Eine Reise mit afghanischen Flüchtlingen | »Ein tiefer Akt der Liebe.« ? The New York Times
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-455-01514-0
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kabul, 2016. Während unablässig Flüchtlinge nach Europa drängen, trifft Omar, ein junger afghanischer Fahrer und Übersetzer, die mutigste und schwerste Entscheidung seines Lebens. Er beschließt, die Heimat zu verlassen und Abschied zu nehmen von seiner Laila, ohne zu wissen, ob er sie je wiedersehen wird. Omar ist einer von Millionen, die in diesem Jahr flüchten, in der Hoffnung auf ein besseres Leben.
Matthieu Aikins, ein vielfach ausgezeichneter Kriegsreporter, wirft seinen Reisepass weg und begleitet seinen Freund Omar auf der Flucht. Gemeinsam begeben sich die beiden auf eine Odyssee ohne Garantie auf ein Überleben, die sie mitten ins Herz der Migrationskrise führt.
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Cover
Verlagslogo
Titelseite
Motto
Karte
Teil 1 Der Krieg
Teil 2 Der Weg
Teil 3 Das Lager
Teil 4 Die Stadt
Epilog
Dank
Anmerkung zu Quellen und Vorgehen
Endnoten
Biographien
Impressum
Teil 1 Der Krieg
1
Als sich das erste Tageslicht zeigte, beugte ich mich zum Fenster und schaute hinunter. Unter uns Gebirge. Wir flogen der aufgehenden Sonne entgegen, und die schrägen Strahlen ließen die Konturen des kargen, zerklüfteten Lands unter uns in scharfen Kontrasten hervortreten: gefurchtes Braun mit grünen Taleinschnitten, gesprenkelt von Weilern, die nach wie vor nur mit dem Esel erreichbar waren. Wir befanden uns nicht weit von der Stelle, wo Afghanistan, Iran und Turkmenistan zusammentreffen, aber auf welches der drei Länder ich hinunterblickte, konnte ich nicht sagen. An meinem Fenster hatte sich Reif gebildet, der im Morgenlicht rosig leuchtete, wie sicher auch unsere Kondensstreifen für die Menschen unten am Boden. Ich lehnte mich wieder zurück. Bis Kabul, wo mein Freund Omar mich erwartete, lagen noch ein paar Stunden vor uns. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich ihn vor mir sehen, letzten Sommer, als er mich am Flughafen abgesetzt und plötzlich flehentlich meine Hand gepackt hatte: »Komm wieder, Bruder. Lass mich nicht allein. Alle gehen weg.« Es war still im Flugzeug. Die wenigen Passagiere, die ich sehen konnte, schliefen vornübergesackt oder über die jeweilige Reihe gestreckt. Auf dem Rückflug nach Istanbul wären die jetzt leeren Sitze von afghanischen Kriegsflüchtlingen besetzt. Vielleicht säße auch auf meinem Platz jemand, der in einem der kleinen Schlauchboote, die sich von der Türkei nach Europa aufmachten, das Meer überqueren wollte. Inzwischen landeten täglich Tausende Flüchtlinge auf den griechischen Inseln, und viele weitere waren unterwegs.[1] Wir hatten Ende Oktober 2015, und es geschah Wundersames in diesem Herbst, ein ehernes Gesetz wurde gebrochen: Unter dem Gewicht von Menschen hatte sich die Grenze geöffnet. Seit Jahren, seitdem im Nahen Osten Krieg um sich griff und Millionen Menschen obdachlos machte, war der Druck gegen Europas Grenzen gestiegen. Die Bootsflüchtlinge kamen in der Mehrheit aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Es waren viele Frauen und Kinder unter ihnen, und sie hätten sich eher erschießen als von der Flucht abhalten lassen. Von Griechenland machten sie sich auf den Weg nach Norden durch den Balkan, sammelten sich auf den Plätzen der Innenstädte und an den Grenzübergängen, waren ein Spektakel in den Nachrichten, eine