E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Akhtar Himmelssucher
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-09027-2
Verlag: carl's books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-09027-2
Verlag: carl's books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Geschichte von Verblendung, Schuld und der Hoffnung auf Versöhnung
Milwaukee, Ende der siebziger Jahre: Hayat ist zehn Jahre alt, als Mina, die Jugendfreundin seiner Mutter, aus Pakistan nach Amerika kommt. Zwischen der schönen wie klugen Frau und dem verschlossenen Jungen entsteht eine innige Beziehung. Mina ist ihrem neuen Leben gegenüber aufgeschlossen, fühlt sich ihrer Kultur und ihrem Glauben aber weiter eng verbunden. So ist sie es auch, die Hayat mit dem Koran vertraut macht. Doch niemand, am allerwenigsten Mina selbst, ahnt, welch tiefgreifenden Einfluss dies auf den Teenager hat.Als Mina sich in Nathan Wolfsohn verliebt, sieht Hayat seine Welt und alles, was ihm wichtig scheint, bedroht. Aus Eifersucht und Angst begeht er einen ungeheuerlichen Verrat. Zu spät begreift er, welche Katastrophe er damit über diejenigen heraufbeschwört, die er am meisten liebt.Mit diesem bewegenden Familiendrama ist Ayad Akhtar ein überaus beeindruckender Debütroman gelungen. Klar und einfühlsam zeichnet er seine Figuren, ihre innere Zerrissenheit, ihre Sehnsüchte und Enttäuschungen. Er erzählt von Verblendung und Schuld, ohne zu verurteilen - und von der Hoffnung, dass Versöhnung möglich ist.
Ayad Akhtar, Jahrgang 1970, ist in Amerika geboren und aufgewachsen, seine Eltern stammen aus Pakistan. Er ist Schauspieler, Drehbuch- und Bühnenautor und wurde für seine Texte bereits mehrfach ausgezeichnet.
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PROLOG: 1990 Es war der Wendepunkt in meinem Leben, und ich erinnere mich daran, als wäre es erst gestern gewesen. Die Halle glühte, honigfarben schimmerte der Holzboden im Licht der Scheinwerfer unter der Decke. Am Spielfeldrand drängten sich die Spieler um ihre Trainer, dahinter wir, die tobenden Zuschauerreihen, die es kaum erwarten konnten, dass die Auszeit zu Ende ging. Einige Reihen unter uns entdeckte ich den Verkäufer, einen untersetzten Typen mit Schwabbelhüfte und rotbraunem Pferdeschwanz, der ihm hinten aus der orange-schwarzen Kappe hing – das waren die Farben unseres College. »Wiener, Bratwürste!«, rief er. »Wiener, Bratwürste!« Ich hob die Hand. Er nickte mir zu, während er drei Reihen unter uns stehen blieb und einen anderen Kunden bediente. Ich fragte meine beiden Kumpel neben mir, ob sie was wollten. Bier und Bratwurst, antwortete jeder. »Glaube kaum, dass er Bier hat«, erwiderte ich. Unten kehrten die Spieler aufs Feld zurück und nahmen für die letzten Minuten der Spielhälfte ihre Positionen ein. Die Zuschauer sprangen von den Sitzen. Der Verkäufer gab das Wechselgeld heraus, schob sich den Metallkasten auf die Hüfte, stieg die Stufen herauf und wartete am Rand unserer Reihe. »Gibt es auch Bier?«, fragte einer meiner Freunde. »Nur Wiener und Bratwürste.« »Dann zwei Hotdog mit Bratwurst und einen mit Wiener«, sagte ich. Er nickte, öffnete den Deckel seines Kastens und fasste hinein. Ich zückte die Brieftasche und wischte die Geldscheine zur Seite, die meine Kumpel mir hinhielten. Der Verkäufer reichte mir drei Päckchen, die sich weich und warm anfühlten. »Wiener ist oben. Macht neun Dollar.« Ich gab die Bratwürste weiter und zahlte. Die Menge johlte, unsere Mannschaft hatte den Ball und näherte sich dem Korb. Ich wickelte den Hotdog aus, aber im Brot steckte keine Rinder-Wiener, sondern eine marmorierte, braun-weiße Bratwurst aus Schweinefleisch. »He, hat einer von euch meine Wiener?