Andruchowytsch | Der Papierjunge | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 312 Seiten

Andruchowytsch Der Papierjunge

E-Book, Deutsch, 312 Seiten

ISBN: 978-3-7017-4522-7
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Buch wie eine Wunderkammer: "Der Papierjunge" erweckt eine vergangene Epoche zum Leben und erzählt von Verstrickung, Hingabe und Verrat.

Stanislau um 1900: eine galizische Kleinstadt am Rande der Monarchie. Adelja und Stefa, "miteinander verflochten wie die Stämme zweier Bäume", einander stützend, einander die Luft zum Atmen nehmend, wachsen gemeinsam auf. Als Adelja den Steinmetz Petro heiratet, wird aus der engen Verstrickung ein Dreieck, aus dem Stefa sich vergeblich zu befreien trachtet. Und als der Magier Torn mit seinem Zirkus die Stadt besucht, taucht plötzlich der engelsgleiche Junge Felix in Petros Werkstatt auf - ein kleiner Schlangenmensch, sprachlos, biegsam und brüchig wie Papier. "Der Papierjunge" bietet mehr als ein dichtes, mit sinnlichen Eindrücken und Details gesättigtes Bild einer Epoche, es ist eine drängend erzählte Geschichte von Liebe und Verrat.
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[9. I. 1900]
1. Kapitel
Dieses Haus findet keine Ruhe. Besonders um den Jahreswechsel. Ein Fest jagt das andere: der Technikerball im Theatersaal, der erste »Wollabend«1 in der Moniuszko-Musikgesellschaft, die Akademikerfeier im Kasino, das Kostümfest des örtlichen »Sokol«-Turnvereins – und so geht es ganze zwei Monate lang. Im Stadtkasino haben zu Silvester nur 28 Paare die erste Quadrille getanzt. Dafür waren das »Stern« und die Kleinbürgerliche Gesellschaft gut besucht. Es heißt, unsere Juden hätten sich in ihrem Klub gut amüsiert. Wie jedes Jahr wurde Frau Doktor Esther Funkelstein zur Ballkönigin gewählt, und mit Recht: Denn es gibt niemanden, der auf der Straße nicht stehengeblieben wäre, um sich nach dieser großgewachsenen Frau umzudrehen und ihr nachzuschauen; und danach kreist sie in allen Gedanken wie eine traurige Melodie. Adelja liebt gesellschaftliche Vergnügungen und nötigt auch mich mitzugehen. Ich will nicht, denn ich weiß genau, wie die Fräulein in ihren Musselinkleidern hinter Adeljas Rücken flüstern: »Adelja Anger geht mit ihrem Dienstmädchen aus, und verheiratet ist sie mit einem russischen Sargtischler.« Aber Petro begleitet sie nie, und alleine kann ich sie nicht gehen lassen. Petro ist kein Sargtischler. Er macht Statuen für Gräber und Gruften. Und all diese Fräulein vergießen bittere Tränen, sie weinen sich auf dem Friedhof die Augen aus beim Anblick von Petros traurigen Engeln oder seinen Marmordiven mit wallendem Haar, die bis in alle Ewigkeit erkaltet sind. Petro arbeitet in der Werkstatt von Kasimir Bembnowytsch in der Sapiezynskagasse, gegenüber der zum Himmel strebenden deutsch-lutheranischen Kirche. Dort, wo die Pappelallee zum Friedhof abzweigt. Zurzeit aber stellt er die Marmorarbeiten in unserer Kathedrale fertig: Im Hauptschiff ist der Marmor dunkelgrün, in den Seitenschiffen cremefarben. Er sagt, die Ikonostase sei bereits bemalt und vergoldet. Es werde eine Gasbeleuchtung installiert. Ich bringe ihm jeden Tag das Mittagessen: mit Buchweizen gefüllte Blutwurst, Speck, Bohnen, Leberknödel, Kartoffelpuffer, Erbsenkroketten. Die Straßen sind nur notdürftig vom Schnee befreit, die Droschken bleiben immer wieder in den Schneewehen stecken. Vor vier Uhr beginnt es bereits zu dämmern, der Lampenknecht jedoch hat keine Eile, die