Israel im neuen Millennium
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-85371-907-7
Verlag: Promedia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Jahrtausendwende markierte eine Zäsur: Israels politische Entscheidung, den bewaffneten Volksaufstand der Palästinenser gegen die Besatzer als Terrorismus zu bezeichnen und niederzuschlagen, diente zur Legitimation des Besatzungsregimes und legte einen immer vehementeren Zivilmilitarismus der israelischen Gesellschaft offen. Verheerende Kriege folgten, und der einst in der israelischen Gesellschaft stark vorhandene Linkszionismus verlor massiv an Einfluss. Mit ihm verschwand zugleich die alte Friedensideologie. In der tiefsten Sinnkrise des zionistischen Israel verschoben sich die politischen Verhältnisse, sodass rechte Kräfte salonfähig wurden. Die Wiederwahl von Benjamin Netanjahu 2009 und 2022 markiert den Siegeszug der Neozionisten.
Mit ideologiekritischem Ansatz fragt die israelisch-deutsche Historikerin: Wie verhält sich die Okkupation zum Zivilmilitarismus (sprich zum gesellschaftlichen Konsens für Israels Kriegspolitik)? Und inwieweit haben diese beiden israelischen Phänomene den Neozionismus genährt? Erleben wir mit der seit Jahren andauernden Regierungskrise eine Art Implosion des politischen Systems? Oder stabilisiert sich ein rechts- bzw. neozionistisches Israel?
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Einleitung
Zum Jahrtausendwechsel befand sich der jüdische Staat an einem Scheideweg seiner zionistischen Geschichte. Denn er war konfrontiert mit tiefen Widersprüchen bezüglich der Identität der Immigranten-Siedler-Gesellschaft, des Staatsverständnisses, der politischen Kultur des Landes sowie der Frage des Selbstbildes einer quasi offenen Gesellschaft und pluralistischen Demokratie. So verdichteten sich im Jahr null des neuen Millenniums sämtliche Kernprobleme des zionistischen Israel bis hin zur geschichtsträchtigen, beispiellos blutigen Auseinandersetzung mit den Palästinensern. Ende September 2000 brach die Zweite Intifada aus. Sehr bald geriet dieser Volksaufstand zu einem präzedenzlosen, neuen Krieg zwischen Israel und den Palästinensern. Dieser fünfjährige Waffengang (2000-2005) – so wird das vorliegende Buch zeigen – prägte Israels Politik, dessen politische Kultur und schrieb damit Zeitgeschichte. Er führte zu einem Rechtsruck in der israelischen Gesellschaft und dem Kollaps des Friedenslagers, und somit zum Untergang des in der politischen Gesellschaftsordnung gewichtigen Linkszionismus. Dadurch wurde der Weg für ein neues Phänomen geebnet, nämlich die Bewegung des Neozionismus. Nach dem rasanten Kollaps der linkszionistischen Regierung Ehud Barak (1999-2000), welche die Regierung Benjamin Netanjahu (1996-1999) abgelöst hatte, dominierten in Jerusalem rechtszionistische Regierungen unter Ariel Sharon (2001-2006), Ehud Olmert (2006-2009) und Benjamin Netanjahu (2009-2021).1 Der vorliegende Ansatz stellt die zeithistorische Frage nach der Bedeutung der Zweiten Intifada für Israel im neuen Jahrtausend. Er fragt nach der Wirkmächtigkeit des schicksalhaften Jahres 2000 auf Israels Politik, Geschichte und politische Kultur. Mit dem Ziel, den israelischen Zeitgeist in dieser Zeitgeschichte zu erfassen, sucht er, die Veränderungen in Staatsbild, Selbstbild und Feindbild besser zu verstehen. Der Ansatz übt Ideologiekritik, wobei Israels zionistische Staatsideologie den Dreh- und Angelpunkt der Analyse darstellt. Deren Kern ist jedoch nicht der historische Zionismus, sprich die Idee eines jüdischen Staates, sondern der gelebte Zionismus in der de facto binationalen Demografie in Eretz Israel/Palästina. Die Analyse in diesem Buch ergibt drei Schlüsselbegriffe: Okkupation, Zivilmilitarismus und Neozionismus. Dabei stützt sie sich auf den geschichtsphilosophischen Ansatz des deutschen Hermeneutikers und Philosophen Hans-Georg Gadamer: »Der wahre historische Gegenstand ist kein Gegenstand, sondern […] ein Verhältnis, in dem die Wirklichkeit der Geschichte ebenso wie Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens besteht.