Krise. Um das Auseinanderdriften der EU zu verhindern, hob Deutschland die Regeln auf und ließ die Migranten herein und durch; andere Länder folgten dem Beispiel, und jetzt waren die fünf Grenzen zwischen Athen und Berlin offen. Rund um die Welt zeigten die Medien, wie Massen von Menschen die offenen Grenzen überquerten, ein Beweis für das Unmögliche, eine Fanfare der ungehinderten Bewegungsfreiheit – für manche ein Traum, für andere ein Albtraum. Niemand wusste, wie lang dieses Wunder anhalten würde. Jetzt gingen täglich Tausende Menschen von den kleinen Booten an Land. Am Ende kam eine Million nach Europa. Und Omar und ich würden uns ihnen anschließen. Die Entscheidung war im August gefallen, als ich nach einem Einsatz im Jemen nach Kabul zurückgekehrt war. Ich kannte Omar, seitdem ich beruflich in Afghanistan stationiert war. Er hatte schon immer vom Westen geträumt, doch seitdem der Bürgerkrieg immer heftiger tobte und Bomben seine Heimatstadt verwüsteten, wuchs seine Sehnsucht ins Unermessliche. Amerikanische Soldaten zogen aus Afghanistan ab, und auch mich zog es fort – nach sieben Jahren Berichterstattung aus Kabul war ich ausgebrannt –, aber ich konnte Omar nicht zurücklassen. Auf dem Rückflug nach Kabul in jenem Sommer hatte ich immer wieder an meinen Freund denken müssen. Einen Plan hatte ich noch nicht, doch immerhin eine Idee, die allmählich Gestalt annahm. Omar und ich mussten reden. WILLKOMMEN IM HAMID KARZAI INTERNATIONAL AIRPORT. An der Einreisekontrolle händigte ich meinen Reisepass aus und legte die Fingerspitzen auf den grün leuchtenden Scanner, ging weiter zum Gepäckförderband und holte meinen Koffer, zog ihn dann hinter mir her zur Sicherheitskontrolle, um ihn durchleuchten zu lassen. Der Polizist, der vor dem Monitor saß, suchte nach Waffen und Flaschen. In der Islamischen Republik Afghanistan ist Alkohol verboten, außer in den Botschaften und internationalen Organisationen, aber ausländische Besucher durften pro Person zwei kostbare Flaschen einführen. Ich hievte meinen Koffer auf das Förderband, stellte die Plastiktüte mit Scotch und Gin vom Duty-free-Shop in Istanbul daneben, ging zum anderen Ende des Bands und probte währenddessen im Geist meinen Text. Meine Vorfahren stammen aus Japan und Europa, aber mit meinen Mandelaugen, dem schwarzen Haar, dem drahtigen Bart sehe ich tatsächlich befremdlich afghanisch aus. Daher gingen unweigerlich sämtliche Grenzwächter davon aus, dass ich Einheimischer mit haram-Schmuggelware sei und folglich ein lukrativer Fang, denn der beschlagnahmte Schnaps ließ sich auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Im Lauf der Jahre war mein Persisch zwar besser geworden, die Grenzgespräche aber dadurch leider verfänglicher. »Bruder, willst du mir weismachen, dass du kein Afghane bist?« »Ich bin keiner«, sagte ich dann. »Schauen Sie sich meinen Namen an. Ich bin nicht mal Muslim – sorry.« Und ich sprintete mit dem Pass in der Hand zum Förderband, bevor sich der Polizist meine Flaschen schnappen konnte. Draußen vor dem Terminal atmete ich tief die trockene Sommerluft ein. Ich hatte seit Sanaa nicht viel geschlafen, doch der Anblick ringsum ließ die Müdigkeit schlagartig weichen: in der Ferne die schneebedeckten Gipfel des Hindukusch, am Berghang die Slums, vor dem Tor der Humvee, den Geschützturm himmelwärts gerichtet. Auf dem Parkplatz erspähte ich einen goldenen Toyota Corolla und darin, mit aufgedrehtem Radio und offenem Fenster, rauchend, meinen