Eine Geschichte der Kapitulation
E-Book, Deutsch, Band 6074, 320 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-64575-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wenn im alten Griechenland die Krieger in die Schlacht zogen, dann riefen die Mütter ihren Söhnen zu, sie sollten entweder mit dem Schild oder auf dem Schild zurückkommen, aber nicht ohne. Sie sollten also entweder siegen oder sterben.
Die Kapitulation galt als unehrenhaft, auch wenn sie häufig vorkam. Denn auch unterlegene Soldaten wollen weiterleben. Aber wie stellt man es an, eine Schlacht oder einen Krieg zu verlieren und trotzdem zu überleben? Dieser Kunst der Niederlage ist dieses Buch gewidmet. Es handelt vom Aufhören im Kriege, von der Dialektik zwischen soldatischer Ehre und Überlebenstrieb und von der Wechselwirkung zwischen den Bedingungen, die der Sieger stellt, und der Bereitschaft des Verlierers, sie zu akzeptieren. Die Kapitulation stellt eine Kulturtechnik dar, die sich über die Jahrtausende der menschlichen Geschichte wandelte und nicht zuletzt von gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen in der Waffentechnik abhing. Holger Afflerbach zeichnet diese Wandlungen nach und entwirft dabei eine neue Sicht auf die Geschichte des Krieges von der Steinzeit bis zur Gegenwart.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften Interdisziplinär Friedens- und Konfliktforschung
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Konflikt- und Friedensforschung, Rüstungskontrolle, Abrüstung
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Militärgeschichte
Weitere Infos & Material
Was einen guten Soldaten ausmacht,
ist seine Bereitschaft zu kämpfen,
sein Ehrgefühl, und seine Disziplin. Thukydides, Peloponnesischer Krieg V, 9 I. Die Kunst der Niederlage – eine Geschichte der Kapitulation
Dieses Buch sucht Antworten auf die Frage, wie und warum Kämpfe enden. Es behandelt das Aufhören im Kriege, das insofern Neuland ist, als es zu diesem Thema bislang keine zusammenfassende Analyse, keine Theorie, ja nicht einmal einen vernünftigen Oberbegriff gibt, der allgemein anerkannt ist und das Phänomen zusammenfasst.[1] Dabei ist die Frage von zentraler Bedeutung für die gesamte Kriegsgeschichte. Sie hat aber, anders als beispielsweise die Entwicklung von Strategie, Führungsmethoden oder Waffentechnik, unverdient wenig Beachtung gefunden. Waffen und Strategie sind natürlich elementar für die Kriegsgeschichte, und doch bleibt der entscheidende Faktor in jedem Konflikt, welchen Einsatz der Einzelne bringt, wie lange er kämpft und vor allem, wann und warum er den Kampf aufgibt. Ebenso zentral ist die komplementäre Frage, welche Möglichkeiten die siegreiche Seite der unterlegenen einräumt, den Kampf aufzugeben. All dies kann und soll nicht von anderen Entwicklungen des Krieges getrennt werden. Die Weiterentwicklung der Waffentechnik oder andere militärische Neuerungen haben gewaltigen Einfluss auf das Erscheinungsbild des Krieges. Militärische Innovationen veränderten schließlich die Instrumente, die dem Kampf- und Einsatzwillen des Soldaten, seinem Ehrgefühl und seinem Mut zur Verfügung standen, und sie forderten seine Bereitschaft, notfalls sterben zu müssen, immer aufs Neue heraus.