E-Book, Deutsch, 260 Seiten
Ambjørnsen Stalins Augen. Kriminalroman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95988-006-0
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 260 Seiten
ISBN: 978-3-95988-006-0
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
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Victor von Falk ist Privatdetektiv und wohnt in St. Georg, dem anrüchigen Viertel gleich hinter dem Hamburger Hauptbahnhof. Drogenprobleme sind sein tägliches Brot, und der Auftrag einer Prostituierten führt ihn einmalmehr ins Heroingeschäft. Doch seine neue Klientin ist skurril: Ihre Beine sind Prothesen, aber ihre Geschäfte laufen nicht schlecht. Die «mechanische Frau» führt Falk an Orte und zu Menschen des Milieus, die selbst er als Insider der Szene bislang nicht kannte. Ein Roman, der dem Leser von der ersten Seite an Handschellen anlegt und ein Aussteigen unmöglich macht. »Ambjørnsen stimmungsvoller Roman handelt detailfreudig von der schmuddeligen Seite des Hamburger Nachtlebens.« DIE ZEIT »Hamburg St. Georg ist das Planquadrat, in dem Ingvar Ambjørnsen kalifornische Chandler Stimmung aufkommen lässt, einen Drogenmilieu-Blues intoniert, der einen tief hineinzieht, mitten ins Herz trifft und zu Tränen rührt. Oh, Mann, könnte man auch sagen, der Typ hat´s drauf.« Frank Göhre
Ingvar Ambjørnsen, geb. 1956 in Tønsberg, Norwegens kneipenreichster Stadt, aufgewachsen in Larvik. Nicht vollendete Gärtnerlehre und mancherlei Jobs in Industrie und Psychiatrie. Erste Buchveröffentlichung 1981: »23-salen«, seitdem zahlreiche Romane, Welterfolg mit den »Elling«-Romanen. Lebt seit 1985 in Hamburg. Bei CulturBooks erscheinen seine frühen Kriminalromane »Stalins Augen« (1989) und »Die mechanische Frau« (1991) und der Roman »San Sebastian Blues« (1990) als digitale Neuauflagen. Ingvar Ambjørnsen wurde 2012 mit dem Willy-Brandt-Preis ausgezeichnet.
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Ronny Olsen versuchte, Frau Lind nicht anzustarren. Von seinem Eckplatz aus, hinten im Nebenzimmer von Halvorsens Konditorei, konnte er sie zwar nach Herzenslust betrachten, ohne auffällig zu wirken, aber dass er seinen Blick fast nicht von ihr abwenden konnte, ging ihm wider die Berufsehre. Frau Linds Profil hob sich reizvoll von der großen Fensterscheibe ab. Die hohe Stirn und die leicht gebogene Nase gaben ihr ein klassisches Aussehen. Die Augen, die er im scharfen Gegenlicht nicht deutlich sehen konnte, richteten sich auf die Tür. Aber ihr Blick hatte das Angespannte verloren, das er die ersten Male beobachtet hatte. Ihr zarter Körper, nun eingehüllt in ein hellblaues Kostüm, war entspannt, strahlte Selbstvertrauen aus. Frau Lind hatte Ruhe gefunden, das zeigte ihre ganze Erscheinung. Als er nur wenige Minuten nach ihr die Konditorei betreten und sich an ihrem Tisch vorbeigedrängt hatte, war er für eine kurze Sekunde ihrem Blick begegnet. Ihre dunklen Augen zeigten Intelligenz und Sensibilität. Heut ist sie reif! hatte er gedacht Sonst gefällt sie mir am Ende zu sehr. Schade, dass ich bei so einem Reh zur Büffelmethode greifen muss! Ja, das war schade. Aber Ronny Olsen hatte es langsam reichlich satt, bei Halvorsen seinen Vormittagskaffee zu trinken. Außerdem war er seiner Sache jetzt sicher. Und auf seiner Liste standen noch andere Aufträge. Der Knabe kam um Punkt halb zwölf hereingeschlendert. Ronny ging davon aus, dass er von der pünktlichen Sorte war. Er sah so aus. Kurzgeschnitten und fesch, wie die Mode es in der konservativen Szene vorsah, in der er vermutlich verkehrte. Tadellos gekleidet für sein Alter, dunkelblaue Daunenjacke vom richtigen Fabrikat, dunkelgraue Hose und Wildlederstiefel. Dutzendware aus dem Villenviertel, restlos uninteressant. Ronny archivierte ihn automatisch als zufälligen