E-Book, Deutsch, 563 Seiten
Akhanli / Akhanl? Sankofa
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-96202-634-9
Verlag: Sujet Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 563 Seiten
ISBN: 978-3-96202-634-9
Verlag: Sujet Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein türkischer Schriftsteller, gejagt von einem Oberleutnant, ein Theatermacher in Köln, ein Kurde, der zu Fuß aus Deutschland nach Diyarbakir laufen will - das sind nur vier der Figuren, der Leben und Geschichten Dogan Akhanli zu einem komplexen Panorama der deutsch-türkischen Geschichte der letzten fünfzig Jahre verwebt.
In seinem letzten Roman, den er kurz vor seinem frühen Tod fertigstellte, schlägt Dogan Akhanli (1957-2021) noch einmal den großen Bogen vom Militärputsch in der Türkei im Jahr 1980 über den NSU-Terror bis zur Black Lives Matter-Bewegung; es geht um die Rolle von Minderheiten im türkischen Nationalismus ebenso wie um die Lebenslüge der Deutschen, die meinen, sie hätten die Naziverbrechen aufgearbeitet, während erneut mordende Nazis durchs Land ziehen und Rassismus in der Mitte der Gesellschaft wieder salonfähig wird. Es geht um Täter und Opfer und die Frage, wie leicht die Grenzen zwischen beiden verwischen können - und um Hoffnung in Form eines Lernprozesses. Akhanli zeichnet all die Absurdität menschlicher Grausamkeiten, ohne dabei je den optimistischen Blick der Menschlichkeit zu verlieren.
'Sankofa' ist nicht nur große Literatur, sondern auch ein Roman, der schmerzlich vor Augen führt, wie sehr Dogan Akhanlis klarer Blick und seine besonnene Stimme fehlen in Zeiten von Krieg und Radikalisierung.
DOGAN AKHANLI wurde 1957 in der Türkei geboren und lebte seit 1992 als Autor in Köln. 2021 ist er in Berlin gestorben. 1998/99 erschien in türkischer Sprache seine Trilogie 'Kayip Denizler' (Die verschwundenen Meere). ). Der letzte Band der Trilogie 'Kiyamet Günü Yargiçlari' (Die Richter des jüngsten Gerichts) thematisiert den Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915. Die deutsche Übersetzung ist 2007 in Österreich und 2018 in Armenien erschienen. Akhanl?s Romane - 'Der letzte Traum der Madonna', 2005 und 'Tage ohne Vater', 2009 - wurden als wichtigste Roman-Veröffentlichungen in der Türkei ausgezeichnet. Im Oktober 2010 erschien die zweite Auflage seines Romans 'Die Richter des Jüngsten Gerichts' im Kitab-Verlag, Österreich. Sein letztes Buch 'Verhaftung in Granada / oder Treibt die Türkei in die Diktatur?' 2018 in Köln erschienen. Sein erstes Theaterstück in deutscher Sprache 'Annes Schweigen' wurde 2012 in Berlin (Theater unterm Dach) und im Januar 2013 in Köln (Theater im Bauturm) uraufgeführt. Seitdem hat er sich mit Romanen, Aufsätzen, Interviews und in zahlreichen Projekten in Deutschland immer wieder für den wahrhaftigen Umgang mit historischer Gewalt und für die Unteilbarkeit der Menschenrechte eingesetzt. 2013 erhielt er den 'Pfarrer-Georg-Fritze-Preis' in Köln, so wie den ersten 'Europäischen Toleranzpreis' in Österreich..
Recai Hallaç, 1962 geboren und aufgewachsen in Istanbul, ist Schauspieler, Simultandolmetscher und hat neben Drehbüchern und Theaterstücken mehrere Romane und Erzählungen aus dem Türkischen übersetzt. Unter anderem war er als Redakteur, Sprecher und Schauspieler beim WDR Funkhaus Europa und der türkischen Redaktion der deutschen Welle tätig und spielte Theater. Seit 1990 lebt er in Berlin.