[2] Ebenso verlangten sie nach immer neuen Wegen, auf denen Unterlegenen Pardon gewährt werden konnte. Dieses Buch beschäftigt sich jedoch mehr mit Fragen der Kampfmotivation und vor allem mit dem Moment, in dem sie plötzlich verschwindet. Es geht um die Dialektik zwischen soldatischer Ehre und Überlebenstrieb; um die Wechselwirkung zwischen den Bedingungen, die der Sieger stellt, und der Bereitschaft des Verlierers, sie zu akzeptieren. Nur das Zusammenspiel dieser gegensätzlichen Positionen macht die Vorgänge des Aufgebens im Kampf erklärbar. Es soll hier im weiten Bogen von der Steinzeit bis in die Gegenwart nachverfolgt werden. Der Schwerpunkt liegt auf der europäischen Kriegsgeschichte; außereuropäische Entwicklungen kann ich nur streifen. Dies ist bedauerlich, war aber notwendig, um die Stoffmenge zu begrenzen und um Entwicklungslinien, Kontinuitäten und Brüche klarer herausarbeiten zu können. Die Unzahl von Kriegen in der Vergangenheit macht es trotz dieser Begrenzung unmöglich, das Thema auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln. Ich möchte darauf verweisen, dass parallel zu diesem Buch ein umfangreiches Werk zur Geschichte der Kapitulation erschienen ist, das von Hew Strachan und mir herausgegeben wurde und hinter dem die geballte Sachkompetenz von 30 weltweit führenden Militärhistorikern steht.[3] Die Konzeption für das vorliegende Buch, das Essay und nicht Handbuch sein will, ist älter und und die Fragen sind nur teilweise deckungsgleich; trotzdem habe ich von den Beiträgen sehr viel gelernt.[4] Im Folgenden werde ich einige Entwicklungen und Thesen über die «Kunst der Niederlage» herausarbeiten. Um das Thema nicht in eine allgemeine Geschichte der Kriege und Schlachten zerfließen zu lassen, nehme ich die soldatischen Ehrvorstellungen und ihr mögliches Extrem, nämlich den Kampf bis zum Tod, als Maßstab, um parallel dazu immer wieder die Mechanismen aufzeigen zu können, die dieses Extrem nicht immer, aber oft verhindert haben. Diese Mechanismen könnte man, mit einer Anleihe bei Adam Smith, als «die unsichtbare Hand des Krieges» bezeichnen. Dies bedarf einer kurzen Erklärung. Der schottische Nationalökonom hatte in seinem Buch «The Wealth of Nations» geschrieben, dass der Markt nicht durch die guten Absichten des Einzelnen, sondern durch dessen Gewinnstreben geprägt werde, dass aber gerade dieser Egoismus schließlich für alle positive Resultate hervorbringe. Er sprach davon, dass der Marktteilnehmer oft «von einer unsichtbaren Hand geleitet» werde, «um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat».[5] Es handelt sich also nicht um eine moralische Frage. Diese mephistophelische Grundidee – die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft – kann auch auf das Aufhören im Kriege übertragen werden: Egoistische und eigensüchtige Motive der Kämpfenden, der Sieger wie der Verlierer, verhindern im Normalfall, dass es zum Äußersten, nämlich zum Kampf bis zur Vernichtung des Unterlegenen kommt. Internationale Regelwerke und gesetzliche Bestimmungen gegen Exzesse kamen erst sehr spät zum Tragen und kodifizierten in vielen Fällen nur das, was sich als Folge eben jener egoistischen Motive bereits zuvor entwickelt hatte. Gleichzeitig gab es viele Fälle, in denen dieser Mechanismus der «unsichtbaren Hand» seine Wirkung nicht entfaltete. In der Ökonomie wie in der Militärgeschichte sind die Ursachen vergleichbar – es geschieht bei Monopolbildung, bei tatsächlichen oder vermeintlichen Wirtschafts- oder Machtmonopolen. Im Kriege ist das beispielsweise dann der Fall, wenn der Sieger so überlegen ist, dass er auf den Besiegten keinerlei Rücksicht mehr zu nehmen braucht und von einer harten Haltung nur Vorteile erwartet. Im Grundsatz hat auch Clausewitz etwas sehr Ähnliches behauptet. Zwar hat er in «Vom Kriege» festgestellt, dass das Element der Mäßigung im Kriege nicht zum Tragen kommen dürfe.