«, schrie ich im Lärm der Menge meinen Kumpel zu. Beide schüttelten den Kopf. Auch sie hatten Bratwürste. Ich drehte mich um und wollte dem Verkäufer schon nachrufen, ließ es dann aber sein. Welchen Grund gab es denn, die Wurst nicht zu essen? Überhaupt keinen. Wieder kam unsere Mannschaft vor den Korb, der Spieler wurde gefoult. Der Lärm nach dem Pfiff war ohrenbetäubend. Ich hob die Wurst an den Mund, schloss die Augen, biss ab und kaute. Mein Herz raste, während sich mein Mund mit einem süßen, rauchigen, leicht beißenden Geschmack füllte, der mir absolut bemerkenswert vorkam – was vielleicht auch daran lag, dass er mir so lange verboten gewesen war. Ich kam mir mutig und lächerlich zugleich vor. Und als ich schluckte, überkam mich eine gespenstische Ruhe. Ich sah zur Decke hinauf. Sie war noch da. Nichts deutete darauf hin, dass sie jeden Moment einstürzen würde. Nach dem Spiel ging ich allein über den Campus, die Lampen an den Wegen leuchteten im Nebel, weiße Blüten an einem milden Novemberabend. Ich fühlte mich lebendig. Frei, zu tun und zu lassen, was ich wollte. Richtig aufgekratzt. Im Wohnheim stand ich vor dem Badezimmerspiegel. Meine Schultern waren anders. Nicht eingefallen, sondern gerade. Ohne Last. Ich musterte meine Augen, und in meinem Blick sah ich, was ich fühlte: eine starke, stille Entschlossenheit. Ich fühlte mich als ganzer Mensch. In jener Nacht schlief ich tief und fest wie ein Baby in den Armen seiner Mutter. Als ich endlich den Wecker hörte, war es schon Viertel vor neun. Sonnenlicht flutete ins Zimmer. Es war Donnerstag, das hieß, in einer Viertelstunde begann Professor Edelsteins Vorlesung über die Geschichte des Islam. Ich schlüpfte in die Jeans und zuckte zusammen beim prickelnden Gefühl, das die neue Hose auf meiner Haut hinterließ. Das Wunder des vergangenen Abends entfaltete anscheinend immer noch seine Wirkung. Draußen war es ungewöhnlich warm und windig. Ich eilte zur Student Union hinüber, besorgte mir einen Becher Tee, lief dann, den Koran unter den Arm geklemmt, weiter zur Schirmer Hall und verschüttete dabei die heiße Flüssigkeit. Ich wollte nicht zu spät zu Edelsteins Vorlesung kommen und mir auf jeden Fall einen Platz ganz hinten sichern, nahe am Fenster, das er immer gekippt ließ, wo ich für mich sein und in aller Ruhe nachdenken konnte, wenn der klein gewachsene, charismatische Edelstein allwöchentlich das zertrümmerte, was vom Glauben meiner Kindheit noch übrig war. Und noch etwas zog mich in die letzte Reihe. Rachel saß dort. Professor Edelstein war wie immer in seinem förmlich-frischen pastellfarbenen Sammelsurium erschienen, das diesmal aus einem tadellos gebügelten malvenfarbenen Hemd bestand, gekrönt und am Kragen zusammengehalten von einer roséfarbenen Fliege, dazu Hosenträger, die zum kastanienbraunen Farbton seiner frisch gewienerten Collegeschuhe passten. Er begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln. »Guten Tag, Hayat.« »Guten Tag, Professor.« Ich schlängelte mich zwischen den Tischen zu meinem angestammten Platz in der Ecke, wo die wunderbare Rachel an einem Keks knabberte. »Hallo.« »Hallo auch.« »Wie war das Spiel?« »Gut.« Sie nickte. Dann lächelte sie verhalten, während sie mir in die Augen sah. Blicke wie diese – wenn ihre hellblauen Augen funkelten – hatten mich am Vorabend tatsächlich das Wagnis eingehen lassen, sie zum Spiel einzuladen. Das ganze Semester hatte ich sie schon bitten wollen, mit mir auszugehen, und als ich mich schließlich dazu durchringen konnte, sagte sie, sie müsse lernen. »Willst du mal?