Weitere Infos & Material
Dezember 2013, Köln
Erst Jahre später, er war gerade dabei, ihr die Fotos zu zeigen, die er für die Ausstellung »Sankofa« ausgewählt hatte, erzählte der Oberleutnant seiner Frau Lisa, mit der er seit sechsundzwanzig Jahren verheiratet war, von der Rolle, die ein zu Tode Verurteilter in seinem Leben gespielt hatte. Damals war er ein Offizier, den man zum Wachkommandanten einer kleinen, zwischen Bergen verlorenen, türkischen Grenzstadt ernannt hatte. Kurz nach seiner Ankunft wurde ihm per Fax mitgeteilt, ein zu Tode verurteilter Häftling namens Tayfun Kara sei aus dem Militärgefängnis geflohen, gefolgt von der Anweisung, alle notwendigen Maßnahmen zu treffen. Es war Anfang Juni. Er führte mit einem Trupp Soldaten eine Razzia in dem Haus der Frau des Geflüchteten durch, die in der Kleinstadt lebte, und beschlagnahmte Bücher, Zeitungen und tausende Briefe, die Tayfun Kara aus dem Gefängnis an sie geschrieben hatte. Um einen Eindruck oder vielleicht einige Informationen über den Geflüchteten zu bekommen, begann er, diese zu lesen. Zweitausenddreihundertsiebzig Briefe. Je länger er las, umso stärker entglitt ihm sein eigenes Leben, jeder Brief nährte weiter die Zweifel über seine eigene Zukunft. Die Briefe waren nicht literarisch anspruchsvoll. Sie waren melancholisch, voller Trauer, begannen mit Anreden wie »Meine Geliebte«, »Meine Rose«, »Mein Herz« oder »Mein Augapfel«, doch irgendwie waren sie voller Hoffnung und Zuversicht für die Zukunft. Was den Oberleutnant besonders überraschte, war der unerschütterliche Glaube des Todeskandidaten an das gemeinsame Leben, das er mit seiner Frau aufbauen wollte. Versuchte er, sich in diesen Mann hineinzufühlen, sah er eine unendlich lange, dunkle Höhle ohne Ausgang vor seinem inneren Auge. Es war schier unbegreiflich. Der Kerl hatte es, wie auch immer, geschafft, einen fünfundachtzig Meter langen Tunnel aus einem Militärgefängnis mitten auf einer Tiefebene zu graben, zu flüchten und in die Berge zu verschwinden. Fünfundachtzig Meter klangen vielleicht als bloße Zahl nicht so groß, aber wenn man sich diese fünfundachtzig Meter als Erdmasse vorstellte, waren das Tonnen von Erde, Schlamm und Schotter. Damals, als ihm in der armseligen Kleinstadt der Bericht über die Flucht auf den Tisch gelegt wurde, war er aufrichtig verwundert darüber, dass es Leuten, die einen solchen Tunnel graben können, nicht gelingt, den Staat zu zerschlagen. Denn diese Institution, genannt Staat, mochte auf der einen Seite mächtig und unzerstörbar wirken, aber gleichzeitig war sie hohl. Ein Kartenhaus, das schon beim kleinsten Windstoß einstürzen würde. Das müsste das Phänomen sein, das man als Paradox bezeichnet: der unlösbare Widerspruch zwischen der Unfähigkeit, eine Revolution zu beginnen und der Fähigkeit, einen fünfundachtzig Meter langen Tunnel zu graben. Eigentlich müsste es leichter sein, fand der Oberleutnant, eine Revolution zu führen, als einen fünfundachtzig Meter langen Tunnel zu graben. Denn die Menschen in der Türkei dürften für diese Institution nicht das geringste Vertrauen und die bescheidenste Sympathie hegen. Obwohl dieser Staat den Menschen viel Leid zufügte, sie auf einen Schlag massenhaft vernichtete, ins Gefängnis warf, ihnen das Leben unerträglich machte, versuchten sie den Anschein zu erwecken, dass Wörter wie Vaterland, Nation oder Staat mit unfassbarer Leidenschaft und Aufrichtigkeit ausgesprochen werden. Dabei gab es niemanden, dem der Staat keine Ohrfeige verpasst hatte. War es auch nicht ein seltsames Paradox, dass solche Strukturen, die eigentlich eine kurze Lebensdauer haben müssten, so lange fortbestehen konnten?
