E-Book, Deutsch, 136 Seiten
Ackermann Die Schlotters. Es ist was faul im Kürbisweg
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-401-80694-5
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 136 Seiten
ISBN: 978-3-401-80694-5
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
1 Houdini balancierte schwankend über die Rückenlehne des Sofas. Er sah so aus, als würde er jeden Augenblick zur Seite kippen und abstürzen, aber das war ihm noch nie passiert. Jedenfalls nicht, seit er bei Jari war. Das Chamäleon setzte seinen Weg fort, wagte den Abstieg und kletterte auf Jaris Schulter. Dies war sein Lieblingsplatz. Jari strich ihm über den gezackten Rücken. Er zog die Füße aufs Sofa und blickte sehnsüchtig zum dunklen Flachbildschirm. Gleich begann Planet der Supergiganten, doch solange Benno hinter ihm in der Küche werkelte, hatte er keine Chance. Sein Paps war dagegen, den Fernseher sofort nach der Schule anzuschalten. Frühestens nach dem Mittagessen, manchmal sogar erst nach den Hausaufgaben. Total mittelalterlich. »Hey, Jari«, sagte Benno in diesem Augenblick. »Kannst du mal kurz …« Och nö, dachte Jari. Das kannte er nämlich schon. Kannst du mal kurz die Küche aufräumen? Kannst du mal kurz staubsaugen? Kannst du mal kurz den Rasen mähen? Und nie dauerte es nur kurz, sondern immer mindestens eine halbe Ewigkeit. Oder auch ’ne ganze. »… aufs Essen aufpassen?«, brachte sein Paps den Satz zu Ende. Er nickte zur Küchenzeile hinüber. Jari stemmte sich ein paar Zentimeter vom Sofa hoch und spähte schräg hinter sich über die Rückenlehne. »Da stehen Kartoffeln auf dem Herd«, erklärte Benno. »Ich muss noch mal runter ins Büro und einen Entwurf überarbeiten.« »Okay«, sagte Jari. »Kein Problem.« Er ließ sich zurück aufs Sofa fallen und griff schon mal nach der Fernbedienung. Auf Kartoffeln aufpassen, das ließ sich einigermaßen entspannt erledigen. Dabei konnte man fernsehen und gleichzeitig einen Comic lesen und außerdem auf Houdini aufpassen. »Bin gleich wieder da«, murmelte Benno und eilte die Treppe hinunter, die zu seinem Arbeitszimmer führte. Als die Tür hinter ihm zuklappte, schaltete Jari seinen Lieblingskanal an. Planet der Supergiganten hatte gerade angefangen. Houdini kletterte zurück auf die Rückenlehne, tat ein paar taumelnde Schritte und blieb plötzlich stehen, so bewegungslos, als wäre er auf einmal erstarrt. Jari wusste genau, warum. Nicht wegen der kämpfenden Supergiganten auf dem Bildschirm, sondern wegen einer lebensmüden Fliege, die direkt vor seinen Nasenlöchern herumschwirrte. Schon schoss Houdinis Zunge heraus. Zack! Volltreffer! Siebzehn Minuten später war die 13. Folge der Supergiganten zu Ende. Während es im Topf vor sich hin blubberte, räkelte Jari sich müde auf dem Sofa. Houdini hockte auf einem der Kissen und fixierte einen dunklen Fussel, den er bestimmt für eine Fliege im Winterschlaf hielt. Gerade kam nichts Spannendes mehr im Fernsehen und wenn nicht gleich etwas furchtbar Aufregendes passierte, würde Jari noch vor Langeweile einschlafen. Er spürte schon, wie seine Augenlider schwer wurden, sich langsam nach unten bewegten und … »Was ist das da?«, fragte plötzlich jemand. Jari fuhr hoch. Direkt neben dem Sofa stand ein Mädchen. Sie war dick in einen Wintermantel eingepackt. Auf dem Kopf trug sie eine Fellmütze, die ihr bis über beide Ohren reichte, sodass von ihrem Gesicht nur wenig zu sehen war. Trotzdem wirkte sie merkwürdig blass. Jari war völlig verwirrt. Wo kam die denn auf einmal her? Und wie war sie hier reingekommen? Hatte Benno etwa die Haustür offen gelassen? Jari beäugte das Mädchen vorsichtig von der Seite. Sie sah wirklich merkwürdig aus. Kein Mensch trug solche Klamotten. Schon gar nicht an einem so warmen, sonnigen Herbsttag. Jari war heute in der großen Pause sogar im T-Shirt draußen rumgelaufen. Er rieb sich die Augen und schüttelte kurz den Kopf. Vielleicht war er vor dem Fernseher eingeschlafen. Ja, so könnte es gewesen sein. Dieses komische Mädchen vom Nordpol gab es nur in seinem Traum. Also musste er jetzt einfach so schnell wie möglich wieder aufwachen, und der ganze Spuk hatte ein Ende. Das Mädchen zeigte mit einer Fausthandschuh-Hand zum Flachbildschirm, auf dem gerade animierte Meerschweinchen eine Bank überfielen. »Was ist das da?«, wiederholte sie ungeduldig. »Eine Art Kino in Klein? Hat man das jetzt so?« »Aufwachen«, murmelte Jari vor sich hin. »Es ist nur ein schräger Traum.