Aldersey-Williams Flut
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25614-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das wilde Leben der Gezeiten
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-446-25614-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Hälfte der Menschheit lebt an Küsten – trotzdem wissen wir wenig über die Elementarkraft der Gezeiten. Und das obwohl deren physische Präsenz uns seit jeher beeinflusst und vielleicht sogar unsere DNA miterschaffen hat. Schon Aristoteles brachte ihre Unberechenbarkeit zur Weißglut, und ihre potenziell zerstörerische Kraft wird die Menschheit auch in Zukunft betreffen. Hugh Aldersey-Williams beschreibt, wie der Mensch die Gesetze erforscht, denen das Wasser – und damit auch das Klima – unterworfen ist. Leichtfüßig verbindet er die Wissenschaft von Ebbe und Flut mit großen Erzählungen und Mythen. Nehmen Sie Platz, das maritime Drama mit einer Länge von 12 Stunden und 30 Minuten beginnt.
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EIN BLICK AUF ENTSPANNTE GEZEITEN
Dreizehn Stunden
Blakeney, Norfolk HW* NW** HW NW 4. September 2013 05:57 18:27 3,0 m 2,9 m * Hochwasser ** Niedrigwasser Zugegeben, es ist eine kauzige Idee, zwölf oder dreizehn Stunden lang aufs Meer zu schauen. Dem Gras beim Wachsen zuzusehen ist interessanter, werden Sie sagen. Aber ich lasse mich nicht abhalten. Ich weiß auch nicht, was mich erwartet, aber ich werde alles sorgfältig aufschreiben. Ich weiß wirklich nicht, was mich erwartet, und genau deshalb reizt es mich. Zuerst musste ich mich entscheiden, wo ich dieses kleine Experiment denn durchführen wollte. An der britischen Küste sind die Gezeiten überall mächtig am Werk. Ich lebe in Norfolk, einer fast schon unanständig weit in die Nordsee hinausragenden Grafschaft. Wenn auf alten Landkarten Großbritannien als Person dargestellt ist, ist Norfolk meist der dicke Bauch. Entsprechend ausgedehnt ist die Küste, und so fiel mir die Wahl nicht leicht. Ich dachte an Blakeney Quay. Dort hatte ich einmal beobachtet, dass das Wasser so schnell die Flussbiegung hinauflief (sicher drei Meter pro Sekunde, wie ich an vorbeischwimmendem Gras ablas), dass es feste hölzerne Dalben richtig durchschüttelte. Doch gab es dort zu viele Touristen. Irgendjemand würde mich dauernd ablenken. Deshalb suchte ich mir eine Stelle ein oder zwei Kilometer weiter aus, wo mich niemand stören würde. Es hätte natürlich auch viele andere schöne Möglichkeiten gegeben: den Tidefluss Yar, der die Isle of Wight, wo ich meine Kindheit verbrachte, praktisch in zwei Teile teilt. Griswold Point an der Mündung des Connecticut River, wo mich mein amerikanischer Cousin hinführte und wo wir zuschauten, wie die seltenen Gelbfuß-Regenpfeifer ihre Nestmulden in den Sand scharrten. Viele der verlassenen Strände, die ich vor Jahren an der Route 101 sah, als ich durch Oregon Richtung Süden fuhr. Die Hafenstadt Cádiz, die dank ihrer Lage auf einer atlantischen Halbinsel schon den Phöniziern als Hafen diente und wo sich die streunenden Katzen auf dem Wellenbrecher treffen. Oder auch Cape Trafalgar, jenen sandüberwehten Strand, wo ich einmal darüber meditierte, wie der Norfolker Seeheld Horatio Nelson die spanische Flotte besiegte. Am Ende blieb ich aber in meiner Heimat. Die Küstenlandschaft ist hier größtenteils flach. Tiefliegende Weideflächen gehen in breite Salzmarschen über, die von einem Labyrinth schlickiger Priele und Wasserläufe, durchzogen werden, bis schließlich Dünen und Kies den Meeresstrand bilden. Diese Szenerie ist ganz anders als zum Beispiel die ins Gediegene gewendete Erhabenheit des Strandes in Lyme Regis, die Jane Austen in Persuasion (Überredung) beschreibt: »Mit seinen vielen kleinen Felsen ist der Strand ideal für die Beobachtung der Gezeiten.