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E-Book

E-Book, Deutsch, 328 Seiten

Abedi Isola

E-Book, Deutsch, 328 Seiten

ISBN: 978-3-401-80003-5
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zwölf Jugendliche, drei Wochen allein auf einer einsamen Insel vor Rio de Janeiro - als Darsteller eines Films, bei dem nur sie allein die Handlung bestimmen. Doch bald schon wird das paradiesische Idyll für jeden von ihnen zu einer ganz persönlichen Hölle. Und am Ende müssen die Jugendlichen erkennen, dass die Lösung tief in ihnen selbst liegt.
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Eins Er war wie jedes Jahr um diese Zeit der einzige Mensch im Garten des Evangelischen Klinikums in Berlin. Es war sechs Uhr morgens, am Himmel stand noch der Mond und die kleinen Scheinwerfer auf der Wiese funkelten wie wachsame Augen. Aus einem der Fenster drang leise klassische Musik. Lauschend wandte er den Kopf. La Mer, von Debussy. Er lächelte, als wäre die Musik ein Zeichen, und das war sie ja auch. Langsam ging er auf den weißen Marmorengel zu. Die kleine Statue stand im hinteren Winkel des Gartens vor der Birke, an deren Zweigen sich die letzten Blätter festhielten. Ihm schien, als wären es in diesem Jahr noch weniger Blätter als sonst. Behutsam wickelte er die Orchidee aus dem braunen Papier und legte sie dem weißen Marmorengel in die steinernen Hände. Der Engel lächelte nicht. Still und stumm stand er da, genau wie immer. Von Norden her wehte ein schneidend kalter Wind und über der Wiese lag wie eine dünne Decke der Nebel. Aber die tiefrote Blüte strahlte Wärme aus. Wärme, Licht und Leben. Er hatte Friedhöfe nie gemocht und verstand nicht, warum man die Toten dort besuchte. Mirjam hatte ihre letzten Stunden hier verbracht, hinter einem dieser Fenster, auf den Tag genau vor neunzehn Jahren. Auch das war ein Zeichen für ihn. Es war ein guter Tag zum Abschiednehmen. Der Wind blies jetzt noch unbarmherziger. Ein Blatt löste sich von der Birke und trieb lautlos durch die beißend kalte Luft. Er fing es mit den Händen auf, wischte den gefrorenen Tau von der Oberfläche und sah noch einmal auf die Orchidee. Die Musik hinter dem Fenster verstummte und das tiefe Rot der Blüte erinnerte ihn plötzlich an frisches Blut. Fröstelnd zog er die Schultern hoch. »Es tut mir so leid«, flüsterte er. Dann drehte er sich um und verließ den Garten. Es wurde Zeit. Seine Maschine ging in drei Stunden und am Tag darauf würde er auf der Insel sein. Vor den anderen natürlich. Wenn sie in der Luft waren, würde er schon am Ziel sein, um sie zu erwarten. Er rief sich noch einmal ihre Gesichter in Erinnerung und die Namen, die sie sich für ihre Zeit auf der Insel ausgesucht hatten. Wie passend sie waren, vor allem der Name von Raphael.