«, fragte sie. »Es sind Hafermehlkekse mit Rosinen.« »Klar.« Sie brach eine Ecke ab und reichte sie mir. »Hast du dich vorbereitet?«, fragte sie. »War nicht nötig.« »Warum nicht?« »Ich kannte die Suren schon, ich musste sie nicht mehr lesen … Ich kann sie auswendig.« »Ach?« Rachel machte große Augen. »Ich hab das Zeug mal auswendig gelernt«, erklärte ich. »Manche muslimische Kinder unterziehen sich dieser Tortur. Sie lernen den ganzen Koran auswendig … Damit sie ein Hafiz werden.« »Echt?« Sie war beeindruckt. Ich zuckte mit den Schultern. »An viel kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber an die Suren, die wir für heute lesen sollten …« Edelstein begann mit seinem Vortrag. »Ich gehe davon aus, dass Sie alle Ihrer Lektüre nachgekommen sind. Wir werden uns heute nicht direkt damit beschäftigen, auch wenn es ganz offensichtlich sehr wichtig ist. Man kann sich am Koran die Zähne ausbeißen, und je mehr wir in diesem Semester schaffen, umso besser.« Er hielt inne und ordnete die vor ihm liegenden Blätter. Rachel bot mir den Rest ihres Kekses an. »Willst du?«, flüsterte sie. »Klar«, sagte ich und nahm ihn. »Heute möchte ich von der Arbeit erzählen, der augenblicklich einige meiner Kollegen in Deutschland nachgehen. Ich kann Ihnen keine Texte zu ihren Forschungen zur Verfügung stellen, weil alles noch sehr neu ist. Es gehört mit zum Aktuellsten in der Islamwissenschaft …« Erneut hielt Edelstein inne, suchte Blickkontakt mit den Studenten muslimischer Abstammung – es waren insgesamt drei – und fügte vorsichtig hinzu: »Und was ich Ihnen mitzuteilen habe, könnte für manche von Ihnen vielleicht ein Schock sein.« So begann er seinen Vortrag über die Sana’a-Handschriften. 1972 stießen Arbeiter bei der Restaurierung der Großen Moschee in der jemenitischen Stadt Sana’a in einem Hohlraum zwischen Dach und Decke auf unzählige Pergament- und Papierfragmente. Es handelte sich dabei um eine Art Büchergrab, in dem Muslime – denen es verboten ist, den Koran zu verbrennen – beschädigte oder abgegriffene Ausgaben ihres heiligen Buches deponieren. Die Arbeiter stopften die gefundenen Manuskripte damals in Kartoffelsäcke, die anschließend weggesperrt wurden, bis etwa sieben Jahre später einer von Edelsteins engen Freunden – ein Kollege – gebeten wurde, sich die Dokumente genauer anzusehen. Was er entdeckte, war einzigartig: Die Pergamentmanuskripte datierten aus den ersten beiden islamischen Jahrhunderten, es waren Fragmente der ältesten noch existierenden Koranausgaben. Das Schockierende daran allerdings war, sagte uns Edelstein, dass die Texte von der Standard-Koranausgabe abwichen, die Muslime seit über tausend Jahren benutzten. Kurz gesagt, Edelstein behauptete, sein deutscher Kollege werde in Kürze aller Welt aufzeigen, dass die unerschütterliche muslimische Überzeugung, der Koran sei buchstäblich das unveränderte, ewige Wort Gottes, reine Fiktion sei. Den Muslimen würde nicht erspart bleiben, womit sich die Christen und Juden in den vergangenen drei Jahrhunderten hatten auseinandersetzen müssen. Wie die Bibel würde sich auch der Koran, so wie es der gesunde Menschenverstand verlangte, als ein historisches Dokument erweisen. Ahmad, einer der Studenten in der ersten Reihe und Muslim, unterbrach Edelsteins Vortrag und hob wütend die Hand. Edelstein sah auf. »Ja, Ahmad?« »Warum hat Ihr Kollege seine Erkenntnisse noch nicht veröffentlicht?«, blaffte Ahmad. Edelstein sah ihm einen Moment in die Augen, bevor er in versöhnlichem Tonfall antwortete. »Mein Kollege fürchtet um den weiteren Zugang zu den Texten, wenn diese Erkenntnisse den jemenitischen Behörden vorgelegt werden. Er...