[6] Gleichzeitig war er aber auch der Ansicht, dass der «absolute Krieg» als Akt der schrankenlos entfesselten und vernichtenden Gewalt in der Wirklichkeit nicht vorkommen werde, da die Kriegführenden durch eine Interessenabwägung, durch Rücksichten auf politische Fragen, die außerhalb des Kampfes liegen, immer wieder abgelenkt würden.[7] Im Folgenden wird es um das Aufhören in Kämpfen zwischen Soldaten, Truppenverbänden oder Staaten gehen, nicht jedoch um die politischen Aspekte, wie Kriegsziele oder Kriegsbeendigung, und auch nicht um eine allgemeine Geschichte des Krieges, wie sie beispielsweise John Keegan oder Azar Gat vorgelegt haben.[8] Das Herzstück meiner Argumentation sind die Mechanismen des Aufhörens, die hier unter dem Label der «Kapitulation» zusammengefasst werden. Zur Kapitulation – später mehr zur Genesis dieses Begriffs – gesellen sich vielfältige andere Methoden des Aufhörens im Kriege, wie zum Beispiel die Flucht, die Desertion und die Gefangennahme auf individueller Ebene sowie der Waffenstillstand auf kollektiver Ebene,[9] der dann eine Rolle spielt, wenn noch ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte gewahrt ist, und schließlich, alles dominierend, das radikalste Ende: der Tod. Tod oder Flucht sind, so könnte eine erste These lauten, das ursprüngliche Ende von Kämpfen. Die Kunst der Niederlage ist ein Katalog von Regeln und Normen, von Ehr- und Moralvorstellungen, von ökonomischen, technischen, machtpolitischen und sozialen Fragen, der sich im Lauf der Zeit stark verändert hat.[10] Ein Kampf wird natürlich durch die Kräfteverhältnisse entschieden, wobei zweitrangig ist, ob das entscheidende Übergewicht des Siegers durch zahlenmäßig-materielle, strategische oder moralische Faktoren herbeigeführt wird. Allerdings gehören Regeln und Normen zwingend dazu und bestimmen die Gestalt des Krieges und auch das Aufhören in Kämpfen sehr stark. Hierüber gibt es, soweit ich sehe, keine wirkliche Diskussion; Clausewitz sah dies genauso wie moderne Theoretiker des Krieges, wie etwa Martin van Creveld.[11] Ebenso wie in anderen Bereichen des menschlichen Handelns, wie etwa der Ökonomie, gibt es im Krieg Regeln des Agierens, wenn auch im Einzelnen umstritten ist, wie weit diese Regeln gehen, wie weit sie implementiert sind oder werden müssen; ja bisweilen, ob bestimmte soziale Mechanismen überhaupt existieren oder ihre Existenz nur behauptet wird. Gibt es die «unsichtbare Hand» des Krieges, die Tod und Vernichtung im Krieg einhegt? Im Folgenden wird es mir darum gehen, sie sichtbar zu machen und nachzuzeichnen, wie und warum Sieger und Besiegte beschlossen, an einem bestimmten Punkt den Kampf aufzugeben. Dieser Konsensus ist nicht selbstverständlich, er ist brüchig und an eine Reihe von Vorbedingungen geknüpft. Eine davon ist etwa, dass der Sieger die Kapitulation akzeptiert. Dies ist nicht selbstverständlich. Churchill beschrieb einen Kriegsgefangenen als «einen Mann, der versucht, Dich zu töten, es nicht schafft und dann bittet, dass Du ihn nicht tötest.»[12] Vielleicht hatte er, oder einer seiner Kameraden, gerade einen Freund oder Waffenbruder des Siegers umgebracht. Ist es menschlich, jemanden am Leben zu lassen, der einem noch Augenblicke zuvor nach dem Leben trachtete? Zumindest im heißen Kampfgeschehen ist es zu keiner Zeit – auch in jüngster Zeit nicht – sicher gewesen, dass der Sieger die Empathie und Selbstkontrolle aufbrachte, den sich Ergebenden, also einen in der Regel bewaffneten und hochgefährlichen...