ICH GLAUBE an die Bedeutung von Namen. Das ist schon damals so gewesen. Es gibt ein Zitat von John Steinbeck, das ich mir einmal aus einer Schullektüre herausgeschrieben habe und an das ich im Flugzeug plötzlich wieder denken musste. »Ich bin mir nie ganz klar darüber geworden«, so heißt es in Steinbecks Jenseits von Eden, »ob der Name sich nach dem Kind formt oder sich das Kind verändert, um zum Namen zu werden. Eines ist sicher: Wenn ein Mensch einen Spitznamen hat, so ist das ein Beweis dafür, dass ihm der gegebene Taufname unrichtig war.« Dabei war es in meinem Fall genau umgekehrt. Joy war der Name, den Erika und Bernhard für mich gewählt hatten, aber zu einer Joy war ich nicht geworden. Mein Geburtsname war Vera und zu diesem Namen würde ich nun zurückkehren. Als sich die Maschine auf der gestreuten Startfläche in Bewegung setzte, schneller und immer schneller wurde, nahm ich Abschied. Abschied von Deutschland, von der Kälte und dem Regen, von Erika und Bernhard und von Joy Reichert, meinem deutschen Namen. Es ist schwer, das Gemisch aus Gefühlen zu beschreiben, das in diesen Minuten in mir tobte, lauter und rasender als der Lärm um mich herum. Die Motoren heulten auf, mein Körper wurde in den Sitz gedrückt, alles vibrierte. Ich krallte meine Hände in die Lehnen und für einen kurzen Moment dachte ich, dass meine Entscheidung, auf die Insel zu fliegen, der helle Wahnsinn war. Dann, ganz plötzlich, wurde es ruhig. Wir hatten abgehoben. »Ihr erster Flug?« Der Sitz neben mir war frei, aber daneben, am Gang, saß ein älterer Herr. Freundlich lächelte er mich an. Der brasilianische Akzent in seiner Stimme ließ mein Herz noch schneller schlagen. Ich nickte und dachte, dass man nicht sprechen muss, um zu lügen. Dann sah ich aus dem Fenster. Frankfurt verschwand hinter den Wolken. Quint Tempelhoff würde jetzt schon auf der Insel sein. Er war sicher von Berlin aus geflogen, während wir, seine Besetzung, den Flug nach Rio von Frankfurt aus angetreten hatten. Wir waren zwölf, aber die anderen kannte ich nicht und der ältere Herr in meiner Reihe gehörte bestimmt nicht dazu. Sechs Jungen, sechs Mädchen sollten wir sein und alle saßen wir im selben Flieger. Das gehörte zu den spärlichen Informationen über unsere Besetzung, die ich von Quint Tempelhoff erhalten hatte, als er mir Anfang Oktober in seinem Studio mitteilte, dass ich an seinem neuen Filmprojekt teilnehmen würde. Mädchen und Jungen, erst jetzt merkte ich, wie unpassend das klang. Aber wären die Bezeichnungen Frauen und Männer passender? Was war ich – mit siebzehn? Wenn es stimmt, dass die deutsche Sprache aus ungefähr einer halben Million Wörtern besteht, dann frage ich mich, warum ein so wesentlicher Begriff wie der zwischen Mädchen und Frau nicht darin enthalten ist. Im Brasilianischen ist es genauso. Menina heißt Mädchen, Mulher heißt Frau. Aber in der Umgangssprache, wie ich mittlerweile weiß, gibt es zahllose Begriffe für das weibliche Geschlecht. Gathina, das Kätzchen, Gata, die Katze, Flor, die Blume, Brotinho, die Knospe … Über meinem Sitz gingen die Anschnallzeichen aus. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Sie waren rissig und trocken von der Kälte. Wie so oft war der Winter über Nacht gekommen, um sich grob und ungebeten für die nächsten Monate in Deutschland breitzumachen. Aber wir flogen in den Sommer und das deutsche Grau würde durch ein Meer aus Farben ersetzt werden. Ich hielt Ausschau nach der Stewardess, die vorne in der ersten Klasse beschäftigt war. Es würde dauern, bis ich etwas zu trinken bekam. Stattdessen tauchte ein lilafarbener Wuschelkopf vor meiner Sitzreihe auf. »Hey, bist du dabei?« Ich zuckte zusammen. Der lila Wuschelkopf gehörte zu einem molligen – ich entschied mich für Mädchen. Auf jeden Fall sah sie jünger aus als ich. Sie trug ein langes, wallendes Kleid, das aus unzähligen blauen, lilafarbenen und grünen Stoffmustern zusammengestückelt war. Manche von ihnen waren mit glitzrigen Pailletten und kleinen Spiegelscherben bestickt. Die Lippen des Mädchens waren pechschwarz geschminkt und verzogen sich zu einem breiten Lachen, während mich seine goldbraunen Augen neugierig musterten. Ehe ich etwas erwidern konnte, zwängte sich das Mädchen mit einem gemurmelten »’tschuldigung« an dem älteren Herrn vorbei, um sich zwischen uns auf dem freien Sitz niederzulassen. Sie roch süß, nach Moschus oder Patschuli, irgendetwas Indischem jedenfalls, und ich hielt unwillkürlich die Luft an. »Du fliegst auf die Insel, stimmt’s?« Das schwarze Lippenstiftlachen wurde noch breiter, dann streckte mir das Mädchen die Hand entgegen – eine Hand, an deren Gelenk drei Reihen bunter Glasperlen klimperten – und stellte sich, ohne meine Antwort abzuwarten, als »Elfe« vor. »Das ist mein Inselname, ich schätze mal, der echte interessiert nicht, oder? Also, ich wette jedenfalls, du bist dabei. Wie heißt du?« Für einen Moment überlegte ich, ob es mir passte, mich auf diese mollige Wallewalle-Elfe einzulassen. Die Vorstellung, dass ich die nächsten zwölf Stunden ihren süßen Moschusduft einatmen musste, machte mich noch nervöser, als ich ohnehin schon war. Aber etwas an ihr mochte ich seltsamerweise sofort und vielleicht würde sie mich ablenken – von mir selbst. »Vera«, sagte ich. »Vera?« Elfe runzelte die Stirn. »In echt oder auf der Insel?« Ich zögerte. »Auf der Insel.« »Hm.« Elfe streifte ihre Schuhe ab und versuchte, sich in einer Schneidersitzposition auf den schmalen Sitz zu quetschen, wobei sie dem älteren Herrn das Knie in die Seite rammte. »’tschuldigung ...« Sie griff in die Tasche ihres Kleides, kramte ein zusammengefaltetes Stück Zeitungspapier hervor, klappte es auf und hielt mir einen Artikel mit einem Foto von Quint Tempelhoff unter die Nase. »Lies mal, was da über unser Projekt steht«, sagte sie, aber ehe ich dazu kam, tippte sie auf das Foto unseres Regisseurs. »Warst du auch bei Tempelhoff im Studio zu Probeaufnahmen? Wie fandest du ihn?« Elfe kräuselte ihre winzige Nase. »Seltsame Augen, oder? Hat er dich auch so gemustert? Wo hat er dich entdeckt? … ’tschuldigung!« Elfe hatte dem älteren Herrn erneut ihr Knie in die Seite gerammt, machte aber keinerlei Anstalten, ihre Schneidersitzposition aufzugeben. Ich musste lächeln. Ich verstand nicht viel vom Film, schon gar nicht von Projekten dieser Art, aber...


Isabel Abedi, 1967 geboren, arbeitete 13 Jahre lang als Werbetexterin. Abends, am eigenen Schreibtisch, schrieb sie Kinder- und Bilderbuchgeschichten und träumte davon, eines Tages davon leben zu können. Dieser Traum hat sich längst erfüllt: Isabel Abedi hat inzwischen zahlreiche sehr erfolgreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, von denen manche bereits ausgezeichnet und in andere Sprachen übersetzt wurden. „Die längste Nacht“ ist Isabel Abedis fünfter Jugendroman.www.isabel-abedi.deFoto: © Hergen Schimpf


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