Statisten und wusste, dass Frau Lind in ein oder zwei Stunden desgleichen tun würde. Sie nahm ihn in Augenschein. Gründlich. Musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle, ehe er einen Stuhl heranziehen und sich setzen konnte. Frau Lind schien zufrieden mit dem, was sie sah. Jedenfalls ließ sie sich zu einem großzügigen Lächeln herab. Ronny Olsen lächelte ebenfalls leicht. Allerdings bedeutend reservierter. Sie war so heiß in der Hose, dass sie keine Zeit mit Kaffee und Geplauder vergeudete. Gleich zur Sache. Ronny gefiel sie immer besser. Sie erhob sich, schlüpfte in ihren Persianer und ging. Der Knabe wartete eine Viertelstunde und drehte Frau Linds hinterlassene Kaffeetasse zwischen seinen langen Fingern, dann stand auch er auf und ging. Ronny Olsen folgte ihm. Er ließ sich Zeit. Gab dem Knaben einen ziemlichen Vorsprung. Als der Westendbroiler ins Hotel Continental stapfte, wanderte Ronny mit aufgesetzt selbstsicherer Miene ins Theatercafé. Er mochte diesen großen, offenen Saal nicht und ihm missfielen die Gäste aufs Schärfste. Das Lokal und die intellektuellen Schwärmer, die hier herumzusitzen pflegten, ließen Ronny Olsen sich nackt, unsicher fühlen, Er hatte das Gefühl, dass das laute Lachen, das ihm entgegenwogte, als er die Glastüren aufstieß, gegen ihn gerichtet war, dass die erfolgreichen Kulturgurus ihn durchschaut und begriffen hatten, dass er auch nur ein Allerweltstrottel war. Er bestellte eine halbe Flasche Rotwein und trank sie langsam, ein etwas halbherziger Versuch, Frau Linds Sexualleben eine gewisse Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Vom Schäferstündchen war erst eine halbe Stunde vergangen, die Flasche war halbvoll und sein Fotoapparat enthielt einen unbelichteten Film. Arthur Lehmann wirkte nicht besonders begeistert, als er Ronny Olsen in der Rezeption des Continental erblickte. Mit großer Mühseligkeit hatte er sich eine zackige, aufrechte Haltung hinter dem Tresen eines der besten Osloer Hotels zugelegt – er sackte in sich zusammen, als er Ronnys Rotweingrinsen sah, ging augenblicklich in Verteidigungsposition. Der Kunde am Tresen schien diese wenig ansprechende Veränderung des Portiers indessen nicht zu bemerken. Er durchwühlte unverdrossen weiterhin die atlantiktiefen Innentaschen, vermutlich auf der Jagd nach dem Pass, der beweisen sollte, dass er der war, für den er sich auszugeben beliebte. Ronny griff zu einer Zigarette, ließ sich beim Anzünden viel Zeit, versuchte gleichzeitig, Arthur zu signalisieren, dass er sich nicht allzu sehr aufregen sollte. Von Ronny drohten keine Skandale. Heute nicht. Ronny hatte sorgfältig trainiert, gleichzeitig unschuldig und ein bisschen bedrohlich auszusehen und Arthur seinerseits hatte trainiert, solche Signale zu empfangen und zu deuten. Er war Ronny schon öfter im Zweikampf begegnet und er war aus den meisten nicht als Sieger hervorgegangen. Nun befeuchtete er mit blitzschneller Zunge seine fülligen Lippen, seine Hand fuhr immer wieder zur Trendfrisur hinauf: Arthur Lehmann war nervös, und das passte Ronny Olsen ganz vorzüglich. »Alles klar, Mr. Carmichael!« Arthur rang sich ein seelenloses Lächeln ab und drehte sich schwerfällig um, um den Schlüssel hervorzufischen, ohne den Gast aus den Augen zu verlieren. Der Mann schnaubte in seinen Schnurrbart und verschwand auf der Treppe. Ronny, der die ganze Zeit Gewitterwolken aus ungesundem Zigarettenrauch in Richtung Arthur geschickt hatte, ließ die Zigarette auf den Boden fallen und trat sie diskret in den Teppich. »Auf diese Weise gibt’s kein Trinkgeld, mein Junge, das raffst du wohl hoffentlich.« Arthur betrachtete, offenbar mit großem Interesse, die Haare auf seinem Handrücken. »Lass mich in Ruhe! Lass mich doch bloß in Ruhe!