Akunin | Der Magier von Moskau | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 9, 304 Seiten, E-Book Epub

Reihe: Fandorin ermittelt

Akunin Der Magier von Moskau

Roman

E-Book, Deutsch, Band 9, 304 Seiten, E-Book Epub

Reihe: Fandorin ermittelt

ISBN: 978-3-8412-0162-1
Verlag: Aufbau digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Fandorin ermittelt im Selbstmörder-Club 

Moskau 1900: Die schöne Colombina trägt eine lebende Natter um den Hals und schreibt blumige Gedichte. Die Sehnsucht nach einem Leben voller Leidenschaft hat sie nach Moskau geführt. Bald schon ist sie die Geliebte von Prospero, der einem geheimen Club von Todesanbetern vorsteht. Einer nach dem anderen folgt hier dem Ruf ins Jenseits und begeht Selbstmord. Doch wollten all diese jungen Menschen wirklich sterben? Ein Mann, der sich Prinz Gendsi nennt und einen japanischen Diener hat, erscheint im Club und stellt seltsame Fragen. 

FAZ 

Wladimir Kaminer



Boris Akunin ist das Pseudonym des Moskauer Philologen, Kritikers, Essayisten und Übersetzers Grigori Tschchartischwili (geboren 1956). 1998 veröffentlichte er seine ersten Kriminalromane, die ihn in kürzester Zeit zu einem der meistgelesenen Autoren in Russland machten. Heute genießt er in seiner Heimat geradezu legendäre Popularität. 2001 wurde er dort zum Schriftsteller des Jahres gekürt, seine Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt. 'Ich spiele leidenschaftlich gern. Früher habe ich Karten gespielt, dann strategische Computerspiele. Schließlich stellte sich heraus, dass Krimis schreiben noch viel spannender ist als Computerspiele. Meine ersten drei Krimis habe ich zur Entspannung geschrieben ... ' Akunin in einem Interview mit der Zeitschrift Ogonjok Mehr zum Autor unter www.akunin.ru.
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Weitere Infos & Material


1;ERSTES KAPITEL;6
2;ZWEITES KAPITEL;76
3;DRITTES KAPITEL;142
4;VIERTES KAPITEL;184
5;FÜNFTES KAPITEL;224
6;SECHSTES KAPITEL;260


2.
Aus dem Tagebuch von Colombina


Sie traf an einem stillen fliederblauen Abend in der STADT DER TRÄUME ein

Alles war beizeiten bis ins kleinste bedacht worden.

Als Marja auf dem Rjasaner Bahnhof aus dem Irkutsker Zug gestiegen war, blieb sie einen Moment stehen, kniff die Augen zu und sog den Geruch von Moskau ein – es roch nach Blumen, Schmieröl, Kringeln. Dann öffnete sie die Augen und deklamierte so laut, daß es den Bahnsteig entlangschallte, den Vierzeiler, den sie drei Tage zuvor geschrieben hatte, als der Zug die Grenze zwischen Asien und Europa überquerte.

In der Tiefe schäumendes Gähnen

Zertrümmert im Schiffsunglück

Ohne Worte, Bedauern und Tränen

Im Fallen, im Flug – kein Zurück!

Nach dem tönenden Fräulein mit dem dicken Zopf drehte man sich um, neugierig oder mißbilligend, und ein kleiner Kaufmann tippte sich gar mit dem Finger an die Schläfe. Gleichwohl darf Maschas erste im Leben, wenn es auch nur eine winzige war, als gelungen gelten. Warten Sie ab, was noch kommt.

Die Handlung war symbolisch, mit ihr begann eine neue Epoche, die riskant und rigoros war.