« »So ein Quatsch. Ich bin kein Traum! Und hier ist der Beweis.« Sie kniff ihn einmal kurz und fest in sein Ohrläppchen. »Au! Du spinnst ja wohl komplett, oder was?« Jari sprang auf und stolperte drei Schritte nach hinten. Dabei hielt er sich das schmerzende Ohr. Sein Herz hämmerte. Dieses Mädchen war nicht nur merkwürdig, sondern auch gefährlich. »’tschuldige«, sagte sie. »Ich wollte dir nur beweisen, dass es mich wirklich gibt.« »Wie bist du hier reingekommen?«, fauchte Jari sie an und machte rein sicherheitshalber einen weiteren Schritt nach hinten. Sie nickte zur Terrassentür. »Die ist nur auf Kipp!«, protestierte Jari. »Da kannst du nicht durchgekommen sein.« Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich Houdini zu. »Dich würde ich am liebsten mitnehmen«, sagte sie zu ihm. »Snief hat nämlich panische Angst vor Echsen. Sogar vor der allerkleinsten Eidechse.« Wer ist Snief?, wollte Jari schon fragen, doch erst mal musste er ja wissen, wer sie war! »Wer bist du?« Er verschränkte die Arme und machte die Augen schmal. Dieses Mal würde er auf einer Antwort bestehen. »Nilla«, sagte sie überraschend friedlich. »Und du?« »Äh … Jari.« Er schüttelte wieder den Kopf. Jetzt war er genauso schlau wie vorher. Das war doch alles total verrückt! Aber Nilla fand anscheinend alles normal. Ob sie auch bei anderen Leuten einfach so ins Wohnzimmer einbrach? Vielleicht war sie auch durch irgendein Fenster eingestiegen. Jetzt tapste sie in ihren Winterstiefeln zur Küchenzeile. Sie ging seltsam. Fast sah es aus, als würden ihre Füße nicht wirklich den Boden berühren. »Was kochst du da?«, fragte sie. Und bevor Jari etwas erwidern konnte, streifte sie einen Handschuh ab, nahm den Deckel vom Kochtopf und griff in das kochende Wasser. »Halt! Stopp!« Jari stürzte auf sie zu. »Das ist doch viel zu heiß!« Schon hatte er den Kaltwasserhahn aufgedreht, damit sie sich die Finger kühlen konnte. Aber Nilla kümmerte sich nicht um ihn. Begeistert hielt sie eine Kartoffel in die Höhe. »Die habe ich früher sooo gerne gegessen«, sagte sie. »Aber jetzt schmecke ich nichts mehr.« Mit einem Schulterzucken warf sie die Kartoffel zurück ins kochende Wasser. »Wieso schmeckst du nichts mehr?«, fragte Jari lahm. Er stand noch zu sehr unter dem Sie-greift-einfach-mal-soins-kochende-Wasser-Schock. Bevor er sie fragen konnte, warum ihr die Hitze nichts ausgemacht hatte, blieb sein Blick an ihren Händen hängen. Fasziniert starrte er sie an. Sie waren weiß wie Schnee. Auch ihr Gesicht war unfassbar bleich. In diesem Augenblick rutschte eine weiße Haarsträhne unter der Mütze heraus. Hastig stopfte Nilla sie zurück. »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie knapp. »Und wohin?«, fragte Jari. »Zum Nordpol vielleicht?« »Hä? Wieso?« Sie blinzelte ihn verwirrt an. »Was soll ich denn am Nordpol?« »Na, so wie du angezogen bist?« Er grinste. »Damit könntest du glatt auf eine Expedition ins ewige Eis starten.« Nilla blickte an sich hinab. »Was stimmt damit nicht?«, murmelte sie. »Na, du musst dich doch totschwitzen mit all dem warmen Zeug, das du da anhast.« »Quatsch!« Sie warf ihren Kopf in den Nacken. »Ich mach, was ich will, und das geht überhaupt niemanden etwas an.« Mit großen Schritten bewegte sie sich auf die Terrassentür zu. Was machte sie denn jetzt? Es sah aus, als würde sie versuchen, sich durch den Spalt der gekippten Tür zu zwängen. Da würde sie doch im Leben nicht durchpassen! »Buh!«, rief sie plötzlich und ließ ihre Hände kurz in seine Richtung schnellen. Vor Schreck schloss Jari die Augen. Als er sie wieder öffnete, war sie bereits draußen und steuerte auf das Gartentor zu. Sie sprang darüber hinweg und bog nach links ab. Wie um Himmels willen war sie rausgekommen? Die Terrassentür stand noch immer in Kippstellung. Jari wollte unbedingt wissen, wo sie hinging. Er jagte die Treppe hoch und stürzte in sein Zimmer. Von seinem Fenster aus konnte er ein ganzes Stück des Kürbiswegs überblicken. Und tatsächlich, da war Nilla, aber nicht mehr auf dem Gehweg, sondern im Nachbargarten, dort, wo die alte Frau Beinsen gewohnt hatte, die vor ein paar Monaten in ein Seniorenheim gezogen war. Seit diesem Tag sah Oma Beinsens Haus schrecklich einsam aus und schien nur noch vor sich hin zu träumen. Das Gras im Garten stand schon fast einen halben Meter hoch und der Holunderbusch wucherte über den Gartenzaun. Aber vielleicht würde sich das alles bald ändern und das Haus...