« Mich erwartet eher das, was George Crabbe in »The Borough«, einem epischen Gedicht über das Leben in East Anglia, beschreibt: »entspannte Gezeiten, die durch heiße Schlickkanäle langsam gleiten«. Aus mir würde, wie bei Charles Dickens in Our mutual friend (Unser gemeinsamer Freund), eines jener »amphibienähnlichen Menschenwesen, die die undurchsichtige Fähigkeit besitzen, aus der Gezeitenströmung nur dadurch Kraft zu saugen, dass sie sie betrachten.« Für viele Autoren sind Ebbe und Flut offenbar so etwas wie das Pendel eines Hypnotiseurs. Der Beobachter gerät in einen Traumzustand, der sich zur gefährlichen Trance steigern kann. Ich musste aufpassen, nicht zum Tagträumer zu werden, wenn ich dem endlosen Kommen und Gehen des Meeres etwas Sinnvolles abgewinnen wollte. Als Nächstes musste ich mir eine geeignete Jahres- und Tageszeit für meine kleine Studie aussuchen. Die Gezeiten sind immer in Bewegung, aber sie werden von astronomischen Faktoren beeinflusst, die wiederum eigenen, komplexen zeitlichen Rhythmen unterworfen sind. Ich wollte auf dem Marschland weder erfrieren noch verbrutzeln, vor allem aber wollte ich die für meine Beobachtungen nötigen dreizehn Stunden bei Tageslicht verbringen. Denn so lange dauert ein ganzer Gezeitenzyklus von Hoch- zu Hoch- beziehungsweise Niedrig- zu Niedrigwasser, und zwar überall auf der Welt. Also kamen nur die Monate März bis September infrage, wenn die Tage lang genug sind. Außerdem wollte ich einen einigermaßen typischen Gezeitenverlauf beobachten und keine Extreme, die mich bei auflaufendem Wasser von meinem Aussichtspunkt fortspülten oder so mager wären, dass mir kaum etwas auffiele. Bei jeder Spanne von dreizehn Stunden würde ich ein Hochwasser und ein Niedrigwasser sehen, einmal Ebbe und einmal Flut. Aber an welchem Punkt des Zyklus sollte ich anfangen? Das war natürlich vor allem eine Frage der künstlerischen Vorlieben eines Geschichtenerzählers. Bei einem der Extreme zu beginnen, hätte etwas Melodramatisches. Eine etwas eigenartige Logik sagte mir, dass Niedrigwasser der naheliegende Einstieg wäre: Immerhin sind auch eine Badewanne und ein Eimer zuerst leer, und unser Umgang mit ihnen beginnt damit, dass wir sie füllen. Der Eindruck der Flut wäre besonders augenfällig. Ich könnte zuschauen, wie sie in die kleinen Priele dringt, müsste dann aber auch verfolgen, wie das Wasser wieder abläuft, und irgendetwas daran störte mich. Ich könnte auch bei Hochwasser anfangen. Aber auch das kam mir unangemessen vor. Ich würde zwar aufhören, wenn es am schönsten ist, aber ich müsste mit dem Abschied dessen beginnen, worum es in meiner Geschichte geht. Wenn sofort das Wasser ablaufen würde, käme vielleicht auch meine Erzählung vorschnell zu einem Ende. Letztlich hatte ich weniger Auswahlmöglichkeiten, als ich dachte. Laut Gezeitentafel war der Tidenhub nur an relativ wenigen Tagen so, wie ich ihn mir wünschte, und wenn ich ausreichend Sonnenstunden und gute Wetterverhältnisse haben wollte, aber keine Wochenendausflügler oder