Abgereist war sie in aller Stille, ohne jede Öffentlichkeit. Für Papa und Mama hatte sie auf dem Tisch im Salon einen überlangen Brief zurückgelassen. Darin versuchte sie alles zu erklären – das neue Jahrhundert, die Unmöglichkeit ihres Dahinvegetierens in Irkutsk, die Poesie. Die Blätter waren mit ihren Tränen beträufelt, doch die Eltern würden es nicht verstehen. Wäre Mascha einen Monat eher geflohen, vor ihrem Geburtstag, so wären sie zur Polizei gelaufen, um die entwichene Tochter mit Gewalt zurückholen zu lassen. Nun aber hatte Marja Iwanowna Mironowa die Volljährigkeit erreicht und konnte ihr Leben nach eigenem Gutdünken gestalten. Auch über ihr Erbe, das die Tante ihr vermacht hatte, durfte sie nun frei verfügen. Das Kapital war nicht groß, nur fünfhundert Rubel, doch für ein halbes Jahr reichte es selbst in dem bekanntermaßen kostspieligen Moskau, und für eine längere Frist vorauszuplanen war abgeschmackt und phantasielos.

Sie nannte dem Kutscher das Hotel »Elysium«, von dem sie schon in Irkutsk gehört und dessen quecksilbrig perlender Name sie bezaubert hatte.

Während der Fahrt blickte sie immerzu auf die großen Steinhäuser und auf die Ladenschilder und fürchtete sich schrecklich. Die Stadt war riesig, eine Million Einwohner, und keiner von ihnen, interessierte sich für sie, für Mascha Mironowa.

Warte nur, drohte sie der STADT, du wirst mich noch kennenlernen. Ich werde dir Begeisterung und Zorn abringen, und deine Liebe brauche ich nicht. Selbst wenn du mich zermalmst zwischen deinen steinernen Kiefern, egal. Einen Weg zurück gibt es nicht.

Sie wollte sich selber Mut machen, wurde aber immer zaghafter.

Und vollends ließ sie den Kopf sinken, als sie die elektrisch angestrahlte Kristall- und Bronzepracht in der Hotelhalle des »Elysium« sah. Sie schämte sich, während sie sich in das Registrierbuch eintrug und »Marja Mironowa, Oberoffizierstochter« schrieb, obwohl sie sich einen besonderen Namen hatte geben wollen, Annabella Grey oder einfach Colombina.

Na wenn schon, Colombina würde sie ab morgen heißen, nachdem sich der graue Provinzfalter in einen buntgeflügelten Schmetterling verwandelt hatte. Dafür hatte sie das teuerste Zimmer genommen, mit Blick auf den Fluß und den Kreml. Mochte die Nacht in dieser vergoldeten Bonbonniere auch fünfzehn Rubel kosten! An das hier würde sie sich bis ans Ende ihrer Tage erinnern. Und gleich morgen würde sie sich nach einer schlichteren Bleibe umsehen. Eine Mansarde sollte es sein, vielleicht gar eine Bodenkammer, damit niemand in Filzpantoffeln über ihrem Kopf herumschlurfen konnte, sondern nur das Dach über ihr wäre, auf dem graziöse Katzen schlichen, und weiter oben der schwarze Himmel und die gleichgültigen Sterne.

Mascha blickte eine Weile auf den Kreml und packte ihre Koffer aus, dann setzte sie sich an den Tisch, schlug das in Saffian gebundene Heft auf, dachte, am Bleistift knabbernd, ein Weilchen nach und schrieb:

