge', der in mehrere Sprachen übersetzt sowie verfilmt wurde und 2016 im Residenz Verlag erschienen ist. Ihre große Roman-Trilogie 'Amadoka' erschien 2020 in der Ukraine und löste heftige Diskussionen über die Rolle der Ukraine während des Nationalsozialismus sowie über die Krim-Annexion von 2014 aus.
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BOHDAN
Den Frühherbst verbrachte Romana alleine in der Datscha. Ein paar Wochen lang sammelte sie mit der Schubkarre verfaultes Obst, mit dem das Wiesenstück übersät war, vor allem unter dem Birnbaum, wo das Gras am angenehmsten und dichtesten war. Romana brachte den braunen, nach warmer Leibesfäule riechenden Brei in den Wald und kippte ihn unter die Föhren. Später saß sie an der Bushaltestelle, die Füße auf das Rad der Karre gelegt, und beobachtete, wie der schwerelose Körper eines Eichhörnchens lautlos die luftigen Strecken zwischen den Ästen überwand. Alles an diesem Ort schien hohl, ausgedünnt. Zwischen den absolut gleichförmigen Stämmen der Föhren hätte man ganze Leinwände der eigenen Ängste, der eigenen Verzweiflung und Abgeschiedenheit anbringen können. Hier war Platz für alles, selbst für Dinge, für die in Romana selbst kein Platz war. Zur Arbeit ins Archiv fuhr Romana mit einem verbeulten Bus, der an seinen weißen, abblätternden Seiten blaue Streifen hatte und sie morgens um 7:15 nach Klawdijewe brachte. Der Autobus erinnerte sie an das Wohnzimmer im Elternhaus einer ihrer Klassenkolleginnen: violette, mit einer Schleife zusammengehaltene Gardinen an der Heckscheibe, eine Plastikliane, mit der die Absperrung hinter dem Fahrersitz umwickelt war, und ein uralter, ausgebleichter Kalender mit Fotos einer schwarzhaarigen jungen Frau in Jeans und BH, die sich eng und zärtlich an den Hals eines Rappen schmiegte. Zugleich aber erinnerte das Innere des löchrigen, dröhnenden Busses, mit dem sie exakt dreizehn Minuten fuhr, an einen Leichenwagen, provisorisch geschmückt und unbequem, denn wem ging es hier schon um Komfort. Die Datscha-Rentner mit ihren abwesenden Blicken, Greise, die einen Steinwurf von der Demenz entfernt waren, sahen aus, als würden sie jemanden auf seinem letzten Weg begleiten und hätten sich dabei mit ihren Gedanken in den eigenen Gehirnen verirrt. Um 7:30 brach Romana in der blauen Marschrutka namens »Bohdan«, deren Scheiben vom unausgeschlafenen Atem der Passagiere beschlugen, von Klawdijewe nach Kyjiw auf. Ein paar Minuten nach acht erreichten sie bereits Akademmistetschko, wo Romana eine Überdosis Nähe fremder Körper abbekam. Häufig wählte Romana danach die Route über den Kontraktowa-Platz: die Sahajdatschnyj-Straße entlang, vorbei an kleinen Tischen auf den schmalen Bürgersteigen, auf denen Morgencappuccinos standen, zur Kyjiwer Standseilbahn. Wer sonst auf dieser Welt fährt mit der Standseilbahn zur Arbeit, dachte Romana. Höchstens Standseilbahnfahrer. Der Wagen kletterte gemächlich nach oben, schöpfte Sonnenlicht oder grauen Dunst, der vom Wasser des Dnipro genährt wurde. In der Fassade des Hotel Hyatt spiegelten sich Krähen im Flug, Schwärme von Tauben, deren Flügel sich kantig übereinanderfalteten. Der Wachmann an der Pforte zum Areal der Sophienkathedrale ließ Romana durch, ohne zu grüßen, ohne zu nicken, ohne ein einziges Wort zu verlieren. Innerhalb der Mauern verlangsamte sie ihren Schritt. Sie folgte einem gepflasterten Weg zwischen gelb gewordenen, aber dennoch gepflegten Rasenflächen, vorbei an beinahe kahlen Obstbäumen, an Sträuchern und Blumenbeeten, an Touristen mit Fotoapparaten und Müttern mit Kinderwagen. Dieser innere Bereich war erfüllt von seiner eigenen Luft, seinem eigenen Inhalt, die Steinmauern umschlossen ihn wie eine Schale ihr Eiweiß und Eigelb. Der Ort war völlig isoliert und abgeschieden, hatte keinen Bezug zur Stadt außerhalb der Mauern. Das weiße, zweistöckige Gebäude der ehemaligen Börse, in dem sich das Archiv befand, schien noch abgeschiedener, trennte Romana noch mehr von der Außenwelt. Nachdem sie die Stufen zum Eingang hinaufgestiegen war, musste sie mindestens eine Minute innehalten, um noch ein paar Mal durchzuatmen und den Moment des Eintauchens noch ein bisschen hinauszuzögern. Mit dem Rücken zum Eingang und dem Gesicht zum Jasminstrauch. So blickte ein Selbstmörder vor jedem gescheiterten Versuch auf die Welt. Im Inneren des Gebäudes herrschten Kälte, Dunkelheit und Feuchtigkeit. Lange, hallende Gänge wiesen in alle möglichen Richtungen, führten zu Räumen, die durchtränkt waren mit