Freund Omar. Er stieg aus und ging mir entgegen: größer als ich, breite Schultern und ebenso breites Grinsen. Als wir uns umarmten, stachen mich seine Bartstoppeln in die Wange, er roch nach Kölnischwasser und Rauch. Er entwand mir meinen Koffer und hievte ihn in den Kofferraum. Wir fädelten uns in den Kreisverkehr vor dem Flughafen ein, einen Strom aus Taxis, gepanzerten SUVs, Bussen, dazwischen schreiende Polizisten, an Scheiben klopfende Bettler, wandernde Händler, die Gestelle mit Telefonkarten und Zierrat fürs Armaturenbrett schwenkten. Wir krochen dahin, Omar leise fluchend, eine Hand am Steuer, in der anderen eine Pine, die er von Zeit zu Zeit zwischen den Lippen stecken ließ, um sich mit der Hand durch seinen dunklen Haarschopf zu fahren. Erst als wir draußen auf dem Flughafenzubringer waren und an den aneinandergereihten höhlenartigen Trauungssälen entlangfuhren, konnten wir durchatmen und uns auf den neuesten Stand bringen. »Gut, dass du wieder da bist, baradar«, sagte er auf Dari. Er lächelte, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Ich freu mich auch, Bruder«, sagte ich. Er wusste, dass mein Mietvertrag auslief und ich zurückgekommen war, um das Haus zu räumen. Die halbe Stadt schien zu flüchten in diesem Sommer des raftan, raftan – weggehen, weggehen. Die Afghanen verloren den Glauben an eine hoffnungsvolle Zukunft ihres Landes. Der Mittelstand investierte seine Ersparnisse in Türkeiflüge und Einreisevisa; junge Männer stürmten Busse, die in die Wüste im Süden des Landes fuhren, wo der Iran beginnt. Auch Omars Familie strebte fort. Vier seiner Geschwister waren schon in Europa, und seine Mutter und eine Schwester bereiteten sich auf ihre Ausreise mit Hilfe von Schleusern vor. Omar selbst hatte lange den Plan gehabt, nach Amerika auszuwandern, mit einem Special Immigrant Visa,[2] mit dem der US-Kongress seine loyalen afghanischen und irakischen Angestellten belohnte – Happy End für ein paar und Beruhigung des amerikanischen Gewissens. Omar wäre für das Programm infrage gekommen; er hatte als Dolmetscher für die Spezialkräfte im Gefecht gedient und bei USAID und Minenräumtrupps gearbeitet. Doch als er mir seinen Antrag zuschickte, sah ich sofort, dass es aussichtslos war. Er sollte alle möglichen Unterlagen einreichen, die er über die Jahre hätte sammeln sollen, aber nicht gesammelt hatte: Zeugnisse und Bestätigungen von Dienstvorgesetzten, Kopien seiner Arbeitsverträge mit der US-Regierung. Wie sollte er jetzt einen Green Beret Captain ausfindig machen, von dem er nur den Vornamen wusste? Oder Unterlagen von einem Minenräumunternehmen beschaffen, das es inzwischen gar nicht mehr gab? Hallo mein lieber und guter Bruder, mailte er mir, während ich außer Landes war. Hoffentlich geht es dir gut und alles ist in Ordnung. Bitte wünsche mir viel Glück und finde die Chance, das US-Visum zu bekommen und dorthin zu ziehen. Ich habe das Leben hier wirklich satt. Wir reichten alles ein, was wir hatten. Die Antwort ließ zwei Jahre auf sich warten. Dann hieß es: Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Ersuchen um Genehmigung des Chief of Mission (COM), einen Antrag für das SQ-Special-Immigrant-Visa (SIV)-Programm einzureichen, aus folgendem Grund/folgenden Gründen abgelehnt wurde: Fehlen ausreichender Dokumentation als Entscheidungsgrundlage … Nachdem sich sein amerikanischer Traum zerschlagen hatte, blieb Omar nur die Option, die seine Mutter und Schwester nutzen wollten: die...