»Heutzutage führen alle Tagebuch, alle wollen bedeutender erscheinen, als sie sind, wollen vor allem das Sterben besiegen und über den Tod hinaus leben, und sei es in Form eines in Saffian gebundenen Hefts. Allein das sollte mich davon abhalten, ein Tagebuch zu führen, habe ich doch schon vor einer ganzen Weile, am ersten Tag des neuen, zwanzigsten Jahrhunderts beschlossen, Und doch sitze ich da und schreibe. Aber das wird kein sentimentales Seufzen sein, mit gepreßten Vergißmeinnicht zwischen den Seiten, sondern ein richtiges Kunstwerk, wie es das bisher in der Literatur nicht gegeben hat. Ich schreibe Tagebuch nicht, weil ich den Tod fürchte oder etwa fremden Menschen gefallen will, die irgendwann diese Zeilen lesen. Was kümmern mich die Menschen, ich kenne sie nur zu gut und verachte sie. Und den Tod fürchte ich überhaupt nicht. Warum sollte ich, wo er doch ein natürliches Gesetz des Daseins ist? Alles, was geboren wurde, also einen Anfang hat, muß früher oder später auch ein Ende finden. Da ich, Mascha Mironowa, vor einundzwanzig Jahren und einem Monat zur Welt gekommen bin, wird unumstößlich auch der Tag kommen, an dem ich diese Welt verlasse, daran ist nichts Besonderes. Ich hoffe nur, daß dies geschieht, bevor sich mein Gesicht mit Runzeln überzieht.«

Sie überlas das Geschriebene, verzog das Gesicht und riß das Blatt heraus.

Was war das schon für ein Kunstwerk? Viel zu platt, zu fad, zu gewöhnlich. Sie mußte lernen, ihre Gedanken (für den Anfang zumindest auf dem Papier) feinsinnig, wohlduftend, berauschend darzulegen. Die Ankunft in Moskau galt es ganz anders zu beschreiben.

Mascha dachte wieder nach und knabberte dabei nicht am Bleistift, sondern an ihrem üppigen goldblonden Zopf. Dann neigte sie den Kopf wie eine Gymnasiastin und schrieb:

»Colombina traf an einem stillen fliederblauen Abend in der STADT DER TRÄUME ein, beim letzten Seufzer eines trägen, langen Tages, den sie am Fenster eines pfeilgeschwinden Eilzugs verbracht hatte, an dunklen Wäldern und hellen Seen vorbeifahrend, ihrem Schicksal entgegen. Ein günstiger Wind, wohlgesonnen jenen, die verstreut über das silbrige Eis des Lebens gleiten, hatte Colombina ergriffen; die langersehnte Freiheit lockte die leichtsinnige Abenteurerin, breitete über ihrem Kopf die durchscheinenden Flügel.

Der Zug brachte die blauäugige Reisende nicht ins quirlige Petersburg, sondern ins traurige und geheimnisvolle Moskau, in die STADT DER TRÄUME, die einer lebenslang ins Kloster eingesperrten Zarin glich, von einem launischen, leichtfertigen Herrscher, der statt ihrer eine kalte, schlangenäugige Heuchlerin zur Frau genommen. Mochte die neue Zarin den Ball im Marmorpalast anführen, dessen Spiegel die Wasser der Ostsee reflektierten. Die Verlassene weinte sich derweil die hellen, klaren Augen aus, und als ihre Tränen versiegten, schickte sie sich in ihr Los, verbrachte die Tage am Spinnrad und die Nächte im Gebet. Ich bin mit ihr, der Verlassenen, Ungeliebten, nicht mit der anderen, die siegreich ihr gepflegtes Antlitz der matten nördlichen Sonne entgegenreckt.

Ich bin Colombina, unbedarft und unberechenbar, untertan lediglich der Laune meiner wunderlichen Phantasie und dem Wehen des übermütigen Windes. Habt Mitgefühl mit dem armen Pierrot, dem das bittere Los zufallen wird, sich in meine bonbonsüße Schönheit zu verlieben, denn es ist mein Schicksal, ein Spielzeug zu sein in den Händen des tückischen Betrügers Arlecchino, um hernach zerbrochen am Boden zu liegen, eine Puppe mit unbekümmertem Lächeln auf dem Porzellangesichtchen …«