Du redest ja wie ein Linksradikaler, warf Lisa ein. Sie waren fast fertig mit dem Abendessen. In all den sechsundzwanzig Jahren hatte sie noch nie politische Aussagen aus dem Munde ihres Mannes gehört. In der Tat hatte der Oberleutnant zwischen sich und den Ereignissen, deren Zeuge er wurde, eine Mauer aus Fotografien gebaut. Er sah die Welt durch den Fotoapparat und auf den Bildern, nahm alles Geschehene so wahr, als hätte es mit ihm nichts zu tun, als wäre alles irgendwo da draußen. Die zweitausenddreihundertsiebzig Briefe, geschrieben von Tayfun Kara, alle mit dem Stempel »Gelesen« versehen, die Tage, in denen er die Bewohner der Kleinstadt verhörte, hatten sich in sein Gedächtnis geprägt wie Traumbilder einer nicht erlebten Vergangenheit. Als er in die Bergdörfer gereist war und Holzhäuser, in denen niemand wohnte, verfallene Grundschulen, die keine Schüler hatten, Felder, die niemand bestellte, fast vertrocknete Maulbeerbäume, alte Frauen, traurige Friedhöfe und schmale Ziegenpfade fotografierte, hatte er das alles als fiktive Erscheinungen wahrgenommen. Während er in einer weit zurückliegenden Zeit, wandelnd auf den Gipfeln der Unschlüssigkeit, auf dem Hügel der Stillen Wehmut in einer bezaubernden Landschaft einem Konzert lauschte, hatte er das Gefühl, die gespielten Melodien handelten von einer Welt, an der er nicht teilhatte. Dabei waren sie nichts anderes als eine Botschaft gewesen, eine Einladung in die Freiheit. Das begriff er erst jetzt, nach einem Vierteljahrhundert. Damals hatte er, die Melodie im Ohr und die Bergketten hinter dem Hügel der Stillen Wehmut, das Farbenspiel auf den Hügeln, den Goldstaub auf den Tälern und die zu den Hängen hin flitzenden Gazellen im Blick, unversehens gespürt, dass sein Leben nicht seine eigene Wahl war, sondern die Folge einer freiwilligen Selbstlosigkeit, um den Wunsch seines Vaters zu erfüllen. Es war diese Eingebung, die ihn von seinen Wurzeln und seiner Vergangenheit entfernte. Er bereute nichts, im Gegenteil, er war sehr glücklich. Dieses Glück hatte er Lisa zu verdanken. Sie erschien ihm wie eine göttliche Antwort auf die Frage, warum er auf diese Welt gekommen war und dieses Leben bis zum Schluss leben sollte. War es nicht ein traumhaftes Wunder, dass er Lisa gleich nach der Lektüre der Briefe begegnet war? Mit ihr verwandelte sich sein Leben in etwas, das tatsächlich eine Bedeutung hatte. Lisa war die einzige nicht fiktive Realität seines Lebens und es erfüllte ihn mit Stolz zu sagen, dass er sie noch wie am ersten Tag liebte. Er hatte gewusst, dass er eine entehrende Straftat begehen oder eine ausländische Frau heiraten musste, um aus der Armee entlassen zu werden, konnte es aber immer noch nicht glauben, dass er jemandem wie Lisa begegnet und dass aus dieser Begegnung eine lebenslange Beziehung geworden war. Einen Monat nachdem er sie kennengelernt hatte, verließ er die Türkei, und kaum in Deutschland angekommen, hatte er eine Arbeit gefunden und die Chance bekommen, eine Persönlichkeit wie Willy Brandt vor der Berliner Mauer zu