Laternen anzuzünden. Auf Schritt und Tritt begegnet man Rudeln junger Männer, die sich mit Wodka aufwärmen. Die städtische Propination1 hat ihnen zu den Feiertagen ein besonderes Geschenk gemacht: der Liter kostet nur 66 Kreuzer. Um das Geld wird man nicht satt, aber so betrunken, dass man nicht nur den Hunger, sondern auch seinen Namen vergisst. Und dann wissen sie nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Letzte Nacht ist einer vor unseren Fenstern auf und ab gegangen, hat gegrölt, wir sollen ihn bei uns übernachten lassen. Er hat geschrien: Ich habe keinen Platz zum Schlafen, mir frieren die Füße ab. Am Ende hat er doch ein Plätzchen gefunden, an dem er es warm hatte. Die Polizei hat ihn mitgenommen, im Arrest konnte er sich aufwärmen. In letzter Zeit wimmelt es hier nur so von Verbrechern, Übeltätern und Dieben, dass man Angst hat, auf die Straße zu gehen. Man würde sich am liebsten im Haus verbarrikadieren und nicht einmal die Nase hinausstrecken. Manchmal aber denkt man: Wer sagt, dass es zu Hause sicher ist? Wer sagt, dass nicht auch hier ein Dieb lauert, jemand, dem du vertrauensvoll deine verletzliche Kehle zeigst? Petro sagt: Die Nachricht gehe um, dass aus der polnischen Kirche zur Heiligen Anna in Jezierzany eine antike Monstranz verschwunden sei. Und wieder weder Spuren noch Zeugen, alle Türen waren mit Schloss oder Riegel versperrt, die Fenster heil, im Inneren herrschte Ordnung. Als wären leuchtende Engel durch die Wände gedrungen und hätten den kostbaren Gegenstand mit in den Himmel genommen, zu Jesu Ehren. Es geht schon recht lange so: In Mykulynzy, wo vor Kurzem das Gotteshaus nach einem Brand wieder aufgebaut wurde, haben sich zwei goldene Patenen1 in Luft aufgelöst, eine mit der Abbildung der Krippe von Bethlehem, die andere mit einer Darstellung des Heiligen Grabes. Erst am Vortag hatten Pfarrer und Diakon die Teller in einer schmiedeeisernen Truhe eingeschlossen. Am Morgen entfuhr dem Diakon ein Schrei: Die Truhe stand offen und war leer, den einzigen Schlüssel hatte der Pfarrer, beide Männer werden noch immer festgehalten. Im Basilianerkloster zur Kreuzerhöhung in Buczacz auf dem Berg Fedir trug sich Folgendes zu: Der Novize Benedikt ging um drei Uhr nachts von seiner Zelle im rechts an die Kirche anschließenden Trakt in den Stall, um die Pferde zu füttern, da hörte er durch die mit Pilastern und vergoldeten korinthischen Kapitellen geschmückten Mauern, wie Engelsflügel gegen das Temperagemälde aus dem XVIII. Jahrhundert schlugen. Er zweifelte keine Sekunde an der Natur des Geräuschs. Es habe wie der Flügelschlag der Tauben im Glockenturm geklungen, erzählte Benedikt, nur müsse der Vogel etwa so groß wie ein Mensch gewesen sein. Am Morgen stellte man fest, dass eine Haarsträhne vom abgeschlagenen Haupt Johannes’ des Täufers, die Reliquien der heiligen Mundyzija, Stacheln von Jesu Dornenkrone und ein Stück des Schwamms, mit dem Jesus Essig zu trinken gegeben wurde, spurlos verschwunden waren. All diese unschätzbar wertvollen, heiligen Gegenstände waren, ebenso wie eine goldene, mit Edelsteinen inkrustierte Dose, wie vom Erdboden verschluckt. Rabbi David Mosche, Gründer der Gesellschaft für Thorastudien in Czortków, meldete, aus den geheimen Verstecken der Alten Synagoge sei eine Zuckerdose mit gebogenen Füßchen und Blumenornamenten zur Aufbewahrung des Etrogs1 verschwunden. In Wirklichkeit habe sich etwas ganz anderes in der Dose befunden, aber das, sagte der Rabbi, sei ein