«2 Eben in der spezifischen Verflechtung dieser drei Phänomene in der israelischen Ordnung findet sich ein Schlüssel für ein fundiertes Israel-Verständnis im neuen Jahrtausend. Doch während »Zivilmilitarismus« und »Neozionismus« im inner-israelischen Mainstream-Diskurs ohnehin kaum Verwendung finden, verliert in den letzten Jahren auch »Okkupation« als politischer Begriff zunehmend an Relevanz. Indessen geben gerade diese Begriffe in der kritischen Analyse der israelischen Zeitgeschichte einen erhellenden Aufschluss für eine meist schwer nachvollziehbare kulturpolitische Ordnung. Okkupation (Hebr. Kibusch), sprich die israelische Besatzungsordnung in den 1967 eroberten palästinensischen Gebieten, wurde nach der Ersten Intifada der Jahre 1987-1993 sukzessive politisiert, allen voran vom Linkszionismus. Dieses große Lager, das sich um die historisch dominante oftmals regierende Arbeitspartei herausgebildet hatte, drängte Anfang der 1990er Jahre immer mehr darauf, den als Anomalie, als Abweichung vom zionistischen Staatsprojekt begriffenen Kibusch aufzuheben. Deshalb setzten die Linkszionisten ihre Hoffnungen in den Oslo-Friedensprozess von 1993-2000. Doch ab 2000 verliert die Besatzung immer mehr an politisch-diskursiver Relevanz, und dies, obwohl sie immer wirkmächtiger wurde, immer eindringlicher, immer konstitutiver für die »israelische Ordnung«. Die israelische Ordnung habe ich an anderer Stelle bereits definiert als »die durch die israelische Staatsräson bzw. das zionistische Projekt geprägten Verhältnisse zwischen den jeweiligen staatlichen Institutionen, mithin die politische Kultur des Landes. Dabei handelt es sich um den Habitus der politischen und militärischen Eliten im Hinblick auf das nationalstaatliche Projekt der ›Judaisierung‹ des Landes und die eng daran gekoppelte Aufgabe der Staatssicherheit.«3 Im Zuge der Zweiten Intifada entschied sich das politische und militärische Israel mit seiner Kriegspolitik nicht nur dafür, die Besatzung weiterzuführen, sondern sie sogar noch zu verfestigen. In dem Verständnis, dass sie unerlässlich für die jüdisch-nationalstaatliche Existenz sei, galt es, die Besatzung stärker in die israelische Ordnung zu integrieren – mit all den Konsequenzen, über die das vorliegende Buch ausführlich berichtet. Doch wie erklärt sich dieser scheinbar abrupte Richtungswechsel? Weshalb scheiterte der politische Prozess, der angeblich die Besatzung zu beenden trachtete? Damit verbunden ist die Frage, wie das zionistische Israel die im Kern des Konflikts stehende Palästina-Frage verstand. Hatte das Land in den 1990ern überhaupt die politischen und ideologischen Kapazitäten, die Besatzung wirklich zu beenden? War die Zweistaatenlösung das eigentliche Ziel, das Israel mit Oslo verfolgte? Tatsächlich gab es Anfang 2001 in Israel schon keine politische Macht mehr für eine solche Lösung, auch nicht für den politischen Prozess. Im Gegenteil nahm das Militär die palästinensische Erhebung gegen die Besatzung zum Anlass, seine Herrschaft in den palästinensischen Gebieten weiter zu vertiefen und dabei einen blutigen Krieg