« Ronny lächelte. »Gerader Kurs aufs Festland? Nicht aufgeben, Arthur. Noch zwei Jahre und du bist ein ehrenwerter Mann wie jeder andere. Wer kümmert sich denn um die kleinen Jugendsünden? Ein paar ausgeschlagene Zähne bei einer alten Schachtel, die zu blöd war, um ihre Tasche loszulassen, obwohl du doch klar und deutlich gesagt hattest, du wolltest die haben? Das schert doch wirklich kein Aas mehr, Arthur. Die Zeit vergeht und die Leute werden mit jedem Tag weniger zimperlich.« Arthur schloss beide Augen. Er kannte Ronnys Einleitungen schon. »Was willst du hier?« »Sie!« sagte Ronny. »Was wollen Sie hier! Fall jetzt um Gotteswillen nicht aus deiner neuen Rolle, bloß, weil du eine bekannte Visage siehst« »Kannst du nicht gehen, Ronny? Ich hab einen Job zu erledigen.« »Richtig. Einen Job zu erledigen.« Ronnys Hand klatschte auf den Tresen. »Aber vor allem hast du einen Job zu behalten! Vergiss das nicht, mein lieber König Arthur, vergiss das nie!« Er holte eine neue Zigarette hervor und vergewisserte sich, dass Arthurs Aufmerksamkeit in Reichweite war. »Hier ist ein Junge reingekommen, nicht wahr? So ein kleiner Broiler, den du und ich und anständige Arbeitsleute nicht sonderlich abkönnen. Vor einer halben Stunde, einer guten halben Stunde sogar. Ich nehme an, er hat dich nach der Zimmernummer seiner Mutter gefragt – oder sowas auf die Tour.« »Und wenn schon! Bitte, blas mir nicht die ganze Zeit Rauch in die Fresse!« »Und wenn schon will ich gerne dieselbe Frage beantwortet haben. Wo steckt Mama, Arthur? In welchem Zimmer?« »Hör zu«, antwortete Arthur spitz. »Wenn du glaubst, dass ich Auskünfte über unsere Hotelgäste verkaufe ...« »Mein lieber Arthur! Wofür hältst du mich? Ich bin doch nicht hergekommen, um etwas von dir zu kaufen! Nein, da enttäuschst du mich wirklich, alter Freund! Gratis will ich das, ganz gratis!« »Verpiss dich! Mach ganz schnell, dass du hier wegkommst! Ich hab genug von Stinktieren wie dir!« Das Wort »Stinktier« veranlasste Ronny Olsen, seine Kinderfunkstimme augenblicklich abzulegen. Ohne, dass Arthur Lehmann das auch nur ahnen konnte, weckte dieses Wort bei ihm unangenehme Erinnerungen an die Turnstunden seiner Schultage. »Corwig & Williams«, sagte Ronny kurz. »Du kannst gut um Hilfe rufen, aber du kannst sicher sein, dass ich dich überschreie. Und ich werde ›Kokain!‹ brüllen. Tierisch laut.« Nach einer Kunstpause von einigen Sekunden fuhr er fort: »Du musst doch kapieren, dass du in diesem Cowboystädtchen nicht Waschpulver für eine ganze Fußballmannschaft besorgen kannst, ohne dass jemand das in die Nase kriegt? Du musst damit aufhören, Arthur, du musst ganz aussteigen.« Arthurs Blick suchte wieder die Haare auf seinem Handrücken. »So, das wäre für heute die kleine Moralpredigt, Junge. Jetzt noch die Kollekte, dann sind wir fertig. Zimmernummer. Und den Universalschlüssel. Gib von deinem Überfluss. Himmel, hinter dir hängen doch Hunderte von Schlüsseln!« Ronny lächelte wehmütig, als er die Treppe hinaufging. Die armen Schweine hatten Nr. 69 bekommen. »Jaja, die Alltagssymbolik!« Mehr konnte er nicht denken, denn eine akute Welle der Übelkeit fiel wie ein halbverfaulter Dämon über ihn her, zwang ihn zu einer kleinen Pause. Er kannte diese Anfälle schon. Sie kamen in der letzten Zeit immer häufiger. Die Übelkeit wurzelte in seinen leicht misshandelten Innereien, hatte aber eine Tendenz, bei Aufträgen wie diesem voll zuzuschlagen. Manchmal fragte er sich, ob nicht auch trübe psychische Ursachen mit im Spiel sein könnten. Zum tausendsten Mal schwor er, nun mit den Fickjobs Schluss zu machen und zum tausendsten Mal wusste er, dass er diesen Schwur brechen würde. Mit der steifbeinigen Entschlossenheit der Alkoholiker hielt er, die Kamera schussbereit, auf die Tür zu und drei Sekunden darauf stürzte er ins Zimmer. »Presse!« rief Ronny...