Wieder überlas sie das Geschriebene, und jetzt war sie zufrieden, schrieb aber nicht weiter, denn sie dachte über Arlecchino nach, Petja Lilejko (Li-lej-ko – welch luftiger, lustiger Name, wie ein Glöckchenklang oder ein Tropfenschauer im Frühling!). Er war tatsächlich im Frühling gekommen, war in das Irkutsker Nicht-Leben eingebrochen wie ein Rotfuchs in einen schläfrigen Hühnerstall, hatte sie verzaubert mit seinen auf die Schultern niederwallenden feuerroten Locken, dem weiten Hemd und den betörenden Gedichten. Früher hatte Mascha nur darüber geseufzt, daß das Leben ein hohler und dummer Scherz sei, doch er sagte lässig, als sei das selbstverständlich, wahre Schönheit sei nur im Verwelken, Erlöschen, im Sterben. Die Provinzträumerin begriff: Ach, wie recht er hat! Wo wäre sonst noch Schönheit? Doch nicht im Leben! Was kann im Leben Schönes sein? Einen Steuerinspektor heiraten, einen Haufen Kinder gebären und mit sechzig mit einem Häubchen auf dem Kopf am Samowar hocken?

Am Hochufer, bei der Laube, küßte der Moskowiter Arlecchino das vergehende Fräulein und raunte: »Aus dem blassen und zufälligen Leben mache ich ein Beben ohne Ende.« Und da war die arme Mascha vollends verloren, denn sie hatte begriffen: Das ist es. Ein schwereloser Schmetterling werden, der mit den regenbogenfarbigen Flügelchen flattert, und nicht an den Herbst denken.

Nach dem Kuß bei der Laube (weiter war nichts) stand sie lange vor dem Spiegel, betrachtete ihr Bild und haßte es: das runde, rosige Gesicht, den albernen dicken Zopf. Und diese gräßlichen rosa Ohren, die bei der kleinsten Erregung glühten wie Mohn!

Nachdem Petja die Ferien bei seiner Großtante, der Vizegouverneurswitwe, verbracht hatte, fuhr er mit dem Transkontinentalzug wieder zurück, und Mascha zählte die Tage, die noch bis zu ihrer Volljährigkeit blieben – genau hundert, so viele wie Napoleon nach Elba...


Reschke, Thomas
Thomas Reschke, geboren 1932, Lektor, Redakteur und Übersetzer, übertrug etwa 150 Werke aus dem Russischen ins Deutsche, darunter Bulgakow, Pasternak, Jewtuschenko. 2000 Bundesverdienstkreuz, 2001 Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen, 2002 Dankurkunde des russischen Kulturministers.

Akunin, Boris
Boris Akunin ist das Pseudonym des Moskauer Philologen, Kritikers, Essayisten und Übersetzers aus dem Japanischen Grigori Tschchartischwili (geb. 1956). 1998 veröffentlichte er seine ersten Kriminalromane, die ihn in kürzester Zeit zu einem der meistgelesenen Autoren in Russland machten. Heute genießt er in seiner Heimat geradezu legendäre Popularität. 2001 wurde er dort zum Schriftsteller des Jahres gekürt, seine Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt.

Bei Aufbau erschienen bisher Fandorin (2001), Türkisches Gambit (2001), Mord auf der Leviathan (2002), Der Tod des Achilles (2002), Russisches Poker (2003), Die Schönheit der toten Mädchen (2003), Der Tote im Salonwagen (2004), Die Entführung des Großfürsten (2004), Der Magier von Moskau (2005), Die Liebhaber des Todes (2005), Die Diamantene Kutsche (2006), Das Geheimnis der Jadekette (2008), Das Halsband des Leoparden (2009) und Die Moskauer Diva (2011).

“Ich spiele leidenschaftlich gern. Früher habe ich Karten gespielt, dann strategische Computerspiele. Schließlich stellte sich heraus, dass Krimis schreiben noch viel spannender ist als Computerspiele. Meine ersten drei Krimis habe ich zur Entspannung geschrieben ... “ Akunin in einem Interview mit der Zeitschrift Ogonjok


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