gegen die Palästinenser zu führen. Die Folgen dieses fünfjährigen Waffengangs entpolitisierten nicht nur die Okkupation, sondern machten diese auch zum geschichtsträchtigen, zugleich jedoch verleugneten, großen Elefanten im Raum der israelischen Ordnung. Denn Okkupation bedeutet Dauerkrieg. Der Dauerkrieg bedarf eines gesellschaftlichen Konsenses in Form des Zivilmilitarismus. Dieser Begriff meint hier den von der israelischen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit getragenen Militarismus, womit sich der zivilgesellschaftliche Konsens für den Krieg in Israel, mithin für die Okkupationsordnung immer wieder herstellen lässt. Das Phänomen ist historisch gewachsen, bedingt durch die lange Konfliktgeschichte. Doch im neuen Jahrtausend bekommt der israelische Zivilmilitarismus eine neue Qualität. Wenn früher der israelische Linkszionismus die Friedensideologie als Aussicht, als Hoffnung auf künftige Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern geboten hatte, so markiert das Jahr 2000 mit der Niederschlagung des palästinensischen Volksaufstandes den Beginn einer neuen Kriegsära. Nicht nur sind Israels Neue Kriege im neuen Millennium immer häufiger und fataler geworden, ihr erklärtes Ziel ist dabei auch ausdrücklicher: die Herrschaftsverhältnisse der Okkupation einmal mehr zu vertiefen, um diese längerfristig zu verfestigen. Etablierte Okkupation, Neue Kriege und Zivilmilitarismus ohne Friedensideologie besiegelten – so die Hauptthese dieses Buches – ein neozionistisches Israel. Der Neozionismus hat sich vor allem aufgrund des Scheiterns des historischen Prozesses der 1990er-Jahre um die ur-zionistische Palästina-Frage durchgesetzt. Diese geschichtsträchtige Frage meint in aller Kürze das Verständnis – und die Auseinandersetzung der zionistischen Bewegung mit – der Frage des Territoriums für die jüdische Nationalstaatlichkeit, ein Territorium, das jedoch bereits von einem anderen Volk besiedelt war und noch immer ist: das historische Palästina. Vom Zionismus wurde es schon immer als Eretz Israel bezeichnet und als Land des jüdischen Volkes verstanden. Bekanntlich hat Israel ebendieses Verständnis vom Territorium im Jahre 1948 übernommen, was seine politische Ordnung tief greifend prägen sollte. Nicht zuletzt deshalb geriet das Land am Scheideweg 2000 in die tiefste Sinnkrise seiner Geschichte. Mit dem Ausbruch der Zweiten Intifada sah sich Israel nicht nur weit entfernt vom erhofften »finalen Friedensvertrag«, der das linkszionistische Staatsprojekt quasi vollenden hätte sollen. Vielmehr war das Land höchst besorgt um das gesamte Staatsprojekt, sah sich unmittelbar bedroht und führte nicht zuletzt deshalb einen präzedenzlos heftigen »Krieg um die Heimat«.4 Diese zionistische Heimat stand Ende 2000 gefühlsmäßig auf der Kippe, weshalb gerade im Zuge des damaligen zähen Waffenganges das Land massiv nach rechts rückte, da sich immer mehr jüdische Israelis auf die vertraute, altgediente Staatsideologie zurückbesannen. Den Zionismus als die ultimative Antwort auf Israels vertrackte Problemlage bot eben eine neozionistische Bewegung, welche »sämtliche Gefahren« für das zionistische Israel – ob es sich hierbei um den Friedensprozess, die Friedensideologie oder den sich anbahnenden Postzionismus handelte – ebenso entschlossen wie erbarmungslos bekämpfte. Der Neozionismus konnte sich nur deshalb immer mehr durchsetzen, weil »die ultimative zionistische Lösung« sowohl sicherheitspolitisch als auch im Sinne des Siedlungsprojekts in den besetzten Gebieten ohnehin die einzig vertraute, die einzig relevante für Israels...