fotografieren. Wer hätte ahnen können, dass diese Mauer, die im Hintergrund wie ein Monument der Hässlichkeit emporragte, noch vor dem Ende des Jahres Geschichte sein würde? Ein Jahr später war das Apartheidregime in Südafrika zusammengebrochen. Die Fotos, die er von Mandela vor seinem einstöckigen Backsteinhaus in Johannesburg-Soweto gemacht hatte, waren Dokumente des Zusammensturzes eines unerschütterlich anmutenden Systems und hatten deshalb eine historische Bedeutung. Aber wenn er jetzt zurückblickte, fühlten sich diese Fotos wie Fiktionen an, die sein Kopf produziert hatte. Seit jenem Tag erschienen ihm jedes Mal, wenn er den Namen Mandelas hörte, sein Rubinring, sein weißes Hemd und sein milchweißes Haar vor dem inneren Auge; dieses Wort erinnerte ihn an einen alten Bewohner eines vergessenen Grenzdorfes, der Satinstoffe, frische Feigen, Rosinen und feuerrote Granatäpfel verkaufte und niemanden mehr hatte, der seinen Namen noch kannte. Der Oberleutnant hatte im März des Jahres 1991, als in Jugoslawien alles den Bach runterging und Serben und Kroaten einander niederzumetzeln begannen, trotz der vielen Leichen, die auf den Straßen der Verwesung überlassen waren, nicht glauben können, dass dort ein brutaler Bürgerkrieg ausgebrochen war, bis sein Journalistenkollege, der sehr gut Türkisch sprach, getötet wurde. Nach seiner Rückkehr aus Sarajevo hatte ihn niemand gezwungen, im Frühjahr 1994 nach Ruanda zu gehen. Stattdessen hätte er mit Lisa am Rhein spazieren können. Die Kolonnen aus Frauen und Kindern, die in Ruanda vor dem Tod flohen, die Milizen, die mit ihren Kalaschnikows herumstolzierten, die Täter, die mit ihren Macheten ihre Nachbarn zerstückelt hatten und in deren Gesicht der Stolz des Massakers aufleuchtete, die Leichen, die in Geschäften, auf Märkten, auf großen Plätzen, in Straßen, Gärten und auf den Feldern verwesten, die Seen blutrot färbten und in Flüssen trieben, zu fotografieren, war nicht leicht. Lisa dürfte sich noch daran erinnern, dass er nach seiner Heimkehr Ende Juni die Wohnung tagelang nicht verließ.
Lisa erinnerte sich. Beinahe hätte Ruanda den Oberleutnant nicht nur Lisa, sondern sogar dem Leben entrissen. »Ich verstehe es nicht«, sagte der Oberleutnant, »warum ich Tayfun Kara nicht als eine Erinnerung an die Vergangenheit wahrnehme, sondern wie einen engen Freund, das verstehe ich einfach nicht.«
Lisa sah ihren Mann an und war überrascht, wie wenig sie über den Oberleutnant, mit dem sie ihre Seele und ihren Körper teilte, wusste. Als sie sich kennenlernten, hatte er zwar gesagt, er sei Offizier und wolle die Armee verlassen, aber alles hatte sich so schnell entwickelt, der Oberleutnant hatte sich in so kurzer Zeit von seiner Vergangenheit losgelöst, dass Lisa nur noch sehr selten daran dachte, dass er auch Mutter, Vater, Geschwister und Verwandte hatte. Vom ersten Moment an, in dem der Oberleutnant einen Fuß in Lisas Wohnung gesetzt hatte, hatte er eine Wand zwischen sich und seiner Vergangenheit errichtet, keinen Kontakt zu einem türkischsprachigen Menschen in...