Schulklassen, blieben immer weniger Tage übrig. Ich entschied mich für einen, an dem sich der Wasserablauf bei Sonnenaufgang gerade beschleunigen würde. Mein Tag als Beobachter würde also etwa eine Stunde nach dem Hochwasser beginnen, in ruhiger, erwartungsvoller Atmosphäre. Vormittags würde die Ebbe schlickiges Watt zum Vorschein bringen. Die Flut käme spät, als willkommener Höhepunkt. Wenn ich eine oder zwei Stunden nach dem Hochwasser anfinge, würde ich die ganze folgende Flut erleben und dann gerade noch den Anfang der nächsten Ebbe. Damit hätte ich gesehen, dass der Gezeitenzyklus bei Hochwasser nicht wirklich zu einem klaren Gipfelpunkt kommt, wie wir allzu leicht denken, sondern dass es sich um einen unendlichen Vorgang handelt, bei dem kein einzelner Augenblick wichtiger ist als die anderen. Meinen Tag musste ich gut vorbereiten. Ich wollte möglichst viel von dem beobachten, was mit den Gezeiten zu tun hat: Veränderungen des Wassers selbst, der von ihm beeinflussten Pflanzen, der Tiere, wie sie kommen und gehen, auch der Menschen, die sich die Gezeiten zunutze machen. Meine Liste der dazu nötigen Dinge wurde schnell länger: Fotoapparat, Notizbuch, Millimeterpapier, Vergrößerungsglas, kleine Tüten für Pflanzen. Und auch ein alter Windsurfmast aus Fiberglas, den ich in einen Tidenmesser verwandelte, indem ich ihn in Abständen von zehn Zentimetern mit wasserfestem Klebeband umwickelte. Ich schnallte mir sogar mein Kanu aufs Autodach, für den Fall, dass ich die mich umfließenden Geheimnisse durch einen Vorstoß aufs Wasser näher erkunden wollte. Es war meine Absicht, ein unermüdlicher Beobachter zu sein, aber ich stellte mich darauf ein, dass auch immer wieder längere Zeit wenig passieren würde. Deshalb packte ich das Oxford Book of the Sea ein. Es enthielt Auszüge aus vielen Werken, mit denen ich mich vertraut machen musste, von Rachel Carsons The Sea Around Us (Wunder des Meeres) bis zu Matthew Arnolds allegorischem Gedicht »Dover Beach«. Diese Gedichte und Prosastücke sollten mich immer wieder an den Hauptstrom erinnern, mit dem meine unbedeutenden gedanklichen Priele durch die Gezeiten auf ewig verbunden blieben. Erste Ebbe
Eines warmen Septembermorgens kurz nach Sonnenaufgang komme ich also auf dem Marschland an. Die Sonne scheint und hat den leichten Morgennebel schon aufgelöst. Ein sanfter südlicher Wind macht sich auf dem Wasser bemerkbar. Auf den Zuflüssen eines größeren Wasserlaufs kann ich an der Bewegung jenes leichten Films an der Wasseroberfläche ablesen, dass die Ebbe begonnen hat. Ich postiere mich an einer Holzbrücke über einem Priel und richte meine Messlatte ein, indem ich den Mastfuß ins Wasser stoße, bis ich spüre, wie er den Grund erreicht. Das obere Ende binde ich am Geländer der Brücke fest. Die erste Messung ergibt, dass das Wasser um 7:15 Uhr 2,02 Meter tief ist. Dann suche ich mir eine Stelle, von der aus ich Fotos machen kann. Im Sucher sehe ich einen Priel, der sich von meinem Beobachtungspunkt aus in den Hauptarm entleert, und Ufer, Brücke und mein Messinstrument. Im Vordergrund ruht ein kleines Boot, das hier schon so lange liegt, dass es von Flechten überwachsen ist. Im Lauf der nächsten Minuten bemerke ich, wie das ablaufende Wasser an Fahrt gewinnt. Der Wind weht in den Priel und kräuselt das Wasser, sodass der Eindruck eines glatten Wasserlaufs der Vergangenheit angehört. Ich hatte vor, ungefähr...