Geheimnis, das unter keinen Umständen preisgegeben werden dürfe. Als aus der Synagoge von Brody (der Stadt der unversperrten Türen und des berühmten Weisen Baal-Schem-Tov2) ein antiker Kidduschbecher3, eine Channukkia4 mit einem goldenen, schreitenden Löwen und ein smaragdbesetzter Jad5 verschwanden, erinnerte sich irgendjemand plötzlich an die Pantomime der fahren den Brodyer-Sänger1, die davon erzählte, wie der Herr Sabaoth sein Volk ins Himmlische Jerusalem hinüberführt: zuerst die Dinge, dann die Bethäuser, Tiere und Behausungen, deren mysteriöses Verschwinden den Erdenmenschen Rätsel aufgibt. Als Nächstes lösen sich die Heiligen, die Weisen, Musiker und Kinder in Luft auf, bis schließlich kein einziger Jude mehr auf dieser sündigen Erde zurückbleibt. Diese furchteinflößenden Ereignisse zeugen davon, dass unsere Erde dem Ende zugeht. Bald holt ein unfassbar großes Wesen tief Luft, streckt sich genüsslich und schlägt die Augen auf. Im selben Augenblick werden wir mit all unseren bösen Blicken und unserem Aberglauben, mit unseren Ängsten und Verzweiflungsschreien, unseren Leidenschaften und Tränen aufhören zu existieren. Wir werden im Himmel verschwinden wie der schwarze, drückende Rauch eines Brandes. Um nicht daran denken zu müssen, denken die Menschen zum Beispiel an die Feiertage. Und finden keine Ruhe. Adelja schleppte mich zu einem Konzert des blutjungen Raoul Koczalski. Er ist noch keine fünfzehn Jahre alt, aber die Tasten des Fortepianos zerfließen unter seinen Fingern; man hat den Eindruck, als beherrsche er sein Instrument mit Blicken, mit der Kraft seiner Gedanken, den Bewegungen seines Kopfes. So wie ich den Krauthobel beherrsche, wenn ich Kraut mit Kümmel einlege. Raoul ist ein dunkelblonder Jüngling mit rundem Gesicht, klaren Augen und rosa Pausbacken. Auf seiner zarten Haut scheint noch kein Barthaar zu sprießen. Ach, wie gern würde ich ihn in die Wange kneifen. Das flüsterte ich Adelja zu, als er zur ersten Verbeugung vor das Publikum trat; sie rollte mit den Augen und stieß mir ihren spitzen Ellenbogen fest in die Rippen. Doch als das Kind mit seinen expressiven Wachsfingern den offenen Rachen des Klaviers berührte, schämte ich mich. Zuerst spielte er Mozart, Gluck und Hummel, später nur noch Walzer von Chopin und dessen Fantaisie-Impromptu, und da fühlte ich mich plötzlich unwohl, so benommen von diesen Tönen, als hätte ich kein Recht hier zu sein und ihnen zu lauschen: Ich bin so unbedeutend, und das hier ist so wunderbar. Oh nein, nun fand ich es nicht mehr lustig, dass Raoul Koczalski im Alter von sieben Jahren eine Auszeichnung des Pariser Konservatoriums erhalten, mit acht seine erste Oper geschrieben, mit elf das tausendste Konzert gespielt hatte und mit zwölf vor dem persischen Schah Naser al-Din aufgetreten war, der so vor seinem Tod, der ihn durch die Hand eines Attentäters ereilen sollte, noch das Talent des Jungen bewundern, ihm den Titel Hofpianist zuerkennen und den Sonnen-...


Sofia Andruchowytsch wurde 1982 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine, geboren. Wo sie als Schriftstellerin, Übersetzerin und Essayistin, u. a. für die Literatur-Zeitschrift Tschetwer (Donnerstag), lebt. Sie ist die Tochter des Autors Jurij Andruchowytsch und hat seit 2002 mehrere Prosabände veröffentlicht. 2014 gelang ihr der literarische Durchbruch mit dem Roman "Der Papierjunge", der zurzeit in mehrere Sprachen übersetzt wird.


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