dem Geruch von Moder, Mayonnaisesalat, Wasserkochern und Schimmelpilz. Das Gebäude war in den Hang gebaut, und so entpuppten sich seine Keller als Geschosse mit den Magazinen und den Arbeitszimmern der Archivare. Romana bewahrte bei sich im Lesesaal einen dicken, grünen Pullover mit gestricktem Gürtel und flauschigem Muster auf. Anders konnte man im Archiv unmöglich überleben. Selbst bei größter Hitze, wenn die Menschen auf der Straße schweißüberströmt waren und von den hohen Temperaturen und der Schwüle ohnmächtig wurden, kroch einem hier eine reglose Dunkelheit unter die Haut, durchdrang die Knochen. Bereits nach fünfzehn Minuten an ihrem Arbeitsplatz spürte Romana, dass ihre Gliedmaßen kalt wurden. Nach einigen Stunden hatte die Kälte nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Gedanken und Gefühle gelähmt. Das Gehirn wurde taub, wie ein Arm oder ein Bein in einer ungemütlichen Position. Romana zählte die Minuten bis zur Mittagspause, sogar im Winter, sogar an hoffnungslos verregneten Tagen, bei Wind, Nieselregen und Schneefall. Jede Wetterlage draußen war wärmer und sanfter. Kaum hatte Romana das Gebäude verlassen, begann sie zu atmen, aufzuleben, der Wind füllte ihre Lunge, ihre Brust wollte platzen vor Zorn und Verzweiflung, vor Einsamkeit schnürte es ihr die Kehle zu. Im Archiv herrschte Stille. Der Drachenbaum ließ seine langen, schmalen Zungen hängen. Romana schwieg die meiste Zeit über. Manchmal kamen Angestellte anderer Abteilungen vorbei, um sie mit dem neuesten Tratsch zu versorgen. Die meisten Dialoge führte Romana jedoch mit den Besuchern des Archivs, den Forschern. »Ich benötige redaktionelle Unterlagen der Zeitschrift ›Arbeit der Blinden‹. Ich habe sie vor ein paar Tagen bestellt.« »Bestand 736, nicht wahr? Bitte schön.« Die Ärmel ihres Pullovers über die Fäuste gezogen, saß Romana über den Verzeichnissen der Archivbestände, manchmal beobachtete sie über die Monitore der Überwachungskameras die Forscher, manchmal wechselte sie von ihrem Büro zum Lesesaal und betrachtete die Gardinen, die sich im Luftzug blähten, oder die ständig vom Nasenrücken rutschende Brille des glatzköpfigen Opern-Experten. Vom Fenster des Lesesaals aus sah man in den Hof eines mehrstöckigen Wohnhauses, das auf dem nächsten, etwas niedrigeren Hügel stand. Dort gingen Mütter mit ihren Kindern spazieren, in der Mittagspause kamen Männer in dunklen Anzügen, die mit selbstsicherem Schwung die Türen ihrer teuren Autos zuschlugen, während sie mit der anderen Hand ihren Krawattenknoten lockerten. Dort klapperten Frauen mit ihren Absätzen, wenn sie am Abend nach Hause kamen, ein paar Minuten später betraten sie erneut den Hof, nun in bequemen Schuhen und Trainingshosen, einen Hund an der Leine. Romana studierte entweder einen Menschen vor ihrem Fenster, dazu wählte sie eine Person aus (eine grauhaarige Dame mit kurzem Haarschnitt, die ständig telefonierte und dabei Anweisungen gab; einen Mann mit Falten zwischen den Augenbrauen, der zum Rauchen hinausging, sich mit dem kleinen Finger an der Schläfe kratzte und den Blick nie von seinem Tablet löste), oder sie suchte sich direkt im Archiv einen Helden, stieg dafür die Treppe hinunter, wo die Bestände aufbewahrt wurden, und holte sich Fotografien sowie Mappen mit Briefen und Tagebüchern aus den Schubladen – papierene Bruchstücke eines Lebens. Gewöhnlich verfolgte Romana mehrere Linien: Sie rekonstruierte das Leben der Personen, die sie vom Fenster aus sah, dachte sich die kleinsten Details aus, ihren Charakter, emotionale Besonderheiten, zugleich aber stellte sie sich im Archiv Stück für Stück das Leben einer berühmten Persönlichkeit zusammen und war dabei keineswegs auf der Jagd nach »herausragenden«, sondern vielmehr nach alltäglichen Offenbarungen. Verdauungsproblemen, Packlisten, die Bitte, Stoff für einen Mantel zu kaufen. Notizen von Reisen nach Kuba, Mexiko, in die Länder Lateinamerikas. Ein Versicherungsausweis, eine Bestätigung über die Ausgabe von Valuten, der Erwerb einer Datscha, das Abschlusszeugnis der Vorbereitungsklasse des Öffentlichen Kyjiwer Mädchengymnasiums (1899), der Mitgliedsausweis eines Kandidaten der Russischen Theatergesellschaft (1916), eine Heiratsurkunde (1923), die Mitgliedskarte einer Gewerkschaft (1924), ein Testament (1928), ein Arbeitsbuch (1939), eine Lehrbefähigung (1946), eine Autobiografie (1954–1957). Was die Forscher betraf, so kamen manche über Jahre hinweg hierher. Zum Beispiel Wasyl Ihorowytsch Malyschka, ein Mann...